Kluge Menschen kommen sich manchmal dumm vor. Man mag zurückdenken an den weisen Philosophen Sokrates und sein Diktum: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Letztlich läuft diese Erkenntnis ja darauf hinaus, im Vergleich zu anderen immerhin über die eigenen geistigen Defizite Bescheid zu wissen und aus der resultierenden Demut heraus doch so richtig wie möglich zu denken. In Wirklichkeit funktioniert selbst das nicht so ohne weiteres, wie eine aktuelle Studie der Psychologen Richard F. West und Russell J. Meserve von der James Madison University sowie Keith E. Stanovich von der University of Toronto zeigt.
Das Ergebnis der Untersuchung ist in deutschen Medien schon knackig auf den Punkt gebracht worden: Kluge Menschen irren sich häufiger als andere. Und das, weil sie ihrer eigenen Selbstüberschätzung erliegen. Das ist so in etwa richtig, aber doch arg zugespitzt. Unter die Lupe genommen haben die Forscher nämlich eine spezifische Art des Irrens: Denkfehler nämlich, die aus Voreingenommenheit resultieren, also beispielsweise Vorurteilen oder vorschneller Lösungsfindung.
Der schwer adäquat ins Deutsche zu übersetzende englische Begriff dafür ist „bias“. Ein damit verbundenes klassisches persönlichkeits- und sozialpsychologisches Problem ist der „bias blind spot“. Ein blinder Fleck also, der daraus resultiert, dass die aus Voreingenommenheit resultierenden Irrtümer bei anderen wahrgenommen werden, während man sich selbst davor für gefeit hält.
Problem: Der blinde Fleck
Dieser blinde Fleck nun war Hauptgegenstand der Studie, und hier ist der Befund sehr klar. Bisher wurde häufig unterstellt, dass es sich bei dieser Fehleinschätzung - abseits der gesellschaftlichen Ursachen – tendenziell um einen kognitiven Mangel handelt. Die Forscher stellten nun fest, dass Menschen mit erwiesenen hohen kognitiven Fähigkeiten genauso oft und sogar tendenziell öfter in die bekannten Irrtumsfallen tappen. Überdies helfen ihnen die Erkenntnisse von Fehlern der anderen in der Realität nicht, eigene Denkfehler zu vermeiden.
Den „bias blind spot“ definiert die Studie als „Tendenz zu glauben, dass voreingenommenes Denken bei anderen mehr vorherrscht als bei uns“. Die zentrale Erkenntnis der Studie formulieren die Forscher so: „Auf Basis unserer Daten mildert die kognitive Fähigkeit die Neigung zu einem blinden Flecken überhaupt nicht ab.“
Die Folgen für Führungskräfte
Während die Voreingenommenheit der Mitmenschen leicht zu entdecken sei, übersehen wir laut Studie die unbewussten Prozesse, die Quelle unserer eigenen Irrtümer sind. Ein Fazit der Untersuchung dürfte insbesondere Führungskräfte nachdenklich stimmen: „Wenn wir keinen Beweis für eigene Befangenheit feststellen, neigen wir zu der Annahme, dass keine Voreingenommenheit vorlag und unsere Entscheidungsfindung objektiv und vernünftig war.“
Basis der Studie sind Tests, die die Forscher mit 482 Studenten einer Universität im Osten der USA sowie mit 265 Mitarbeitern von Amazon Mechanical Turk durchführten. Die Probanden mussten einen Fragebogen beantworten, der eine Fülle bekannter Bias-Typen beinhaltete.
Fangfragen
Zum Beispiel ging es in einem Teil um kognitive Reflexion: Fünf Maschinen produzieren fünf Komponenten in fünf Minuten; wie lange dauert es, bis 100 Maschinen 100 Komponenten hergestellt haben? Eine Seerose verdoppelt ihre Größe täglich; nach 48 Tagen bedeckt sie einen ganzen See; wie lange hatte es gedauert, bis der See zur Hälfte bedeckt war? Ein Baseballschläger und ein Ball kosten 1,10 Dollar; der Schläger kostet einen Dollar mehr als der Ball; wie teuer ist der Ball?
Ad hoc hat man bei diesen klassischen Fangfragen Lösungen wie 100 Minuten, 24 Tage oder 10 Cent im Kopf. Richtig sind 5 Minuten, 47 Tage und 5 Cent. Falsche Angaben machen laut Studie auch hier viele schlaue Köpfe, die andere Intelligenztests mit Bravour absolvieren. „Erwachsene mit höherer kognitiver Fähigkeit sind sich ihres intellektuellen Status bewusst und erwarten, bei Denkaufgaben andere locker hinter sich zu lassen“, heißt es in der Studie. Eine daraus resultierende Hybris könne möglicherweise erklären, warum intelligente Menschen in derartige Fallen tappen.
Der Bias-Test zielte allerdings noch auf ganz andere Formen von Voreingenommenheit ab. In einer Frage ging es etwa um ein gefährliches Auto, das mit achtfach höherer Wahrscheinlichkeit andere Verkehrsteilnehmer tötet als ein sicheres Gefährt. Die Antworten auf die Frage, ob das Fahrzeug verboten werden sollte, fallen wegen des „Myside Bias“ höchst unterschiedlich aus: je nachdem, ob man Amerikaner nach einem deutschen Auto auf amerikanischen Straßen fragt oder nach einem Ford, der in Deutschland unterwegs ist.
Irritiert vom Linda-Problem
Ein anderes Beispiel ist der „Outcome Bias“: Ein Herzkranker kann durch eine Operation gesunden, schmerzfrei sein und erwartungsgemäß fünf Jahre länger leben. Allerdings sterben bei der Operation selbst acht Prozent der Patienten. Handelt der Arzt richtig, wenn er operiert? Die Antwort auf die Frage schwankt enorm: je nachdem, ob man eine erfolgreiche oder eine gescheiterte Operation unterstellt. Die Verzerrung liegt erkennbar darin, dass eine Entscheidung nach ihrem Ergebnis beurteilt wird und nicht nach den Faktoren, die sie ursprünglich beeinflussten.
Zuordnungsprobleme offenbart das Linda-Problem. Linda ist 31 Jahre, Single, hat Philosophie studiert, an Anti-Atomdemonstrationen teilgenommen, ist gegen Diskriminierung zu Felde gezogen und hat sich für soziale Gerechtigkeit stark gemacht. Erstaunlicherweise gibt es beim Bias-Test eine höhere Zustimmungsrate für die Aussage, dass Linda in einer Bank arbeitet und als Feministin aktiv ist, als für die bloße Aussage, dass sie in einer Bank arbeitet. In einer Bank arbeitet sie aber in beiden Fällen.
Bisher nur Erklärungsansätze
Woran liegt es nun, dass hohe Intelligenz nicht vor den Torheiten der Voreingenommenheit schützt? Die Forscher haben in ihrer aktuellen Studie das Problem nicht untersucht und legen sich deshalb nicht fest. Sie verweisen allerdings auf Erklärungsansätze, die in der Wissenschaft bereits bemüht wurden. Zum einen gibt es die These vom „naiven Realismus“. Demnach neigen Menschen dazu, die von ihnen wahrgenommene Realität mit der Welt, wie sie ist, gleichzusetzen. Zum anderen besteht offenbar eine Art Grenze bei der Introspektion. In der Selbstwahrnehmung bleiben notorisch Dinge außen vor, die bei anderen klar wahrgenommen werden.
So betrachtet gibt es nicht wirklich einen Schutz vor den eigenen Irrtümern. In der Praxis dürfte es jedoch nicht schaden, sich das bewusst zu machen und Entscheidungen im Dialog mit Vertrauten auf ihre Sinnhaftigkeit abzuklopfen. Schließlich suchte schon Sokrates in philosophischen Gesprächen mit anderen Denkern und Schülern nach der Weisheit.