Der Kofferraum geht nicht auf. Kein Griff, kein Knopf, keine Betriebsanleitung. Martin Petry, CIO von Hilti, steht ähnlich hilflos vor dem Mietwagen wie sein Abholer am Flughafen San Francisco. Beide glauben nicht wirklich, dass Chevrolet bei diesem Neuwagen den Knopf vergessen hat, finden ihn jedoch nicht. Der Abholer müht sich erfolglos durch das Telefonmenü der Firma Avis, bekannt durch den Slogan "We try harder". Der Hilti-CIO krabbelt derweil über die Rückbank, legt die Sitzlehnen um und verstaut seinen Koffer. Petry ist so etwas wie ein "transformativer CIO" - also ein Prozessveränderer.
Die drei Typen von CIOs
Der Begriff stammt vom CIO Executive Council, einem Netzwerk von 700 mehrheitlich amerikanischen IT-Chefs, die empirisch drei Klassen von CIOs ermittelt haben: die funktionalen, die transformativen und die strategischen - wobei niemand ausschließlich einer der drei Klassen angehört.
Funktionale CIOs leiten die IT-Abteilung und garantieren einen verlässlichen Betrieb. Laut einer aktuellen Untersuchung des Councils unter den eigenen Mitgliedern verbrauchen diese durchschnittlich 34 Prozent ihrer Zeit für diese Aufgabe. Im Jahr 2007 haben die Mitglieder noch 37 Prozent ihrer Zeit dafür investiert.
Transformative CIOs verändern durch Alignment, also durch eine enge Anlehnung an die Geschäftspartner, ihre Unternehmen. Sie optimieren die Arbeitsprozesse, beschränken sich also nicht auf ihre Rolle als "Facilitator" wie die funktionalen CIOs. Laut Executive Council investieren die Mitglieder 45 Prozent ihrer Zeit für diese Aufgabe. 2007 haben sie noch 51 Prozent ihrer Zeit dafür aufgebraucht. Also auch dieser Teil des Jobs verliert an Bedeutung.
Strategische CIOs schaffen durch Innovationen Vorteile für ihre Unternehmen. Sie bestimmen mit, wenn es um die Geschäftsstrategie geht, und sie verändern Prozesse auch über Unternehmensgrenzen hinaus. 21 Prozent ihrer Zeit investieren Council-Mitglieder für diese Art von Arbeit. 2007 waren es nur zwölf Prozent.
Was Petry von dieser Dreiteilung des CIO-Arbeitsalltags hält, fragt sein Abholer auf der Fahrt in die Innenstadt. "Hmm, muss ich noch mal drüber nachdenken", sagt der Hilti-CIO. Im Augenblick irritiert ihn, warum ihm dieser amerikanische Kleinwagen zugemutet wird. Fehlen da neben dem Kofferraumgriff auch Airbags in den Türen? Rechts und links rauschen die SUVs und Pickups bedrohlich nah vorbei. "Mir ist der Unterschied zwischen transformativ und strategisch noch nicht klar", konzentriert sich Petry.
Vielleicht lässt es sich über die "Stakeholder Relationship" deutlich machen, die die drei Sorten von CIOs zu ihren Kollegen pflegen: Funktionale CIOs verstehen sich selbst als Service-Provider. Sie liefern, was die Kollegen gerne hätten - vorausgesetzt, es passt halbwegs ins Budget. Transformative CIOs sehen sich als Partner anderer Hauptabteilungsleiter. Sie kennen die Prozesse in Produktion oder Marketing, wissen um das Verbesserungspotenzial und machen Vorschläge dazu. Strategische CIOs wiederum kennen zusätzlich auch noch den Markt, in dem sich ihr Unternehmen bewegt. Vorstandskollegen sehen in ihnen "Peers", also gleichwertige Kollegen, die ihren Fokus ebenso auf das Marktumfeld richten wie sie selbst.
Zwei Prototypen solcher Peers landen kurz nach Petry in San Francisco: Peter Schumann ist IT-Vorstand bei DB Schenker, und Doris Hall ist CIO für die Region Americas bei der gleichen Firma. Schumann und Hall kennen sich bereits seit sechs Jahren, also schon als Hall noch CIO für die US-Konkurrenz war, die DB Schenker schließlich gekauft hat. Die IT-Chefs der beiden Logistikunternehmen haben sich nie auf ihre Rolle als funktionale CIOs zurückgezogen. Dafür differenziert sich ihr Geschäft zu sehr über die IT. "Schiffe haben wir gar nicht. Flugzeuge fliegen die Carrier oder werden gechartert, und Lkw gehören uns nur zum Teil", erklärt Schumann. "In unserer Branche entscheiden die Menschen und die IT-Systeme, was an Marge übrig bleibt."
Keine Zeit fürs Operative
Logistik-CIOs halten sich folglich nicht mit kleinteiligen, technischen Problemen auf. "Was, der Kofferraum geht nicht auf?", fragt Schumann, "dann nehmen wir halt ein Taxi." Der Schenker-Vorstand ist sonst durchaus für technische Herausforderungen zu haben. Er führt alle Arten von Gadgets in seinem Gepäck mit. Aber sich mit einem derart trivialen Kofferraumproblem zu beschäftigen, das ist ihm dann doch zu blöd. Hall und Schumann ziehen zum Taxistand - sie wollten eh noch (strategische) Dinge miteinander besprechen.
Im Hotel taucht dann aber auch bei ihnen die gleiche Frage auf wie bei Petry. "Soll strategisch heißen, dass Sie sich nur noch auf dem Powerpoint-Level bewegen?", fragt Hall. Heißt es natürlich nicht. Folien und Ideen zu entwickeln gehört dazu, ist aber nur ein Teil der Arbeit. Mindestens ebenso viel Zeit investieren strategische CIOs für die Pflege der Beziehungen zu Kunden und Lieferanten außerhalb des Unternehmens. Hall und Schumann fällt dazu ein gutes Beispiel ein: Schenker hat soeben einen großen Online-Versandhändler als Kunden gewonnen. "In vier Wochen neue Label-Sites einrichten und die Scanner neu programmieren", stöhnt Hall. Auch Schumann findet die Aufgabe der Kundenpflege zwar spannend, aber sehr zeitaufwendig. "Ich bin neulich zu einem potenziellen Großkunden gefahren, um unsere IT-Lösung im Detail zu erläutern“, erklärt er. "Wenn ich zehn solche Deals persönlich betreuen müsste, wäre ich komplett ausgebucht."
Was im Schaubild des CIO Executive Councils ganz oben auf der To-do-Liste rangiert, um ein "Future State CIO" zu werden, reizt also nicht alle IT-Verantwortlichen - jedenfalls nicht, wenn es überhandnimmt. Schumann muss im Schenker-Vorstand ebenso über Investitionen in Flughafen-Terminals nachdenken wie über IT. Alles ganz spannend. Auch schön, als Peer ernst genommen zu werden. Aber das Funktionale oder das Transformative der IT ganz zurückschrauben? Danke, nein. Dazu haben weder Schumann noch Hall noch Petry Lust.
30 : 50 : 20
Auf 30 : 50 : 20 einigen sich die drei CIOs schließlich als die ideale Mischung für ein effektives und freudvolles Dasein an der Spitze der IT. 30 Prozent der Zeit für funktionale Aufgaben, 50 Prozent für das Transformative und 20 Prozent für das Strategische. In der Lobby des Nikko-Hotels in San Francisco herrscht freudige Einigkeit über die goldene Mischung, nachdem Petry und Schumann zuvor kontrovers auf die Frage nach dem rechten Maß an Zentralität in der IT geantwortet haben. Petry: "Ich wundere mich, dass Sie 40 Prozent zentralisiertes IT-Budget für ausreichend halten." Er selbst bevorzugt als Maschinenbauer 100 Prozent, was wiederum Schumann als Logistiker für unsinnig hält. Richtige IT-Strategie ist eben auch branchenabhängig.
30 : 50 : 20 - ein Verhältnis, das in Deutschland die wenigsten IT-Chefs erreicht haben. Selbst bei den Mitgliedern des CIO Executive Councils klafft immer noch eine Lücke zwischen dem, was sie tun möchten, und dem, was sie eigentlich tun. 80 Prozent von ihnen würden gerne weiter in Richtung "Future State CIO" marschieren, sprich: weg vom Funktionalen. Und sie sind überzeugt, dass ihre CEOs auch genau dies von ihnen erwarten. Nur zwölf Prozent der CIOs glauben, dass ihre CEOs sie in einer rein funktionalen Rolle sehen. 44 Prozent der CIOs schätzen, dass ihre CEOs von ihnen gerne strategischen Input bekommen würden.
Wo also liegt das Problem? Wenn die Vorstandsvorsitzenden genau das von den CIOs erwarten, was diese gern tun würden, warum tun sie es dann nicht? "Ich schätze, weil sie immer eingestellt werden, um auf-zuräumen", sagt Doris Hall, und Martin Petry nickt. Ein neuer CIO wird dann geholt, wenn es darum geht, Chaos zu beseitigen. Martha Heller, Präsidentin der Personalberatung Heller Search, nennt dieses Phänomen das CIO-Paradoxon: "Sie werden eingestellt, um strategisch zu wirken, und sie werden nichts anderes tun, als aufzuräumen." Heller muss es wissen: Sie verfolgt das Geschehen seit 20 Jahren, zunächst als Redakteurin des amerikanischen CIO-Magazins, später als Personalberaterin. Und seit 20 Jahren erzählt ihr jeder CIO: "Als ich hier angefangen habe, musste ich erst mal ein riesiges Chaos aufräumen."
Vorsicht: Erwartungslücke!
Als Konsequenz daraus entsteht das, was vom CIO Executive Council "Expectation Gap" genannt wird, also eine Erwartungslücke, in der der Vorstand gerne strategische Ratschläge bekäme, gleichzeitig seinen CIO aber mit so vielen operativen Aufgaben zumüllt, dass dieser kaum über das Tagesgeschäft hinaus denken kann. "Ja, es ist schon ungerecht, wenn man die Infrastruktur aufrechterhalten muss und gleichzeitig strategisch denken soll", sagt Jun Gao, CIO und Process Officer für Asia Pacific in der Schaeffler Group: "Aber da muss man eben durch."
Gao ist der vierte CIO, der im Hotel Nikko eintrifft. Er ist der Prototyp eines Technikers, der es geschafft hat, sich aus den Tiefen der Infrastruktur und Anwendungen zu einem geschätzten Partner in seinem Unternehmen hochzuarbeiten. Halbfrisch aus Shanghai eingeflogen, lächelt er nur noch müde auf die Frage, wie man aus der Expectation Gap herauskommt: "Glaubwürdig sein", sagt der Chinese.
Sagen übrigens alle. Bei der Frage, wie die Erwartungslücke am besten zu überspringen sei, sind die beliebtesten Antworten in der Befragung des Executive Councils folgende:
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als IT-Organisation Glaubwürdigkeit erlangen durch Alignment, Governance und Transparenz;
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mehr mit anderen Stakeholdern aus dem Unternehmen kommunizieren;
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Mehrwert für das Unternehmen liefern.
Der berühmte Mehrwert schafft es also lediglich auf Platz drei der To-do-Liste, um die Erwartungslücke zu schließen. Viel wichtiger ist Glaubwürdigkeit. Die erreicht ein neuer CIO übrigens nicht, indem er die
Arbeit seines Vorgängers einfach schlechtredet. Hellers Beobachtung, dass CIOs sich seit 20 Jahren darüber beklagen, welch ein Chaos ihre Vorgänger hinterlassen haben, führt lediglich zu einem kollektiven Glaubwürdigkeitsverlust des Berufsstandes. So schlecht wie CIOs reden sonst nur Zahnärzte und Klempner über die Arbeit ihre Vorgänger.
Glaubwürdigkeit lässt sich auch nicht erzielen, wenn sich der CIO persönlich um die Aufräumarbeiten im Funktionalen kümmert: "Dafür brauchen Sie zwei gute Leute: einen für die Infrastruktur und einen für die Applikationen", sagt Gao. Ansonsten besser raushalten. Wer sich in persona nur mit Servern, Netzen und Anwendungen herumschlägt, gerät permanent unter Rechtfertigungsdruck. Gao hat diese Ochsentour zwar mitgemacht und betont auch, dass CIOs IT schon richtig verstanden haben müssen. Den richtigen Schub auf dem Weg zum Zukunfts-CIO habe ihm jedoch etwas anderes gebracht: "Die größte Chance kam, als ich in das Business Strategic Committee geholt wurde."
Die Frage nach der Glaubwürdigkeit
Auch dies deckt sich mit den Studien-Ergebnissen des Executive Councils. Auf die Frage "Welche Aktivität hat Sie in Ihrer Rolle am meisten nach vorne gebracht?" lauten die drei meistgenannten Antworten:
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Die wichtigsten Stakeholder treffen;
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Quick Wins für die Business-Partner schaffen;
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Operative Probleme im System lösen.
Während also auf die Frage, wie die Expectation Gap zu überwinden sei, eher noch mit Glaubwürdigkeit durch sauberes Handwerk geantwortet wird, heißt die richtige Antwort auf das eigene Fortkommen: mehr mit den wichtigen Stakeholdern kommunizieren. Das "CIO-Paradoxon" scheint sich eben nicht vollständig auflösen zu lassen.
Weltweit nicht. Petry aus Liechtenstein, Schumann aus Deutschland, Hall aus den USA und Gao aus China kennen das Problem, zwischen Funktionalem und Strategischem aufgerieben zu werden. Alle halten die 30 : 50 : 20-Regel für einigermaßen tauglich, um glaubwürdig im Funktionalen (30 Prozent der Arbeitszeit), transformativ bei Prozessen (50 Prozent der Arbeitszeit) und innovativ im Strategischen (20 Prozent der Arbeitszeit) zu sein.
Mitarbeiter mit auf die Reise nehmen
Lediglich in der Frage, wie die Mitarbeiter auf dem Weg zum CIO der Zukunft einzubeziehen sein, herrscht Uneinigkeit. Alle nationalen Nuancen in einem Satz: Wenn Deutsche und Liechtensteiner den Plan für die Zukunft einmal akzeptiert haben, halten sie sich auch daran; Amerikaner akzeptieren sehr viel schneller einen solchen Plan, schmeißen ihn aber auch schneller wieder um; Chinesen halten sich an den Plan, dokumentieren ihn aber lieber nicht.
Die Multikulti-Truppe am Rande einer Herstellertagung in San Francisco einigt sich schließlich auf die Faustformel: In jedem Land der Erde hält sich der CIO besser nicht zu lange mit funktionalen Themen auf, sondern delegiert die Arbeiten an mindestens zwei fähige Mitarbeiter.
Übrigens: Der Knopf für den Kofferraum beim Chevi Aveo versteckt sich rechts neben der Nummernschildlampe. Das ist ein gutes Beispiel für Wissen, wie es funktionale CIOs als Beweis ihrer Kompetenz vor sich hertragen. Kann am Flughafen in San Francisco wirklich dienlich sein. Allerdings nur dort.