Wer Weichspüler, Haarspray oder Geschirrspül-Tabs bei Amazon kauft, der ordert meist einzelne Packungen oder kleine Gebinde. Das hat nicht nur auf den Handel, sondern auch auf die großen Konsumgüterhersteller Auswirkungen. Früher reichte es aus, die Produkte palettenweise an die Handelsketten zu liefern, anschließend übernahmen diese die Verteilung auf die Geschäfte. Läuft der Handel aber über E-Commerce-Plattformen, müssen die Hersteller ihre Lieferketten umstellen und die Stückzahlen Internet-fähig anpassen. Wer hier nicht schnell und flexibel die Belieferung mit den richtigen Losgrößen sicherstellen kann, wird in diesem Geschäft keine Rolle spielen.
Im Handel verändert die Digitalisierung für Traditionsunternehmen wie Henkel die Arbeitsabläufe noch an weiteren Stellen. So schieben sich immer mehr Startups mit ihren Plattformen als neue Spieler zwischen Lieferanten und Endkunden. Sie stehen im direkten Austausch mit den Verbrauchern und erlangen so unmittelbar Einblick in das Kundenverhalten. Weniger groß sind die Risiken im Klebstoffbereich, wo der Hersteller überwiegend B2B-Geschäfte betreibt.
Das Marketing ändert sich
Auch die Marketing-Kanäle haben sich verändert. Vor allem jüngere Konsumenten sind über TV- oder Zeitschriftenwerbung kaum noch zu erreichen. Deshalb wandert die Werbung auf Webseiten und Social-Angebote, wo andere Gesetze gelten.
Insbesondere im Mode- und Kosmetikbereich spielen Blogger und Video-Blogger, auch Vlogger genannt, als Multiplikatoren eine wichtige Rolle. Oft sind sie richtige Stars mit Abertausenden von Fans oder Followern. Ihr Wort beeinflusst Kaufentscheidungen, weshalb Marketiers sie nicht ohne Grund als Influencer bezeichnen.
Die Henkel Digitalstrategie 2020+
Diese Entwicklungen hat das Familienunternehmen Henkel im Herbst 2016 mit einer neuen Strategie für die kommenden vier Jahre aufgegriffen. "Henkel 2020+" beinhaltet vier grundsätzliche Prioritäten: Wachstum vorantreiben, Digitalisierung beschleunigen, Agilität steigern und in Wachstum investieren. Das Pluszeichen soll zum Ausdruck bringen, dass diese strategischen Schwerpunkte auch weit über das Jahr 2020 hinaus Bedeutung haben werden.
Hinter dem strategischen Schwerpunkt "Wachstum vorantreiben" steckt der Gedanke, näher an die Kunden heranzurücken, also die Customer Journey zu verbessern. Außerdem sollen neue digitale Technologien und Services das Geschäft vorantreiben. Mit dem Aspekt "in Wachstum investieren" ist unter anderem gemeint, die globale Supply Chain weiter auszubauen, um schneller und effizienter zu werden. Auf diese Weise sollen finanzielle Mittel für weiteres Wachstum freigesetzt werden.
Organisation umgebaut
Einen ersten wichtigen organisatorischen Grundstein legte Henkel vor vier Jahren, als der Konzern seine Shared Service Centers (SSCs) mit der IT-Organisation zu der Einheit Integrated Business Solutions (IBS) zusammenlegte. "Mit der IBS-Einheit haben wir das Prozesswissen und das IT-Know-how enger zusammengebracht", begründet Joachim Jäckle den Schritt. Seit der IBS-Gründung 2013 leitet Jäckle diesen Bereich, einen dezidierten CIO-Posten gibt es seitdem nicht mehr.
Prozesse weltweit vereinheitlichen
"Wir wollten unsere Prozesse konzernweit so einheitlich machen wie möglich", fügt der gelernte Volkswirt hinzu, der seine berufliche Laufbahn bei Henkel 1991 als Controller begann und anschließend diverse Positionen im Finanzbereich bekleidete. "Dazu gehört auch, so viele Dinge wie möglich physisch in den Shared Service Centers zu bündeln." Weltweit betreibt Henkel sechs davon und beschäftigt dort insgesamt rund 3500 Mitarbeiter für den Bereich Finanzen, Business und IT.
Konzernweite Abläufe sind beispielsweise die Buchhaltungsprozesse Source-to-Pay (der Weg vom Lieferanten bis zur Zahlung) und Order-to-Cash (von der Kundenbestellung bis zum Zahlungseingang des Kunden und Verbuchung), die bereits in den SSCs gebündelt wurden. "Das sind große Massentransaktionsprozesse, die viel Potenzial für eine weitere Automatisierung bieten", erklärt Jäckle.
Robotics ist ein großes Thema
Tatsächlich ist Automatisierung ein weiterer Bestandteil der Konzernstrategie. Wo eine Systemautomatisierung sich nicht sofort umsetzen lässt, lassen sich inzwischen auch Aktivitäten an der Benutzeroberfläche automatisieren, ohne dass dafür aufwendig ins SAP-System eingegriffen werden muss. "Wenn wir diese Abläufe weiter zusammenbringen, dann können wir auch größere Prozessschritte automatisieren und vereinfachen", sagt Jäckle.
Bei Source-to-Pay und Order-to-Cash geschieht das schon im kleinen Rahmen, was nun weiter ausgebaut werden soll. Konkret hat Henkel beispielsweise im Bereich Order-to-Cash das Abgleichen und Korrigieren von Daten zwischen unterschiedlichen Applikationen bis hin zur Freigabe der Buchungen anhand festgelegter Regeln automatisiert. Das erfordert allerdings zunächst einmal viel Erfahrung und Fachwissen. Jäckle: "Diese Projekte laufen bei uns unter dem Stichwort Robotics, das ist ein großes Thema."
Supply Chain global vereinheitlicht
Je mehr Abläufe unternehmensweit vereinheitlicht und automatisiert werden, desto schneller kann Henkel am Markt agieren. Daher begann das Unternehmen 2015 mit der Einführung einer globalen Supply-Chain-Organisation. Unter der Bezeichnung "One!GSC Horizon" (One Global Supply Chain) konsolidierte Henkel die weltweiten SAP-Systeme und vereinheitlichte die Supply-Chain-Prozesse über alle drei Geschäftsbereiche hinweg. "Wir haben jetzt ein einheitliches SAP-Template für die Supply-Chain-Prozesse", bilanziert Jäckle.
Ohne die Konsolidierung von Prozess- und IT-Verantwortung in der IBS wäre diese Standardisierung kaum möglich gewesen. Sie hat dazu geführt, dass sich alle Einheiten ständig austauschen und in gemeinsamen Gremien ihre Entscheidungen treffen. Saßen bislang die SCM-Steuerungseinheiten getrennt in ihren Geschäftsbereichen und kommunizierten wenig miteinander, so lenken sie heute die Supply Chain gemeinsam von zwei Hubs in Amsterdam und Singapur aus.
In Europa läuft One!GSC mittlerweile, noch in diesem Jahr soll Nordamerika auf die Plattform migrieren. Erste Ergebnisse überzeugen: So konnte die Lagerhaltung effizienter gestaltet und die Einhaltung der SLAs gegenüber den Kunden deutlich verbessert werden.
Die grundsätzlichen Anforderungen an eine Supply Chain ändern sich durch die Digitalisierung allerdings erst einmal nicht: Es geht darum, die richtigen Waren in optimaler Qualität zum passenden Zeitpunkt in der vereinbarten Menge zum Kunden zu bringen. Wenn Lager und Regale beim Händler leer stehen, bedeutet das auch für den Lieferanten erheblichen Schaden.
Neue Anforderungen an die Lieferkette
Der boomende E-Commerce stellt weitere Herausforderungen an die Lieferkette: So werden die Liefereinheiten kleiner, und die Geschwindigkeit, in der geliefert werden soll, erhöht sich. Der Handel entwickelt sich immer stärker zu einem Realtime-Business, in dem der Kunde durch seine Bestellungen über Online-Plattformen die Lieferkette bis hin zur Produktion bestimmt. Deshalb sind schnelle, agile Prozesse gefragt, die am ehesten eine einheitliche Supply Chain liefern kann. "Heute arbeiten wir alle mit einer Methode, einem Template und einem Prozess. Darauf lassen sich weitere Automatisierungen aufsetzen", berichtet Jäckle.
Die Customer Journey begleiten
Um schneller liefern zu können, wäre es wichtig, möglichst früh viel über die Bedürfnisse und das Kaufverhalten der Endkunden zu erfahren. Doch anders als ein Auto- oder Hausgerätehersteller kann Henkel keine Chips oder Sensoren in Shampoo oder Waschmittel integrieren, um so Signale über Zustand und Verwendung einzufangen. Eine Möglichkeit könnte darin bestehen, mit Herstellern von Badezimmermöbeln zusammenzuarbeiten. Beispielsweise gibt es erste Spiegelschränke, die mit Hilfe eingebauter Sensoren erkennen, welche Produkte der Kunde mit welchem Füllstand bevorratet.
Wollte Henkel diesen Weg gehen, müssten Verträge mit den Möbelproduzenten und auch mit den Kunden her, die entsprechende Produkte kaufen sollen. Das Ganze ist noch unausgereift. "Dafür existieren noch keine Routinen und technischen Standards", sagt Jäckle. "Es gibt bisher nur Einzellösungen."
An einer solchen Einzellösung arbeitet Henkel zum Beispiel im Zusammenhang mit Waschmaschinen: Endkunden können beispielsweise über Buttons, die an der Maschine angebracht sind, auf Knopfdruck Waschmittel nachbestellen, der Online-Händler liefert. Hier stellt sich dann wieder die Herausforderung, dass die Produktmengen sehr kleinteilig werden.
Auch gibt es wenig Sinn, Endkunden verschiedene Buttons für Waschmittel und Entkalker anzubieten. Hier kommen produktunabhängige Startups ins Spiel, die digitale Einkaufslisten anbieten und Konsumenten am Ende komplette Einkaufskörbe nach Hause liefern. So kompliziert sich digitale Einzelbestellungen auch gestalten mögen, so klar ist, dass die Kunden solche oder ähnliche Services wünschen. Henkel hat sich deshalb in seiner Strategie 2020+ vorgenommen, vom Produkt- zum Serviceanbieter zu mutieren und Gesamtlösungen anzubieten.
IoT-Software für Automatisierung
Auf eine ganz andere Reise mit schon konkreten Resultaten hat sich Henkel mit seiner Dragon Plant in Shanghai begeben. Ende 2013 eröffnete der Konzern auf einem 15.000 Quadratmeter großen Gelände die weltweit größte Klebstofffabrik, in der jährlich bis zu 428.000 Tonnen Klebstoffe produziert werden können. Henkel produziert unter anderem industrielle Kleber etwa für die Auto- oder die Chipindustrie.
In allen Maschinen und im Manufacturing Execution System (MES) stecken Sensoren, die beispielsweise Temperaturen messen oder den Durchfluss von Flüssigkeiten und Klebstoffen durch verschiedene Leitungen. Früher erfolgten solche Messungen nur in Stichproben durch die Qualitätsabteilungen. Heute ermöglichen die Sensoren eine kontinuierliche Überwachung. "An manchen Stellen erheben wir 200 Daten pro Sekunde pro Maschine", erläutert Jäckle.
Die Daten aus den Produktionsprozessen sammelt die IoT-Software (Internet of Things) eines indischen Startups. "Mit diesen gewaltigen Datenmengen können wir Analysen fahren, die in der Vergangenheit nicht möglich waren", so Jäckle. So lasse sich früh erkennen, ob ein Produkt erfolgreich hergestellt werden kann oder ob schon am Anfang eines Herstellungsvorgangs die Konsistenz eines Rohstoffs nicht in Ordnung sei. Auch Predictive-Maintenance-Anwendungen laufen in einzelnen Bereichen.
Die exakte Messung möglichst aller Produktionsparameter führt dazu, dass der Ausschuss sinkt. Die Mitarbeiter müssen weniger nacharbeiten und produzieren effizienter. Durch die Automatisierung sind viele Produktionsanlagen mit Steuerungskonsolen ausgestattet worden. Die Dragon Plant kommt im Vergleich zu anderen Standorten mit weniger Personal aus. Jäckle: "Die Produktivität ist deutlich höher als in herkömmlichen Fabriken."
Jäckle sitzt jetzt im Open Space
Um schneller und agiler zu werden, müssen sich auch die Arbeitsweisen ändern und mit ihnen die Organisation. Jäckle legt Wert auf ein homogenes Team und hält nichts von der oft propagierten IT der zwei Geschwindigkeiten. Umso mehr kann er modernen Workplace-Konzepten abgewinnen: So hat die IBS gerade eine Open-Space-Umgebung ohne trennende Wände eingeführt, die die Zusammenarbeit im eigenen Bereich intensiviert. "Ich habe kein eigenes Büro mehr" sagt Jäckle, und räumt ein, dass dies auf seiner Führungsebene ziemlich einzigartig sei.
Die Mitarbeiter nutzen Skype for Business und Office 365 aus der Cloud, Festnetztelefone wurden abgeschafft. Außerdem lernen in der IBS nach und nach alle IT-Mitarbeiter agile Projekt-Management-Methoden und werden mit Design Thinking vertraut gemacht.
Gemeinsam arbeiten Fachbereiche und IT in Projekten mit dem innovativen Problemlösungsansatz, so dass überall im Konzern "Inseln" entstehen, von denen aus sich agile Arbeitsweisen langsam, aber sicher flächendeckend im Konzern ausbreiten sollen.
Smart Simplicity
Zu mehr Agilität soll auch der Punkt "Smart Simplicity" in der Strategie 2020+ verhelfen. Über die Zeit haben sich im Konzern zwangsläufig auch komplexe Abläufe eingeschliffen. Deswegen wird bei neuen Projekten jetzt immer gezielt nachgefragt, ob alle Genehmigungen, Berichtswege und Reportings wirklich sinnvoll und notwendig sind.
Künftige zentrale Themen
Den digitalen Kulturwandel hält Jäckle für eines der beherrschenden Themen in den kommenden Jahren. Daneben zählen zu den zentralen Vorhaben viele Projekte in den Bereichen Supply Chain, IoT und Analytics. Was sich hier als der jeweils richtige Weg erweisen wird, kann heute niemand mit Gewissheit sagen, darüber ist sich der IBS-Chef im Klaren: "Die strategisch größte Herausforderung ist, sich möglichst viele Optionen offenzuhalten und sich nicht zu früh auf einzelne Vorgehensweisen festzulegen."