Tim O'Reilly kann nicht still sitzen. Immer noch scheint es in ihm zu brodeln. Eben noch war er auf der Bühne im Internationalen Congress Center Dresden hin- und hermarschiert. In der linken Hand hielt er ein Wasserglas, mit der rechten malte er nicht identifizierbare Figuren in die Luft. O'Reilly sprach über das Internet zum Mitmachen, das viel zitierte Web 2.0 - einen Begriff, den seine Ideenfabrik O'Reilly Media geschaffen hat. "Sie werden sehen", dozierte er vor dem Publikum des Dresdner Zukunftsforums, "in ein paar Jahren werden die Prinzipien des Web 2.0 absolut Mainstream sein".
Inzwischen hätten Unternehmen, die den Dotcom-Crash Anfang des neuen Jahrtausends überstanden haben, begriffen: "Sie müssen die kollektive Intelligenz der User nutzbar machen". Auf der Seite "Threadless" beispielsweise können Nutzer über verschiedene T-Shirt-Motive abstimmen. Die Siegerhemden werden tatsächlich hergestellt - ihr Absatz ist also so gut wie garantiert. Für das Portal YouTube, das jeder User als Plattform für seine Videoclips nutzen kann, gilt sogar: "Die Anwender sind diejenigen, die die ganze Arbeit machen".
"Die Weisheit der Menschen" nutzen auch Software-Entwickler, die ihr eben fertiggestelltes Produkt sofort Millionen von Anwendern zugänglich machen. Spontane User-Feedbacks ersetzen somit langwierige Testphasen. "Das Internet", so lautet eine von O'Reillys zahlreichen Schlussfolgerungen, "ist nicht nur ein Zusatz zum PC. Das Internet ist die Basis."
Nun sitzt Tim O'Reilly in einem engen Hinterzimmer der Kongresshalle. Er bewegt seinen Oberkörper mal nach vorne, mal wieder zurück, als wolle er am liebsten gleich aufstehen und wieder herumlaufen. Der gebürtige Ire trägt ein schwarzes Polohemd mit O'Reilly-Stickerei auf der Brust, darüber ein braunes Sakko. Rein äußerlich wirkt der Web-2.0-Vordenker schlicht und zurückhaltend. Die Ansprüche des Hobby-Farmers aus Kalifornien sind jedoch eher unbescheiden. Mit seinen Büchern, Magazinen und Konferenzen will Tim O'Reilly die Welt verändern. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Keine Antwort an Warren Buffett
"Indem ich Menschen darin unterstütze, das Phänomen Web 2.0 zu begreifen, kann ich etwas bewegen", sagt er. "Wir verhelfen dieser Zukunft, sich tatsächlich zu ereignen". O'Reilly will die Aufmerksamkeit der Leute gewinnen, die seine Ideen nachahmen sollen. Er begreift sich weder als reiner Software-Entwickler noch als Buchverleger oder Konferenzorganisator - vielmehr als Verbreiter innovativer Ideen. Man könnte sagen, Tim O'Reilly sieht sich selbst als Internet-Evangelist.
Zu Beginn seiner Laufbahn in den siebziger Jahren gab der Harvard-Absolvent Workshops am humanistisch orientierten "Esalen Institute" in Kalifornien, das sich insbesondere mit der Entwicklung menschlichen Potenzials auseinandersetzte. Als Computerspezialist hat er heute das Gefühl, immer noch dasselbe zu tun: "Ich helfe Leuten herauszufinden, was gut ist."
1978 gründete O'Reilly sein gleichnamiges Unternehmen, das ursprünglich als Beratungsgesellschaft für das Verfassen von Texten mit technologischem Inhalt fungierte. In seinen persönlichen Gründerjahren schrieb O'Reilly dem inzwischen legendären US-Großinvestor Warren Buffett einen Brief und erzählte ihm von seinen Geschäftsideen - wohl mit dem Ziel, ein paar gute Ratschläge zu erhalten. Buffett antwortete und bat um nähere Auskünfte über O'Reillys Tätigkeit: "Tell me more!"
Da wurde es O'Reilly mulmig zumute, wollte er doch unabhängig und selbstständig bleiben: "Ich habe niemals geantwortet", sagt er lachend. Dabei wirkt er eher stolz als bedauernd, auch wenn er ergänzt: "Nachträglich betrachtet war das einer der größten Fehler meiner Karriere". Und wenn schon. Ein Mann mit dem Sendungsbewusstsein eines Tim O'Reillys braucht keinen großen externen Geldgeber - selbst oder gerade wenn er Warren Buffet heißt.
Dabei kann der große Idealist auch ganz pragmatisch handeln, wie O'Reilly einräumt. Denn: "Wir starten nicht mit einem festen Plan ins Leben - vielmehr entdecken wir mit der Zeit die richtigen Antworten". Eine derartige Erleuchtung ereilte O'Reilly im Jahr 1992. Damals veröffentlichte er das allererste Buch - einen Web-Führer - im Internet.
Gleichzeitig fand er heraus, dass Leute sich weniger für Bücher an sich interessieren, "sie interessieren sich für Themen und Ideen". Deshalb habe er letztlich nicht das Buch beworben, sondern das Internet: "Ich sagte: Das Internet kommt! Das Internet kommt!" Es funktionierte. Viele Menschen, sagt O'Reilly, seien dadurch auf das neue Medium - und damit auch auf den Web-Führer - aufmerksam geworden. O'Reillys Modell, das Geschäft mit Trends, war geboren.
"Ich kann große Ideen identifizieren"
"Mein Unternehmen prosperiert, weil ich große Ideen identifizieren und meine Produkte und Marken entsprechend anpassen kann", erklärt O'Reilly. Eigentlich war der Internet-Pionier, bildlich gesprochen, nur auf einen bereits anfahrenden Zug aufgesprungen - früher jedoch als die meisten anderen.
Inzwischen hat das Web laut O'Reilly das Potenzial, die Welt zu verbessern, nicht zuletzt dank seiner persönlichen Unterstützung. Wie soll das funktionieren? Das Internet biete beispielsweise die Möglichkeit, die Vogelgrippe einzudämmen, erklärt O'Reilly - etwa durch frühzeitige Aufklärung über News-Dienste oder den Austausch von Erfahrungen, an dem sich Millionen von Usern beteiligen könnten. Ohnehin würde die gemeinsame Ansammlung von Daten immer wichtiger, sagt der Web-2.0-Guru - ob es sich dabei nun um Informationen zu einer Seuche, um detaillierte Straßenkarten oder nur um Videoclips handelt: "Daten sind das neue Intel Inside".
Auf Einwände pflegt O'Reilly eher knapp zu antworten, während er auf seinem Stuhl sitzt und immer wieder an einer Apfelschorle nippt. Stellt das Internet mit all den angesammelten Daten nicht auch eine Gefahr für die Privatsphäre dar? Durch die Einführung von Kreditkarten habe der Verbraucher bereits viel mehr seiner Privatheit preisgegeben, kontert O'Reilly, als dies nun bei Portalen wie YouTube geschehe.
Und bietet das Internet nicht beispielsweise auch eine Plattform für Terroristen, ihre Propaganda zu verbreiten oder sich zu vernetzen? "Absolut", sagt der Web-2.0-Vordenker - und stellt die rhetorische Frage: "Aber welche Welt will ich haben? Will ich eine Welt, in der Informationen geteilt und nicht unterdrückt werden? Eine Welt, in der es viel Potenzial für Innovationen gibt?"
O'Reillys Geschäft sind Visionen, und davon hat er etliche. "Unsere Zivilisation steckt in einem Prozess der Selbstfindung", sagt er, "Dinge werden möglich, die vorher nicht möglich waren". Das Internet trage zur Entwicklung einer globalen Gesellschaft bei, "egal ob diese Entwicklung nun in 100 oder in 500 Jahren abgeschlossen ist."
"Computer werden halb menschlich"
In seiner Freizeit liest der pragmatische Visionär am liebsten historische Romane oder Science-Fiction. Zu seinen Lieblingsbüchern gehört die Mars-Trilogie von Kim Stanley Robinson. An Science-Fiction-Romanen gefallen ihm die Heldenfiguren, die Probleme von globaler Bedeutung lösen: "Man bekommt eine Vorstellung, wie man etwas verändern kann".
So verwundert es nicht, dass manche von O'Reillys Gedanken wie abenteuerliche Zukunftsgeschichten anmuten. Er ist fasziniert von der Idee der Verschmelzung von Mensch und Computer. Allerdings nicht im Sinne eines Cyborgs, einer Maschine mit menschlichen Zügen, sondern umgekehrt: "Wir haben die Computer erweitert, indem wir uns selbst zu Elementen des Computers gemacht haben".
Jahrelang habe man versucht, "Intelligenz in Systeme zu packen, die unabhängig von uns existieren können". Heute gehe es aber vielmehr darum, Applikationen durch eine gemeinsame menschliche Anstrengung zu erweitern: "Software entsteht aus einem dynamischen Prozess." Mit Hilfe vieler User werde Open-Source-Software ständig weiterentwickelt. Diesen Gedanken hatte O'Reilly bereits zuvor in seiner Rede aufgegriffen: "Unsere Computer werden halb menschlich".
Das Publikum lauschte gebannt. Vermutlich ist es die Kombination aus Schlichtheit und Fantasterei, die O'Reilly zu einem fesselnden Redner macht. "Die Entwicklung des Internets ist noch nicht abgeschlossen", prophezeite der Web-Guru. Nach einer Stunde beendete O'Reilly seine engagierte Rede. Er nahm seine altmodische, braune Ledertasche in die Hand und verließ die Bühne - um anschließend im halbdunklen Hinterzimmer weiter zu philosophieren. Wer die Welt verändern will, darf nicht rasten.