Derzeit werden in den deutschen Kliniken und vor allem in den 33 Universitätskliniken unfassbar viele Daten von Patienten erhoben. Gleichzeitig sorgen Datenschutz und umfassende Sicherheitsrichtlinien richtigerweise dafür, dass Daten nur in ausgewählten Bereichen übergreifend auswertbar zur Verfügung stehen.
Herausforderung Datenschutz
Warum betone ich "richtigerweise"? Die Persönlichkeitsrechte in Deutschland sind ein hohes zu schützendes Gut, und der Datenschutz gehört seit über 2000 Jahren dazu, unterliegen doch die Ärzte ihrer Schweigepflicht. Damit haben die Patienten das Recht an allen klinikerfassten und objektivierbaren Daten. Die 2016 beschlossene und voraussichtlich 2018 in Kraft tretende EU-Datenschutz-Grundverordnung (EU-DSGVO) wird den Nutzern künftig einfacheren Zugang zu ihren Daten geben, so dass weitere Transparenz geschaffen wird.
Jeder Patient soll damit den Datenfluss und die Datenverarbeitung erkennen können, außerdem kann er das Recht auf Vergessen in Anspruch nehmen. Im gesamten Gesundheitswesen wird damit zumindest theoretisch die Forschung erleichtert, sofern sich Bundes- und Landesregierungen nicht entscheiden, hier Einschränkungen vorzunehmen.
Heute steht den Kliniken und der Forschung oftmals noch keine ausreichende Datenbasis zur Verfügung, um beispielsweise seltene Erkrankungen zu erforschen oder umfassende Krankheitsbilder von Patienten zu erfassen. Hintergrund ist, dass die Betroffenen in verschiedenen Kliniken oder auch außerhalb eines Krankenhauses in Behandlung waren. Die elektronische Patientenakte dürfte diese Situation signifikant verbessern. Sie optimiert den mobilen Zugriff, die medizinische und administrative Zusammenarbeit, die Datensicherheit und, im Rahmen des Handlings der Management-Informations-Systeme, die Voraussetzungen für ausgefeilte Big-Data-Analysen.
Aus Forschungssicht kann man unter anderem die sogenannten Medizininformatik-Initiativen in Verbindung mit (Doppel-)Pseudonymisierung sowie deren Anwendung aus landes- und bundesweiten Netzwerken, telemedizinischen Anwendungen und den damit verbundenen großen Datenmengen als Signale der Digitalisierung wahrnehmen.
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Klinische Sicht
Die komplett elektronische Patientenakte integriert die im jeweiligen klinischen Informationssystem (KIS) vorliegende Akte mit einer Reihe elektronischer Prozesse - und zwar aus folgenden Bereichen:
• Abrechnung und Abrechnungsdatenträger, wobei die Aufnahme mit Einlesen der Patientenkarte sowie der Patientenentlassung, Abrechnung, Bettenplanung und Verlegung berücksichtigt werden.
• Anforderungen aus Labor, Mikrobiologie, Pflege, Radiologie und Therapie.
• Dokumentation in Form von Arztbriefen, Befunden, Pflegedokumentation und den aufgenommenen Vitaldaten der Patienten.
• Auch die Terminplanung mit Kalender, Personal- und Ressourcenplanung gehört hier mit dazu, ebenso
• die Medikation mit Erfassung der Allergien, Anordnungen, Verschreibungen, Dosierung von Medikamenten bis hin zu Wechselwirkungen.
• Interne Workflows bilden das Schreiben von Arztbriefen ab, ebenso die digitale Abrechnung, das Erfassen von Fieberkurven, Prophylaxen und Visiten sowie das gesamte Entlassungs-Management.
• Nach extern wird die Kommunikation mit den Kostenträgern/Krankenkassen abgedeckt, außerdem mit einzelnen Patienten und Zuweisern sowie mit kompletten Patienten- und Zuweiserportalen.
Eine solch umfassende elektronische Patientenakte muss für alle Abteilungen bereitstehen - also für Intensiv- und Normalstation, Ambulanz, Notaufnahme, OP, Radiologie, Labor, Apotheke, Psychiatrie etc. Heute zieht selbst eine teilweise Durchdringung in einzelnen Bereichen vieler Kliniken immer noch sehr viele Medienbrüche bis hin zu handschriftlichen Notizen nach sich. Zahlreiche Prozesse werden derzeit gar nicht oder im schlimmsten Fall nur mit möglichen Patientenrisiken umgesetzt. Das wird sich ändern, für die notwendige Mobilität werden darüber hinaus beispielsweise mobile Visitenwagen, Tablets und Zero Clients sorgen.
Was konkret geschehen wird
Die elektronische Patientenakte wird den Informations- und Kommunikationsfluss digitalisieren und dafür sorgen, dass Folgendes geschieht:
• In den Kliniken wird eine stationsinterne und -übergreifende digitale Übergabe von Daten etwa zur Dokumentation und Medikation selbstverständlich. Das betrifft beispielsweise den Datenfluss von der Normalstation zu den pädiatrischen, psychiatrischen und psychotherapeutischen Bereichen und den Intensivstationen und umgekehrt.
• Ärzte und Pflegekräfte in Notaufnahme und Ambulanz erhalten bessere Voraussetzungen für die sogenannte Triage - gemeint ist die unvermeidliche Priorisierung medizinischer Hilfeleistungen, wenn etwa das Patientenaufkommen unerwartet steigt oder, aus welchen Gründen auch immer, die Ressourcen knapp sind. Dann geht es darum, schwer erkrankte Notfallpatienten von anderen rechtzeitig zu unterscheiden und umgehend die notwendige Behandlung einzuleiten. Die IT-Herausforderungen reichen dabei vom standardisierten Karteneinlesen bis hin zu einem IT-gestützten Bettenbelegungs-Management, wobei spezielle Belegungskriterien berücksichtigt werden müssen, die beispielsweise bei einer Hotelbuchung nie existieren würden.
• Im OP und in der Anästhesie führen Fachärzte, OP- und Anästhesie-Pflegepersonal sowie OP-Koordinator gemeinsam die prä-, intra- und postoperativen Dokumentationen. Weniger zeitkritische "elektive", aber auch Notfall-OPs können im elektronischen Terminplan einfach eingegeben werden. Die Prozesse vor OP-Beginn (Time out, Checkliste etc.) sind genauso digital wie der Anästhesieprozess von der Aufklärung bis zur postoperativen Betreuung.
• Im Labor sind die digitalen Prozesse von der Anforderung über die Ergebnisfreigabe bis hin zu besonderen rechtlichen Vorschriften wie einer digitalen Signatur abgebildet. Das gilt auch für Alarmierungsprozesse bei festgestelltem Isolationsbedarf der Patienten.
• In der Apotheke ist der gesamte Bestell- und Herstellungsprozess für stationäre und ambulante Patienten betroffen, ebenso die Medikationsumstellung zur Aufnahme und Entlassung. Die materialwirtschaftlich gekoppelte "Closed-Loop-Medication" mit elektronischer Verteilung, Vergabe, Verordnung, Übertragung, Dispensierung und Applikation ersetzt dann die derzeit noch übliche handgeschriebene Verordnung und Dokumentation der Applikation. Digitale Erfassung via Barcode hilft, Medikationsfehler zu vermeiden. Das geht bis zur "Unit-dose"-Produktion, also der Bereitstellung patientenindividueller Medikationen, bei denen dann jeder sein spezielles abgepacktes Tütchen Medikamente bekommt. Für die IT bedeutet das eine neue Mobilität mit Zugriff auf alle Patientendaten und verschiedene Features zur Entscheidungsunterstützung im Krankenhaus-Informationssystem (KIS).
• Die Funktionsdienste, beispielsweise die Patiententransporteure, erhalten ihre Anforderungen und Terminplanung über mobile Fahraufträge auf die Mobiltelefone inklusive Berechnung der Wege- und Wartezeiten. Wie in der Paketzustellung erfolgt die Zuweisung des Transporteurs zum Patienten automatisch oder über Dispatcher. Hier stößt allerdings die Lokalisierung von Patienten und eigenem Personal mit Hilfe einer Tracking-and-Tracing-Infrastruktur an die Grenzen im deutschen Datenschutz und in der Akzeptanz durch die Personalvertretungen.
• Zu einem volldigitalisierten Betrieb ohne Medienbrüche gehören auch im Verwaltungsbereich die schon meist elektronisch verbreiteten Dokumente. Das können etwa Berichte für das Qualitäts-Management oder die Geschäftsführung sein. Hinzu kommen beispielsweise Benchmarking-Daten, Beschwerde- und RisikoManagement, Patienten- und Mitarbeiterbefragungen, das IT-Change-Management, Care- und Case-Management durch den Sozialdienst, Entlass-Management mit MDK-Prozess sowie der gesamte Abrechnungs- und Codierprozess mit (Pflege-)DRG nebst OPS-Codes.
Prozesse digitalisieren
Wesentlicher Teil der elektronischen Patientenakte ist die Digitalisierung von Belegen und Schriftstücken aller Art, also etwa das professionelle Einscannen (mit OCR-Texterkennung) der Altakten von Patienten, von Verwaltungsbelegen und von diversen noch nicht digital vorliegenden Papieren, die Patienten ins Klinikum mitbringen. Über das KIS können die Anwender entsprechend ihren Berechtigungen auf die indexierten Akten der Patientenfälle, für die sie ein Behandlungsmandat haben, zugreifen. Sie erhalten eine fallbezogene Registerstruktur wie zuvor in Papierform.
Forschungssicht
Wie eingangs erwähnt, sind für die klinische Forschung die (Doppel-)Pseudonymisierung (also aus "Max Muster" wird "Nr. 4711" und aus "4711" wird "0815") und bundesweite Netzwerke mit telemedizinischen Anwendungen die Kernthemen.
Allein in Bayern finden sich mittlerweile deutlich über 50 telemedizinische Projekte. Sie enthalten etwa typische Anwendungen für Teleradiologie, neurovaskuläre Erkrankungen, Schlaganfall-
interventionen, Herzinfarkt und andere kardiologische Fragestellungen. Hinzu kommen COPD, Epilepsie, Telemonitoring und Teletherapie bei chronischen Nierenerkrankungen. Außerdem finden sich telemedizinische Projekte in der Tele-Traumatologie für die Unfallchirurgie, den augenärztlichen oder auch pädiatrischen Telekonsilen, der Telepathologie, Tele-Reha, Tele-Nuklear-
medizin, der telemedizinischen Begleitung von Adipositas- oder Diabetes-Patienten, dem Therapiemonitoring bei Bewegungserkrankungen und in vielen anderen Bereichen.
Solche Lösungen unterstützen zwar die Patienten, haben jedoch die Eigenschaft, technisch isoliert zu bleiben. Ein Informationsgewinn oder gar -austausch bleibt häufig aus.
Die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und vom Innovationsfonds beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) initiierten Förderkonzepte zur Medizininformatik sollen die IT-Infrastruktur im Gesundheitswesen verbessern, um die Vielzahl der klinischen Daten für eine bessere Versorgung zu nutzen und um valide Forschungsdaten zu erhalten.
Gleiches gilt für den Aktionsplan des Bundesministeriums für Gesundheit zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) im Rahmen des E-Health-Gesetzes. Das trifft unter anderem Versorgungsmodelle in ländlichen Gebieten, Projekte zur Arzneimitteltherapie sowie die oben aufgeführten Versorgungsmodelle unter Nutzung von Telemedizin, Telematik und E-Health sowie spezielle Patientengruppen (Ältere, Pflegebedürftige, Kinder und Jugendliche, aber auch Menschen mit psychischen oder mit seltenen Erkrankungen).
Neben der regionalen und nationalen Infrastruktur für Telemedizin mit Anbindung an eine elektronische Gesundheitskarte (eGK) ist hier vor allen der Datenschutz in Deutschland die große Herausforderung. Das muss insofern verwundern, als andere Länder wie Österreich und die Schweiz - gar nicht zu reden von den USA - hier schon längst landesweit Fakten geschaffen haben. Telemedizinische und konsiliarische Röntgenbefundung und Videosprechstunde sind dort, ähnlich wie Austauschplatt-
formen für Einweiser, keine exotischen Themen. Gleiches gilt für den persönlichen Heilberufsausweis des Arztes (HBA) und die Secure Module Card (SMC-B) für ganze Praxen.
Abschließend aufgeführt sei noch das Notfall-Daten-Management, in dem auf Wunsch des Patienten eine individuelle Speicherung notfallrelevanter Daten auf die eGK erfolgen soll. Das fordert das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung und in Zukunft auch das alles überlagernde E-Health-Gesetz. Schöne neue Welt, mag man denken, wenn das einzige bedeutende "sichere Netz" das Netz der Krankenversicherungen ist, an das sich die Vertragsärzte anschließen, um den ab 1. Januar 2017 geförderten elektronischen Arztbrief (e-Arztbrief) zu nutzen.
Weitere Digitalisierungen
Darüber hinaus werden natürlich weitere IT-Themen gelöst, darunter Bedside-Informationssysteme und Multimedia-Patienten-Entertainment-Plattformen am Krankenbett, zumal es in fünf Jahren kaum noch nachvollziehbar sein wird, dass in Kliniken (außer heute bereits auf vielen Privatstationen) kein WLAN für die Handys und Tablets von Patienten und Besuchern zur Verfügung steht und der klassische Röhrenfernseher sowie die analoge Telefonverbindung immer noch verbreitet sind. Gleiches gilt für E-Invoicing und Payment-Systeme, die in anderen Branchen Standard sind.
Zur vollkommenen Digitalisierung zählen neben der Vernetzung von allen relevanten Medizingeräten im Klinikum natürlich auch die medizinischen Apps, der Umgang mit Wearables der Patienten und das Internet of Things (vielleicht alsbald mit 3D-Druckern für Herzklappen oder Haut etc.).
In Summe behauptet die Wette, dass es volldigitalisierte Kliniken geben wird, auch messbar. Allerdings geht das weit über die sieben Stufen des weltweiten und europäischen Einführungsmodells EMRAM (Electronic Medical Record Adoption Model) der Healthcare Infomation and Management Systems Society (HIMMS) hinaus. Hier bietet sich eher die Analogie zu den Energieeffizienzklassen A bis G an, die mittlerweile auch schon auf A++++ erweitert wurden. Frei nach dem Motto: Nach der Digitalisierung kommt die nächste Digitalisierung (siehe Grafik Seite 34).
Und zum Abschluss doch noch mal Sicherheit
Als wäre die Wette nicht herausfordernd genug, setzt das seit Juli 2015 geltende IT-Sicherheitsgesetz noch eins drauf. Mit der ersten Verordnung zur Umsetzung des IT-Sicherheitsgesetzes vom Mai 2016 sollen in den Sektoren Energie, Informationstechnik und Telekommunikation sowie Wasser, Ernährung und eben auch Gesundheitswesen bis Anfang 2017 die kritischen Infrastrukturen (KRITIS) bestimmt werden. Da sind wir dann wieder bei der IT-Sicherheit und der Bedrohung durch Cyber-Angriffe in einer immer digitaleren Klinikwelt.
In dieser Wette bewusst nicht erwähnt wurde der erhebliche finanzielle Aspekt für alle Entscheider im Gesundheitswesen. Aber um frei nach dem französischen Mathematiker Pierre de Fermat zu formulieren: Dieser Textbeitrag hier ist zu schmal, um diesen Aspekt noch zu fassen.
Ich freue mich auf Ihr Feedback!
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