Beim Roundtable des CIO-Magazins verraten zwei CIOs und zwei Vertreter der Anbieterseite, wie Big Data den Geschäftsalltag verändert - oder verändern könnte:
Stephan Fingerling, CIO von MAN, und Michael Müller-Wünsch, CIO von Lekkerland, berichten aus ihren Unternehmen. Sie loben die Technik, bemäkeln aber auch fehlende Fachkräfte. Das gleiche Problem haben die Anbietervertreter Hagen Rickmann, Geschäftsführer von T-Systems, und Michael Ganser, Geschäftsführer von Cisco in Zentral- und Osteuropa.
CIO: Wo entsteht Big Data in den Unternehmen?
Stephan Fingerling: Bei MAN fallen großen Datenmengen einerseits in den Fahrzeugen an, andererseits in den Fertigungsprozessen. Und neuerdings beschäftigen wir uns auch mit operativen Steuerungsdaten, die wir mit Analyseverfahren auswerten.
Michael Müller-Wünsch: Als Handelsunternehmen hatten wir schon immer mit großen Datenvolumina zu tun. Allein in den 15.000 deutschen Tankstellen entstehen unzählige Kundenkontakte. Wichtig sind für uns aber auch die rund 100.000 europaweiten Kunden und ihre Verkaufsstellen. In Absprache mit ihnen erhalten wir viele Daten aus der Telematik. Gerade im Handel mit seinen relativ niedrigen Margen können wir hier als IT neue Perspektiven zur Verbesserung der Geschäftsprozesse aufzeigen.
Und wo sehen die Anbieter die größten Datenquellen?
Hagen Rickmann: Wir haben es zunächst mit den klassisch strukturierten Daten aus Geschäftsanwendungen wie ERP zu tun, aber zunehmend auch mit unstrukturierten aus Office- und Collaboration-Tools sowie in jüngster Zeit vermehrt aus sozialen Netzwerken.
Michael Ganser: Was auch noch enorm zum Datenwachstum beiträgt, ist die Vernetzung von Geräten. Das reicht inzwischen weit über die klassischen IT-Bereiche hinaus. Nehmen Sie Konsumentenprodukte wie Fitness-Tracker, mit denen Benutzer ihre sportlichen Aktivitäten aufzeichnen und in sozialen Netzwerken publizieren. So wird aus einem Sportartikelhersteller schnell ein IT-Unternehmen. Diese Entwicklung ist rasant - schon heute gibt es mehr Devices als Menschen, und für 2020 prognostizieren wir 50 Milliarden internetfähige Geräte.
Wie gehen Sie mit diesen Unmengen an Daten um, wie nutzen Sie diese für Ihre Prozesse?
Michael Müller-Wünsch: Das Phänomen Datenwachstum an sich ist ja nicht neu, das ist eine Art Naturgesetz der IT. Neu ist die Vielfalt der Datenströme und -quellen. Früher beschränkte es sich in der IT im Wesentlichen auf den Bereich Datenbanken. Da nahmen die Daten in einer gewissen Regelmäßigkeit zu, und parallel dazu verzeichneten wir mehr Abfragen, aber es blieb immer bei strukturierten Daten. Heute hat sich der Blickwinkel verschoben, man erhält Informationen aus einer Vielzahl von Quellen und versucht, daraus Wissen zu generieren, von dem auch die Kunden profitieren.
Stephan Fingerling: Das wirklich Interessante dabei sind die Veränderungen der Prozesse. Statt klassisch analytisch heranzugehen, übernehmen wir das Prinzip der Suchmaschinen. Wir begnügen uns nicht mehr damit, bestimmte Daten zu verknüpfen, sondern wir suchen auf algorithmischem Weg nach Zusammenhängen und neuen Erkenntnissen. Dank der gestiegenen Rechenleistung ist das technisch kein Problem mehr.
Aber haben Sie auch die richtigen Menschen dafür?
Stephan Fingerling: Wir haben dafür ein Labor eingerichtet mit einem gemischten Team aus universitären Mitarbeitern und eigenen Leuten aus der IT und den Fachbereichen. Hier geht es um einen einschneidenden Kulturwandel, und den müssen wir erst einmal hinkriegen, um am Ende den großen Nutzen aus Big Data ziehen zu können.
In den empirischen Wissenschaften gilt, dass man eine Ausgangsthese haben sollte, um nicht in der Datenflut unterzugehen. Gilt das jetzt für Big Data nicht mehr?
Stephan Fingerling: Selbstverständlich suchen unsere Labormitarbeiter nicht einfach drauflos, sondern sie bekommen einen klaren Rahmen in Form definierter Use-Cases. Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus der Schadensdiagnose in den Werkstätten. Die Mitarbeiter ergänzen hier die automatische Fehlerbilderfassung mit unstrukturierten Daten, die sie in ein Freitextfeld eingeben. Wir als IT versuchen nun per Algorithmus, aus bestimmten Wortkombinationen eine treffende Diagnose zu erstellen. Wenn das gelingt, dann sind wir deutlich schneller in der Reparatur. Weder Data Scientists noch Statistiker reichen dafür aus, hier brauchen wir eine Rückbindung in die geschäftliche Situation des jeweiligen Fachbereichs. Dafür ist eine neue Kultur vonnöten, das ist anders als die klassische ingenieursmäßige Produktentwicklung.
Michael Müller-Wünsch: Wir können natürlich nicht einfach eine Menge Leute in einen Raum setzen und sie drauflossuchen lassen. Tatsächlich suggerieren ja einige Hersteller, dass man nur noch die neuesten Tools anschaffen muss, um damit automatisch alle geschäftlichen Herausforderungen zu meistern. Die Tools sind heute sicherlich sehr gut, aber wir benötigen auch qualifizierte Mitarbeiter. Uns schwebt da ein Analytics-Center vor, in dem man das alles strukturiert angeht.
Hagen Rickmann: Ich stimme Ihnen zu, für Big Data braucht es ein gutes Verständnis für Geschäft und Prozesse. Wer beispielsweise unstrukturierte Abfragen mit unterschiedlichen Parametern durchführen möchte, benötigt erst einmal ein fundiertes Fachwissen. Und da wird es schnell dünn, dafür gibt es heute kaum geeignete Experten. Für solche Aufgaben brauchen wir dringend Data Scientists - und die sind absolute Mangelware.
Stephan Fingerling: Big Data ist zunächst ein reines Technologiethema, das die Hersteller getrieben haben, nicht die IT-Abteilungen. Wenn ich die Anbieter dann aber frage, wie viele Data Scientists sie vorweisen können, dann kommt da nicht viel. Das ist ein Dilemma. Ich wünsche mir von den Anbietern, dass sie den reinen Technologiefokus reduzieren.
Michael Müller-Wünsch: Das kann ich bestätigen. Unternehmen tun sich derzeit schwer, Kompetenzen aufzubauen. Hier erwarte ich von einem Lieferanten als Partner, dass er uns unterstützt. Denn es geht bei Big Data schließlich auch darum, dass wir schneller sind als andere.
Stephan Fingerling: Der alte Fehler, die Kunden rein über Technologie anzugehen, lässt sich auch bei Big Data beobachten. Immer geht es gleich darum, wie viele Daten wir speichern können und was wir alles auswerten können. Inzwischen kenne ich sogar Vorstände, die über Hadoop diskutieren. Das bringt uns nicht weiter, denn im Vordergrund stehen die Geschäftsprozesse, und die zentrale Aufgabe der IT ist es, die Fachbereiche zu beraten, ihre Prozesse zu verändern.
Können Sie Beispiele für Quick-Wins mit Big Data nennen? Wie haben Sie die Teams aufgesetzt, wie haben Sie die Fachbereiche überzeugt, und welche Ergebnisse kamen raus?
Stephan Fingerling: Wir arbeiten derzeit an einem Projekt im Bereich Wartungs- und Fehlervorhersage, mit dem wir unseren wichtigen Geschäftsbereich Gewährleistungskosten deutlich optimieren wollen. Je besser es uns gelingt, anhand defekter Einzelteile mit Algorithmen Gewährleistungsfälle zu prognostizieren, desto besser können wir gegensteuern. Da steckt ein enormes Einsparpotenzial drin. Spannend sind auch Analysen in der Telematik. Hier unterstützen wir Speditionen mit der Analyse der Fahreffizienz ihrer Fahrzeuge und helfen so den Fahrern beim Spritsparen.
Michael Müller-Wünsch: Richtig großes Big Data bekommen Sie übrigens dann, wenn Sie diese ganzen Daten noch anreichern um alle zugänglichen Informationen über die Verkehrssituation drumherum und das dann zusammen analysieren.
Hagen Rickmann: Auch in den Kerngeschäften gibt es gute Beispiele, die den Mehrwert von Big Data schön belegen. Wir arbeiten beispielsweise mit einem großen Logistiker, der mithilfe von Datenanalyse seinen CO2-Ausstoß ständig im Blick hat. Im Ergebnis erzielte das Unternehmen 15 Prozent mehr Effizienz durch eine bessere Routenplanung, bessere Beladung und bessere Information des Fahrers. Mit klassischen BI-Tools wäre ein solches Projekt sehr kostspielig und weniger flexibel gewesen.
Michael Ganser: Ein schönes Beispiel aus unserem Umfeld ist das Smart-City-Projekt in Barcelona. Mit Analytics-Anwendungen konnte dort unter anderem das Traffic- und Waste-Management verbessert werden, was in der Folge zu einer Wertschöpfung von drei Milliarden Dollar und zu 47.000 neuen Arbeitsplätzen führte.
Wie sieht es denn mit dem Versprechen von Big Data aus, dass sich damit bessere Entscheidungen treffen lassen? Kann man damit künftig alle automatisieren, und wird der Mensch damit überflüssig?
Hagen Rickmann: Prinzipiell sollten wir alles nutzen, was uns hilft, bessere Entscheidungen in Echtzeit zu bekommen. Wenn wir uns dieser Entwicklung verweigern, tun es nämlich andere, um kommerzielle Vorteile zu generieren. Allerdings sollten wir es nie so weit kommen lassen, die Entscheidungen den Maschinen zu überlassen. Dieser Aspekt wird in der IT zu wenig diskutiert, und das muss sich ändern.
Michael Müller-Wünsch: Hier geht es ja um Ethik, und die wird mit dem aufkommenden Thema Industrie 4.0 ganz wichtig werden. Dank der vielen zur Verfügung stehenden Daten können wir heute sehr vieles analysieren. Aber sollen wir es wirklich diesen Systemen überlassen, die Knöpfe zu drücken? Da ich aus der theoretischen Informatik weiß, dass es keine fehlerfreien Algorithmen gibt, möchte ich solche Risiken niemals eingehen.
Michael Ganser: Mir gefallen da Ansätze wie die Behavioural Economy besser. Daten und Analyse können uns helfen, unser Verhalten zu verbessern. Beispielsweise mit so einfachen Dingen wie einem Sensor an der Dusche, der mir anzeigt, wie viel Wasser ich verbrauche. Das motiviert die Leute zu positivem Verhalten wie einem geringeren Wasserverbrauch.
Stephan Fingerling: Ganz klare Grenzen sehe ich bei der Vernetzung von Produktionsanlagen. Maschinendaten gehören nicht in öffentliche Clouds, das zeigen uns die andauernden Meldungen über Sicherheitslücken in Routern oder per Internet zugänglichen Steuerungsanlagen. Theoretisch könnte man ja sogar die Telematik öffnen und Fahrzeuge fernsteuern. Aber lassen Sie mal einen Fehler passieren, der zu einer Vollbremsung eines 48-Tonners auf der Autobahn führt - da machen Sie mehr kaputt, als sie je gewinnen können.
Können Sie sich vorstellen, dass der CIO durch seine verbesserte Sicht auf die Daten künftig die Rolle des Chief Operating Officers übernimmt?
Stephan Fingerling: Das hängt stark von der Branche ab. In Fertigungsunternehmen kann ich mir das nur schwer vorstellen, da es hier zu viele nicht-digitale Unternehmensprozesse gibt. Hingegen halte ich das im Handel oder bei Banken für realistisch.
Michael Müller-Wünsch: Diese Diskussion möchte ich eigentlich nicht führen, weil hierbei die Gefahr besteht, dass Führungskräfte versuchen, ihre Aufgabenbereiche zu schützen, und möglicherweise den Informationsfluss bremsen. Solange wir als IT unser Kerngeschäft beherrschen und keine handwerklichen Fehler machen, wird man mit uns reden. Und unsere Bedeutung nimmt ohnehin zu.
Wie gelingt es Ihnen, Data-Initiativen im Unternehmen zu verankern?
Stephan Fingerling: Der wichtigste Grundsatz ist, dass man in kleinen, überschaubaren Projekten vorgeht. Im Unternehmen muss verstanden werden, dass Big Data einen Nutzen für die Bewältigung der alltäglichen Probleme bringt. Die Gefahr bei Großprojekten ist, dass daraus unerwünschte Parallelorganisationen entstehen.
Michael Müller-Wünsch: Um erfolgreich zu sein, brauchen wir als IT vor allem das Vertrauen im Unternehmen. Bei uns sind wir auf einem guten Weg, indem Mitarbeiter aus der IT auch einmal in den Fachbereich wechseln. Dadurch hat sich das Verhältnis zwischen uns und den Fachbereichen gravierend verbessert. Wir werden nun viel ernster genommen und können so als Business-Partner mit unseren Initiativen mehr bewirken.
Die Unternehmensdaten der Lekkerland AG & Co. KG
Hauptsitz |
Frechen bei Köln |
Umsatz |
11,5 Milliarden Euro (2012) |
Ranking |
Platz 78 der umsatzstärksten Unternehmen Deutschlands |
Mitarbeiter |
5074 (2012) |
IT-Kennzahlen |
|
IT-Mitarbeiter |
100 |
IT-Benutzer |
2500 |
Dienstleister |
Atos, IBM (neben anderen) |
Die Unternehmensdaten der MAN SE
Hauptsitz |
München |
Umsatz |
15,7 Milliarden Euro (2013) |
Ebit |
361 Millionen Euro |
Mitarbeiter |
53 .509 (2013) |
IT-Kennzahlen |
|
IT-Mitarbeiter |
904 |
IT-Budget |
376,8 Millionen Euro |
IT-Benutzer |
50.000 |