Wer Fliege trägt, fällt auf. Jürgen Stange weiß das - und hat Spaß daran. "Schleifenträger sind Individualisten. Man tritt damit auf", sagt der 70-Jährige und verweist auf prominente Träger wie TV-Moderator Alfred Biolek. Etwa 120 Exemplare hat Stange in seinem Kleiderschrank. Eine Krawatte kommt ihm nur zu Beerdigungen an den Hals. In den 1960ern - als Fan von Rollkragenpullis - hätte er sich das nicht träumen lassen. Inzwischen fertigt er seit mehr als 40 Jahren Seidenschleifen - handgenäht, die Seide oft gewebt nach eigenen Mustern aus dem italienischen Como. So, wie es bereits sein Vater seit der Firmengründung 1834 in Berlin getan hat.
Stange ist einer der letzten seiner Zunft. Einst waren allein in Berlin sechs Hersteller von Fliegen und Krawatten ansässig. "Heute gibt es in ganz Deutschland noch vier Hersteller, die teilweise selbst fertigen und zwei, die noch komplett selbst schneidern", berichtet er.
Vor genau 20 Jahren ist er mit seiner Manufaktur vor die Tore Berlins ins brandenburgische Teltow gezogen, weil die alten Räume in der Stadt zu klein waren. Inzwischen beschäftigt er nur noch acht Mitarbeiter, früher waren es etwa 40. Der Textilmarkt hat sich enorm verändert. Die billige Konkurrenz aus Fernost lässt wenig Platz für Handarbeit. "Etwa 90 Prozent der Krawatten kommen aus Asien", schildert Stange. Während diese für wenige Euro zu haben sind, kosten seine handgefertigten Krawatten oder Fliegen je 49,00 Euro.
"Der klassische Herrenausstatter muss sich etwas einfallen lassen", sagt Nils Busch-Petersen, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes Berlin-Brandenburg. Größere Formate wie Peek & Cloppenburg seien gut am Markt situiert, ebenso die sehr kleinen hochpreisigen Geschäfte. "Am schwierigsten ist es für die Mitte im Einzelhandel", schildert Busch-Petersen.
Eine Entwicklung, die nicht nur wirtschaftliche Folgen hat, sondern auch für den Arbeitsmarkt: "Moderne Produktionsweisen, die häufig profitabler sind und technischen Fortschritt aufgreifen, tragen wesentlich dazu bei, dass Berufe verschwinden", sagt Christiane Reuter vom Bundesinstitut für Berufsbildung (Bibb).
Unternehmer Stange wehrt sich mit modernen Mitteln: Vor vier Jahren ist der Unternehmer online gegangen. Inzwischen ist das Internet unverzichtbares Standbein der Manufaktur. "Ich hätte nie gedacht, dass das so gut laufen würde", sagt der Firmenchef. Mindestens 35 Prozent des Gesamtgeschäftes würden über das Netz abgewickelt, berichtet der Unternehmer. Persönlich zeigt er in einem Video, wie seine Schleifen gebunden werden. Eine "genagelte", also schon fertige, Fliege verpönt er: "Keiner würde eine gebundene Krawatte kaufen."
Seine Manufaktur hat Kunden bis nach Kanada. "Es gibt viele, die froh sind, uns wieder gefunden zu haben", so Stange. Denn im Handel sucht man seine Produkte inzwischen vergeblich. "Wir liegen in keinem Kaufhaus", sagt er. Nur einige wenige Herranausstatter bieten seine Hand- und Maßarbeit an. 70 Prozent seiner Produktion Fliegen aus, daneben bietet die Manufaktur Krawatten, Westen, Kummerbund und Seidentuch- oder -schal in 1200 verschiedenen Farben und Designs an. Rund 1,5 Millionen Euro Umsatz macht Stange damit jährlich nach eigenen Angaben.
"Das Internet beschleunigt die globale Standardisierung", sagt Werner Eichhorst vom Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA). "Gleichzeitig ist es so breit angelegt, dass Nischen-Arbeiten Platz finden." Diese seien zunehmend gefragt: "Es gibt so etwas wie ein Luxus-Handwerk", meint der stellvertretende Direktor für Arbeitsmarktpolitik beim IZA.
"Viele Menschen wollen sich unterscheiden. Dafür sind sie auch bereit, Geld auszugeben", sagt Bibb-Expertin Reuter. Davon können Berufe profitieren, die zu verschwinden drohen - zum Beispiel der Ofenbauer, aber auch der Hufschmied, Sattler oder Pferdewirt. "Sie sind - bedingt durch Vorlieben in der Freizeit - wieder zurück", schildert die Diplom-Ingenieurin Textiltechnik. (dpa/rs)