Rechnungshof übt schwere Kritik

Digitalisierung im Gesundheitswesen wird zum Albtraum

12.04.2019 von Martin Bayer
Seit Jahren doktert die Gematik an der elektronischen Gesundheitskarte und der Telematikinfrastruktur herum – ohne Erfolg, wie ein aktueller Prüfbericht des Bundesrechnungshofs (BRH) schonungslos offenlegt.

Die Zwischenbilanz des BRH zur Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) und der dazugehörigen Telematikinfrastruktur fällt verheerend aus. "15 Jahre nach Beginn des Projektes ist lediglich ein Teil der ärztlichen Praxen an die Telematikinfrastruktur angeschlossen", heißt es in einem Bericht der Prüfbehörden, der der COMPUTERWOCHE vorliegt.

Krankenhäuser und andere Leistungserbringer seien komplett außen vor. Bislang habe die Gesundheitskarte keinen konkreten Mehrwert für Leistungserbringer und Versicherte gebracht. Zwar handele es sich bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens durchaus um eine komplexe und zeitaufwändige Aufgabe, konzedieren die Prüfer. Es sei aber nicht vertretbar, "dass auch nach weit mehr als einem Jahrzehnt das Projekt nur ansatzweise verwirklicht ist".

Der elektronischen Gesundheitskarte (eGk) geht es gar nicht gut, hat der Bundesrechnungshof festgestellt.
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Verantwortlich ist aus Sicht des Bundesrechnungshofs die Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH (Gematik). In dieser Organisation sollten die beteiligten Vertreter des deutschen Gesundheitswesens eigentlich gemeinsam an der Einführung der Gesundheitskarte und dem Aufbau der notwendigen Infrastruktur arbeiten. Doch dieser Plan ging gründlich daneben. Gegensätzliche Interessen führten immer wieder zu Verzögerungen und bremsten die Einführung, schreiben die Rechnungsprüfer in ihrem Bericht. Allein bis zum Jahr 2017 habe die Gematik Kosten von 606 Millionen Euro verursacht.

Vor allem die Arbeit in den Gremien der Gematik kam in den vergangenen Jahren nicht voran. "Häufig waren Schlichtungsverfahren notwendig, weil sich die Gesellschafter nicht einigen konnten", heißt es im Bericht. Doch nicht immer seien die Schlichtungsentscheidungen bei allen Gesellschaftern akzeptiert worden. In einem Fall habe sich beispielsweise an ein Schlichtungsverfahren eine weitere Schlichtung angeschlossen, weil sich die Gesellschafter zunächst über eine organisatorische und im Anschluss über eine inhaltliche Frage nicht verständigen konnten. Zwischen dem Beginn des ersten und dem Ende des zweiten Verfahrens seien rund drei Jahre ins Land gegangen.

Mehr als 20 Jahre Pleiten Pech und Pannen

Mit der Gesundheitskarte und der Telematikinfrastruktur sollen sämtliche Beteiligten im deutschen Gesundheitswesen vernetzt werden. Das betrifft rund 170.000 Arzt-, Zahnarzt- und Psychotherapeutenpraxen, 20.000 Apotheken, 2000 Krankenhäuser, 110 gesetzliche Krankenkassen sowie 1200 Vorsorge- und Reha-Einrichtungen.

Die ersten Pläne dafür reichen bis ins Jahr 1996 zurück. Damals hatte das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) ein Beratungsunternehmen mit einer Studie zur Telematik im Gesundheitswesen beauftragt. Einen ersten rechtlichen Rahmen schuf das GKV-Modernisierungsgesetz im Jahr 2004. Ein Jahr darauf wurde die Gematik gegründet, die auf Basis des sogenannten Telematikgesetzes den weiteren Ausbau der Infrastruktur vorantreiben sollte.

Doch hier ging es nur schleppend voran. Dem Bundesrechnungshof zufolge hat es sich nicht bewährt, "die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte und der Telematikinfrastruktur den Spitzenorganisationen zu übertragen." Die Organisations- und Entscheidungsstruktur der Gematik unterstütze nicht ausreichend ihren gesetzlichen Auftrag, die Telematikinfrastruktur zu schaffen. Seit dem Gründungsjahr 2005 habe es massive Verzögerungen gegeben. Erst mit dem E-Health-Gesetz ab dem Jahr 2015 hätten sich Fortschritte abgezeichnet - aber nur, weil von diesem Zeitpunkt an durch Fristen gesetzt, Sanktionen und Ersatzvornahmen eingeführt worden seien.

Der Bundesrechnungshof empfiehlt, eine andere Organisationsstruktur für die Einführung der Telematikinfrastruktur und weiterer Anwendungen der elektronischen Gesundheitskarte zu schaffen. Diese sollte so beschaffen sein, dass Entscheidungsprozesse unterstützt und nicht durch unterschiedliche Interessen verzögert würden. Die Prüfer raten daher, "die Allzuständigkeit der Gematik zu durchbrechen". Richtungsweisende Entscheidungen sollten vom Bundesgesundheitsministerium selbst oder einer von ihm beeinflussbaren Organisation im Sinne eines Top-Down-Ansatzes getroffen werden können.

Es braucht eine neue Strategie für die Digitalisierung

Ziel müsse sein, die geplante Digitalisierung im Gesundheitswesen nunmehr zügig und konsequent einzuführen. Das Ministerium müsse einen verbindlichen und transparenten Rahmen für eine effiziente Einführung einer Telematikinfrastruktur als Grundlage für die Nutzung medizinischer Anwendungen zu schaffen, heißt es in dem Bericht. Zudem sei notwendig, eine neue Strategie für die Digitalisierung im Gesundheitswesen zu entwickeln. Diese müsse den sich ändernden funktionalen Anforderungen Rechnung tragen sowie eine zügige Umsetzung und adäquate Finanzierung sicherstellen. Soweit erforderlich, sei auch der rechtliche Rahmen dazu zu verändern.

Ob das Ministerium dazu in der Lage ist, bleibt zweifelhaft. Schließlich muss sich auch die Politik von den Rechnungsprüfern Versäumnisse ankreiden lassen. Seit Inkrafttreten des Telematikgesetzes im Jahr 2005 seien die gesetzlichen Vorgaben zur Architektur der Telematikinfrastruktur nicht mehr angepasst worden, heißt es seitens des BGH. Es stehe zu befürchten, dass diese nicht mehr zeitgemäß seien.

Der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn von der CDU wird sich etwas einfallen lassen müssen, um die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen endlich in Schwung zu bringen.
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Das Ministerium habe es beispielsweise versäumt, einen einheitlichen Rechtsrahmen für die elektronische Patientenakte (ePA) der Krankenkassen sicherzustellen. Erst bis zum 31. Dezember 2018 habe die Gematik technische Vorgaben dafür vorlegen müssen. Ob die individuellen Gesundheitsakten der Kassen in eine Telematikinfrastruktur eingebunden werden können, sei aber keineswegs sichergestellt. Das Urteil des Bundesrechnungshofs zur Rolle des Ministeriums: "Das BMG hat die Einführung eines elektronischen Gesundheitswesens nicht angemessen gestaltet und gesteuert, wenn ihm sogar der Überblick über die am Markt befindlichen elektronischen Gesundheitsakten und deren technischen Spezifikationen fehlt."

Zuckerbrot und Peitsche

Das mittlerweile vom CDU-Politiker Jens Spahn geführte Ministerium will sich den Schwarzen Peter indes nicht zuschieben lassen und reicht ihn gleich weiter. Seit dem E-Health-Gesetz hätten nicht fehlende Entscheidungen der Gematik zu Verzögerungen geführt, sondern verspätete Lieferungen der Industrie, so die Replik des Ministeriums auf den Prüfbericht. Die derzeit praktizierte "Systematik aus Anreizen und Sanktionen" würden bereits die beabsichtigte Wirkung zeigen. Die Selbstverwaltung habe die vom BMG gesetzten Fristen weitgehend "abgearbeitet". Jetzt finde der Rollout statt und alle Beteiligten würden mit den Umsetzungsproblemen der Industrie konfrontiert.

"Es wird Zeit, dass der Gesundheitsminister den chaotischen Prozess nicht weiter dem Selbstlauf überlässt", fordert Gesine Lötzsch, Bundestagsabgeordnete der Linken.
Foto: Gesine Lötzsch Die Linke

Die Opposition geht derweil mit Regierung und Gesundheitsministerium hart ins Gericht. "Die Kosten für die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte sind völlig aus dem Ruder gelaufen", kritisiert Gesine Lötzsch, Bundestagsabgeordnete von "Die Linke". Maria Klein-Schmeink, gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, sprach gegenüber der "Ärztezeitung" von einer schallenden Ohrfeige für die Regierung und Minister Jens Spahn. Nun räche sich, dass es seit Jahren keine Strategie für die Digitalisierung im Gesundheitswesen gebe. "Der Minister redet lieber über die Blockchain statt eine stringente Strategie für die Digitalisierung im Gesundheitswesen vorzulegen."

BER des Gesundheitswesens

Andrew Ullmann, Gesundheitsexperte der FDP und Medizinprofessor, vergleicht die Einführung der eGK und Telematikinfrastruktur mit dem desaströsen Verlauf des Berliner Großflughafen-Projekts. "Nahezu 20 Jahre hat die Politik im Bereich der Digitalisierung des Gesundheitswesens versagt." Die Gematik wirke eher wie eine mittelmäßige Theateraufführung und nicht wie ein modernes IT-Unternehmen, das Innovation und Datensicherheit zusammenbringen soll, moniert der FDP-Politiker.

Die Bundesregierung habe die Verantwortung großenteils abgegeben. "Dies hatte zur Folge, dass politisch kein Gesundheitsminister von Ulla Schmidt bis hin zu Jens Spahn die Verantwortung für das Scheitern übernehmen musste", kritisiert der Bundestagsabgeordnete. "Wie bei der Berliner Flughafenruine BER ist davon auszugehen, dass die Telematikinfrastruktur und die elektronische Gesundheitskarte längst technisch überholt sein werden, bevor sie richtig funktionieren."

Ullmann fordert daher: "Die Gematik muss aufgelöst werden." Darüber hinaus müsse das Bundesministerium, wenn es die Digitalisierung im Gesundheitswesen ernst nimmt, die weitere Entwicklung in versierte von der Selbstverwaltung unabhängige Hände legen. Vertreter der Patienten und Leistungserbringer sollten dort mitwirken, wo es um Benutzerfreundlichkeit geht. Technische Vorgaben zur Datensicherheit müssten, wie auch kritische Tests, in die Hand von Experten gelegt werden.

Die Entscheidungsstrukturen der Gematik gehören reformiert, sagt Maria Klein-Schmeink, gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag. "Es braucht mehr politische Steuerung."
Foto: Maria Klein-Schmeink Die Grünen

Klein-Schmeink von den Grünen plädiert dafür, die Digitalisierung des Gesundheitswesens in die Hand der Patientinnen und Patienten zu legen. Dazu gehöre, die Entscheidungsstrukturen der Gematik zu reformieren und die Patientenperspektive deutlich zu stärken. "Es braucht mehr politische Steuerung, um den Gesundheitsmarkt nicht den "Big Five" zu überlassen und damit die Daten der Patientinnen und Patienten aufs Spiel zu setzen."

Ministerium will Kontrolle über Gematik übernehmen

Tatsächlich scheint man auch im BMG allmählich die Geduld zu verlieren. Mit einem Änderungsantrag zum Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) will Spahn offenbar die Gesellschafterstrukturen der Gematik tiefgreifend verändern. Das Ministerium plant, selbst mit einem Anteil von 51 Prozent Gesellschafter der Gematik zu werden. Bislang hielt der Spitzenverband Bund der gesetzlichen Krankenkassen 50 Prozent. Die andere Hälfte teilten ärztliche, zahnärztliche und apothekergetragene Interessensverbände unter sich auf.

Beide sollen künftig nur noch jeweils 24,5 Prozent kontrollieren. Darüber hinaus will Spahn die Entscheidungswege beschleunigen. War bis dato eine zwei Drittel-Mehrheit für einen Beschluss erforderlich, soll künftig eine einfache Mehrheit reichen. So will der Minister Tempo machen. Schließlich hat er sich ehrgeizige Ziele gesetzt. Bis 2021 sollen die Krankenkassen verpflichtet werden, ihren Versicherten eine Elektronische Patientenakte anzubieten.

Für die momentan noch erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit braucht es vielfältige Koalitionen im Gematik-Geflecht.
Foto: Gematik

In den Reihen der bisherigen Gematik-Gesellschafter ist man empört über den Vorstoß des Ministeriums. Ärztevertreter warnten davor, die im Koalitionsvertrag bestätigte Selbstverwaltung im Gesundheitswesen durch einen "staatsdirigistischen Eingriff" auszuhebeln. "Das wäre ein Systembruch, den wir strikt ablehnen", sagte Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK).

Gematik-Gesellschafter schieben die Schuld auf die Industrie

Damit würden Kompetenzen, Zuständigkeiten und Finanzierung zwischen staatlichen Institutionen und der gemeinsamen Selbstverwaltung vermischt, was zu Intransparenz und unklaren Verantwortlichkeiten führe, hieß es von Seiten des Spitzenverbands der Krankenkassen. Schließlich habe es auch in den Jahren 2005 bis 2010, als das Gesundheitsministerium per Rechtsverordnung die alleinige Entscheidungsgewalt in der Gematik innehatte, auch keine Fortschritte hinsichtlich des Aufbaus der Telematikinfrastruktur gegeben.

Aus Sicht der Krankenkassen seien die Verzögerungen darauf zurückzuführen, dass die Industrie mit der Produktion der notwendigen Geräte nicht hinterherkomme. Auch eine mehrheitliche Übernahme durch das Ministerium werde kaum dazu führen, dass die Anbieter schneller arbeiteten. Probleme in der Arbeit der Gematik gebe es nicht. Mittlerweile stünden alle erforderlichen Komponenten für die Anbindung medizinischer Einrichtungen an die Telematikinfrastruktur zur Verfügung, versicherte im vergangenen Jahr Alexander Beyer, Geschäftsführer der Gematik. Aktuell würden alle Praxen und Krankenhäuser nach und nach angeschlossen.

Gematik glaubt sich im Plan

Allerdings bleibe noch viel zu tun, räumte Beyer damals ein. Man arbeite mit Hochdruck an den technischen und organisatorischen Standards für eine sichere, funktionale und praktikable elektronische Patientenakte. Hier liege die Gematik voll im Plan und werde noch 2018 ein Konzept präsentieren. Tatsächlich hat die Gematik kurz vor Weihnachten Vorgaben für die ePA veröffentlicht. Nun sei die Industrie gefragt, ihre Produkte zu entwickeln und deren Zulassung bei der Gematik zu beantragen, hieß es.

Die Telematikinfrastruktur für elektronische Gesundheitskarte und Patientenakte ist zugegebenermaßen durchaus komplex.
Foto: BRH

Insider argwöhnen indes, dass Kassen, Apotheken und Ärzten gar nicht daran gelegen sei, die Digitalisierung im hiesigen Gesundheitswesen voranzutreiben. Schließlich würden elektronische Gesundheitskarte und Patientenakte auch mehr Transparenz bedeuten. Versicherte erhielten Einblick, was Ärzte und Krankenhäuser abrechneten. Und das ist ein Milliardengeschäft. 2016 wurden hierzulande erstmals mehr als eine Milliarde Euro pro Tag für Gesundheit ausgegeben, meldete das Statistische Bundesamt vor einem Jahr. Für 2017 prognostizierten die Statistiker einen Anstieg der Kosten um 4,9 Prozent auf insgesamt 374,2 Milliarden Euro. Finanziert werden die Gesundheitsausgaben von Staat, Privathaushalten und Unternehmen.

Milliarden-Einsparungen wären möglich

Und es gibt durchaus Potenzial, die Kosten zu senken. Das Gesundheitswesen in Deutschland werfe Milliarden zum Fenster hinaus, weil es mit der Digitalisierung nur im Schneckentempo vorankomme, kritisierten im Herbst 2018 Berater von McKinsey. Bis zu 34 Milliarden Euro könnten allein 2018 eingespart werden, wenn das deutsche Gesundheitswesen digitalisiert arbeiten würde, hatte eine Studie ergeben. Der größte Hebel liege bei den Leistungserbringern, den Ärzten und Krankenhäusern also (70 Prozent), der kleinere bei den Krankenkassen und sonstigen "Akteuren des Systems".

Für 2017 bezifferte das Statistische Bundesamt die Ausgaben für das deutsche Gesundheitswesen auf 374 Milliarden Euro.
Foto: Statistisches Bundesamt

"Deutschland diskutiert, unsere Nachbarn sind schon weiter", hieß es ein wenig hämisch in der Untersuchung; in Österreich etwa begleite die elektronische Gesundheitskarte die Bürger längst von Arzt zu Arzt und auch ins Krankenhaus. In Ländern wie Schweden, Dänemark, Estland und auch Italien verschickten Ärzte elektronische Rezepte an Patienten oder direkt an die Apotheke, die dann die Medikamente ausliefere. McKinsey riet den Akteuren im hiesigen Gesundheitswesen dringend, endlich die elektronische Gesundheitsakte und das E-Rezept einzuführen.