IT verbessert Prozesse kaum

Die Grenzen der IT-Industrialisierung

18.08.2009 von Hartmut  Wiehr
Die IT kann im Healthcare-Bereich nicht ihren Anspruch einlösen, die Geschäftsprozesse umfassend zu verbessern. Die Vorschläge der Industrie zur Steigerung der Qualität und Senkung der Kosten taugen nur bedingt. Nur punktuell kann IT medizinische Leistungsprozesse unterstützen, so die Buchautoren der Universität Erlangen-Nürnberg.

Von Johann Walter und Harald Mang (*)

1. Zur Ausgangslage


Jeder Staat versucht, die Ausgaben für Gesundheit in einem erträglichen Maß zu halten und auf einen bestimmten Anteil des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu begrenzen. In Deutschland betrug der Anteil der Gesundheitsausgaben bezogen auf das BIP 10,9 Prozent im Jahr 2005, wie die OECD in den "Gesundheitsdaten 2007“ mitteilt. Um die Ausgaben in den Krankenhäusern zu dämpfen, werden die Leistungen in Deutschland nach Diagnostic Related Groups (DRGs) abgerechnet, eingeführt im Jahr 2004. Die DRGs haben den erwünschten Effekt erzielt: Die Zahl der Krankenhäuser und die Liegezeiten in den Krankenhäusern gehen zurück. Die Zahl der Krankenhausbetten hat sich von 665.000 im Jahr 1991 auf 524.000 im Jahr 2005 verringert, und die durchschnittliche Verweildauer im Krankenhaus ist von 14 Tagen 1991 auf 8,6 Tage 2005 zurückgegangen.

Das DRG-System und der Einsatz von IT haben die Wirtschaftlichkeit der Krankenhäuser erhöht.

Durch die Fallpauschalen und DRGs hat sich das Kostenbewusstsein verändert, die Bereitschaft, Strukturen und Prozesse zu optimieren, ist deutlich gestiegen. Die Auswertung des Fragenkatalogs des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) vom 23. März 2007 fasst die bisherigen Erfahrungen zur Wirtschaftlichkeit so zusammen:

"Es überwiegt eindeutig die Haltung, dass das DRG-System die Wirtschaftlichkeit der Versorgung im Krankenhausbereich erhöht hat. Neben der Benennung einzelner Maßnahmen wird u. a. auf einen davon ausgehenden "Zwang zur Prozessoptimierung“ verwiesen. Aus Sicht der Patientinnen und Patienten ist jedoch ein besonderer Fokus darauf zu legen, dass der ökonomische Druck sich nicht qualitätsmindernd auswirkt, indem z. B. an qualifiziertem Personal insbesondere im pflegerischen Bereich gespart wird.“ (BMG)

Kritisch werden vor allem die Komplexität der Abrechnung nach DRGs und der damit verbundene Verwaltungsaufwand gesehen. Laut der erwähnten Umfrage haben sich auch die Strukturen und Prozesse verändert:

"Es kann festgehalten werden, dass in den Krankenhäusern eindeutig vielfach Struktur- und Prozessänderungen vorgenommen wurden (z. B. Umsetzung des Zentrums-Prinzips, Einführung von Aufnahme-, Verlegungs- und Entlassmanagement, Etablierung von klinischen Behandlungspfaden). Zwischen den Krankenhäusern ist eine Tendenz zu vermehrten Fusionen, Kooperationen und Spezialisierungen erkennbar.“ (BMG)

Die Krankenhäuser unterliegen weiterhin einem großen Rationalisierungsdruck, zusätzlich hervorgerufen in den letzten Jahren durch die Mehrwertsteuererhöhung, den Anstieg der Löhne und Gehälter und die Arbeitszeitregelung für Ärzte. Um diesen permanenten Kostenanstieg auszugleichen, müssen die Kliniken ihre Produktivität um ca. zwanzig Prozent steigern. Trotz des Rationalisierungsdrucks sollen die Patienten aber gute medizinische Leistungen und angemessene Pflege erhalten.

Viele Rationalisierungsmaßnahmen betreffen die peripheren Prozesse und Funktionen: So bilden zum Beispiel die fünf städtischen Kliniken in München inzwischen ein zentrales Lager, um die Stationen mit Standardartikeln zu versorgen. Labor, Apotheke, Patiententransport und Pathologie arbeiten als interne Dienstleister für alle Kliniken im Verbund. Auf diese Art optimieren die unterstützenden Abteilungen ihre Prozesse.

Vor allem in den Bereichen Auftrag und Diverse Objekte kann die IT die Krankenhausprozesse beschleunigen.

Vielfach wird die Informationstechnik (IT) herangezogen, um beispielsweise die Belegung der Betten zu planen oder die Auslastung der Operationssäle zu optimieren. Die Abrechnung der Leistungen nach DRG ist ohne IT-Applikationen nicht möglich. Die Kliniken sind außerdem verpflichtet, den Krankenkassen regelmäßig die Daten über Patienten, Krankheiten und Behandlungen zu übermitteln (festgelegt im Sozialgesetzbuch SGB V, § 301).

Die Krankheit des Patienten wird heute nach der International Classification of Deseases (ICD) kodiert, die Therapie ist im Operationen- und Prozeduren-Schlüssel (OPS) festgelegt. Aus ICD und OPS folgt die relevante DRG nach der deutschen Kodierrichtlinie (DKR), entsprechend der Fallpauschalenvereinbarung (FPV) wird das Entgelt eines klinischen Falls berechnet. Die Klinik kann anhand des Entgelts und der entstandenen Kosten den Gewinn oder Verlust eines Falls berechnen. Während der Behandlung werden über Datenträgeraustausch (DTA) den Krankenversicherungen die Daten übermittelt, anhand derer die Krankenversicherung nach der Entlassung das Entgelt berechnet und an die Klinik bezahlt. In vielen Fällen kann die Klinik heute aber nicht sagen, ob der eine oder andere Fall Gewinn oder Verlust eingebracht hat, da die IT-Unterstützung noch nicht allgemein durchgesetzt ist. Nicht alle Krankenhäuser haben darüber hinaus eine Kostenträgerrechnung.

"Einen 100-prozentigen Volltreffer landet man mit keinem KIS ..."

Trotz der Notwendigkeit, IT-Systeme zur Prozessunterstützung einzusetzen, stehen viele Kliniken der IT häufig noch kritisch gegenüber. Dies zeigt sich zum Beispiel darin, wie Björn Bergh, CIO des Uniklinikums Heidelberg, die relativ weit verbreiteten Krankenhausinformationssystems (KIS) beurteilt:
"Einen 100-prozentigen Volltreffer landet man mit keinem KIS, wobei es speziell für Unikliniken mit ihrer hohen Differenzierung problematisch ist. Erstaunlich finde ich aber die Priorisierung der KIS-Hersteller. Einerseits gibt es immer noch Defizite bei den Basisfunktionen, die wirklich jeder braucht und mit denen die meisten Häuser auch noch kämpfen, wie etwa Arztbriefschreibung, OP und Terminverwaltung. Andererseits werden Spezialfunktionen angeboten, die letztlich nur wenige pilotieren und kaum einer in der Fläche einsetzt.“ (in: CIO, Oktober 2007)

Die Hersteller der IT-Applikationen beklagen andererseits das Fehlen von Standards, um Standard-Software entwickeln zu können. Deshalb entstehen aus der Zusammenarbeit von Kliniken und IT-Herstellern oft individuelle Lösungen. So entwickelt das Uniklinikum Heidelberg eine Portallösung, um die Kollaboration zwischen niedergelassenen Ärzten und Kliniken zu verbessern, insbesondere um Überweisungen, Einweisungen und Mitbehandlung elektronisch zu unterstützen.

In diesen individuellen IT-Lösungen werden von vielen IT-Verantwortlichen auch Gefahren gesehen – die Kliniken werden zu Testern einer Beta-Version. Healthcare-IT gerät so in die Gefahr, für die Kliniken zu einer Last statt zu einer Hilfe zu werden. So kommt Richard Lenz vom Lehrstuhl für Datenbanksysteme der Friedrich-Alexander-Universität (FAU) Erlangen-Nürnberg in einer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass zwischen dem erkannten Potential der IT und der tatsächlichen Nutzung häufig eine gravierende Diskrepanz besteht.

2. Das falsche Vorbild Industrie

Die Kliniken werden immer wieder aufgefordert, ihre Prozesse so zu verbessern, wie die Industrie es bereits getan hat. Die Beratungsunternehmen Porsche und McKinsey haben die Abteilung Herz- und Gefäßchirurgie des Universitätsklinikums Freiburg im Jahr 2005 beraten, um die Abläufe zu optimieren. Die „Rezepte“ aus dem industriellen Bereich sind jedoch nur eingeschränkt tauglich: Ein Kanban-System mit Konsignationslager hat in einem Unternehmen wie Porsche mit achtzig und mehr Prozent Materialanteil eine ganz andere Wirkung als in einer Klinik. In einer Klinik sind der größte Kostenblock die Personalausgaben, der Materialanteil ist vergleichsweise gering. Die Industrie kann eine leistungsfähige IT installieren, um den Materialfluss zu optimieren und die Einsparungen rechtfertigen eine teure IT-Applikation. Gleiches ist in einer Klinik nicht möglich.

So ist zwar im Fall einer Hüftoperation der Materialanteil an den Gesamtkosten vergleichsweise hoch mit 21 Prozent für die Hüftprothese, doch das kann nicht verallgemeinert werden. Im Falle einer komplizierten Operation an Kopf oder Hals nach DRG D02A beträgt der Materialanteil dagegen nur 1 Prozent, zusammen mit den Arzneien 6 Prozent. Die Personalkosten betragen jedoch 69 Prozent im Falle dieser komplizierten Rekonstruktion am Kopf, zusammen für ärztlichen Dienst, Pflegedienst und medizinisch-technischen Dienst. Der Kostenanteil der nicht-medizinischen Infrastruktur beträgt 20 Prozent, ähnlich wie im vorher aufgeführten Fall.

Kostenverteilung am Beispiel eines klinischen Falls (komplexe Resektion mit Rekonstruktion an Kopf und Hals): Die Personalkosten machen zwei Drittel aus.

Das medizinische Wissen hat heute nach Angaben der Cochrane Collaboration eine Halbwertszeit von ca. fünf Jahren. Die Behandlungsmethoden selbst werden immer besser und schonen den Patienten immer mehr, die Zahl von Herzoperationen ging zum Beispiel durch interventionelle Kardiologie deutlich zurück. Die Prozesse der medizinischen Leistungen selbst verbessern sich weiter, und die Ergebnisse werden in Leitlinien festgehalten. Diese Leitlinien werden regelmäßig überarbeitet, koordiniert durch die Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF).

Die Leitlinien werden anschließend in klinische Pfade umgesetzt, also in krankenhausinterne Leitlinien, die durch IT-Applikationen unterstützt werden. "Die Umsetzung klinischer Pfade ist ein Lernprozess für alle Beteiligten, der durch den sorgfältigen Einsatz der Informationstechnologie unterstützt werden kann“, berichtet Richard Lenz über seine Erfahrungen in der Implementierung klinischer Pfade am Uniklinikum Marburg.

Die Geschäftsprozesse einer Klinik sind von denen in der Industrie sehr verschieden. Automatisierungsmodelle der Industrie sind deshalb kaum übertragbar.

Klinische Pfade in einer Klinik entsprechen Arbeitsanweisungen, die jedes Qualitätsmanagementsystem verlangt. Die Abrechnung nach DRG erzwingt minimalen Ressourceneinsatz und kurze Verweilzeit eines Patienten im Krankenhaus. Beide Aspekte lassen sich durch standardisierte Abläufe verbessern, also durch Prozesse. Diesem Zweck dienen auch die klinischen Pfade, die für bestimmte Diagnosen angewendet werden, und nach diesen Pfaden wird der Patient im Krankenhaus behandelt – von der Aufnahme bis zur Entlassung. Immer begleitet und abgesichert durch IT.

Kliniken installieren Case Manager

Verbunden mit den klinischen Pfaden installieren Kliniken heute sogenannte Case Manager. So macht das Universitätsklinikum Regensburg gute Erfahrungen mit den Case Managern, die meist Pflegedienstleiter/-in sind. Die Ärzte schätzen den Zeitgewinn durch gute Organisation von Terminen, Visiten, Betten, Diagnosen und Informationen über den Patienten einschließlich der Verwaltung des Patienten bis hin zur Entlassungsprozedur.

Die Qualität der medizinischen Leistung ist nicht nur ein Kostenfaktor, sondern auch ein wichtiger Beitrag zur Patientenzufriedenheit. Allerdings spielen Qualitätsaspekte in der täglichen Praxis nur eine geringe Rolle in der Auswahl eines Krankenhauses: Die Erreichbarkeit durch Angehörige und Verwandte entscheidet über die Wahl des Krankenhauses, kleine Krankenhäuser gelten als „familiär“ gegenüber „anonymen“ Universitätskliniken. Um hier die Qualität zu fördern, wird der Aufbau eines Qualitätsmanagementsystems gefordert. Dieses QM-System wird zum Beispiel nach KTQ (Kooperation für Transparenz und Qualität im Gesundheitswesen) oder nach ISO 9001 zertifiziert.

3. Konsequenzen für den IT-Alltag in den Krankenhäusern


Die Einführung der Abrechnung nach DRGs hat die Wirtschaftlichkeit einer Klinik in den Vordergrund gerückt. Vor allem in den unterstützenden Prozessen, von der Material- und Arzneimittelversorgung bis zum Patiententransport, sind viele Aufgaben zentralisiert. Sie sind nicht nur für die verschiedenen Abteilungen und Institute eines Krankenhauses zusammengefasst, sondern oft für viele Kliniken beispielsweise einer Stadt.

Die "Rezepte“ der Industrie zur Steigerung der Qualität und Senkung der Kosten taugen nur bedingt: Der Materialanteil in Kliniken ist sehr viel kleiner als beispielsweise in einer Fabrik, die Automobile herstellt, die Dienstleistungen der Ärzte und der Pflege bilden den größten Kostenblock, je nach Fall die Hälfte bis zwei Drittel der Ausgaben. Die Industrie kann die Lohnkostensteigerung zum Teil auffangen durch Automatisierung und durch Verlagern lohnintensiver Tätigkeiten in Billiglohnländer. Standardisierbare Dienstleistungen in Callcentern beispielsweise werden durch IT automatisiert und verlagert in Länder mit billigeren Löhnen. Die Tätigkeiten in einem Krankenhaus sind praktisch nicht automatisierbar, selbst wenn in Japan immer mehr Roboter zur Altenbetreuung eingesetzt werden.

Die in der Industrie seit vielen Jahren etablierten und zertifizierten Qualitätsmanagement-Systeme sind dort ein integraler Bestandteil des täglichen Geschehens. Sie helfen dabei, niedrige Fehlerquoten der Produkte zu erzielen. In vielen Branchen sind jedoch die Anforderungen der ISO 9001 bezüglich der Qualitätsmanagement -Systeme durch zusätzliche Forderungen ergänzt, so in der Automobilindustrie durch die ISO/TS 16949:2002, bei Medizinprodukten durch die ISO 13485 und durch die Medical Device Directive (MDD), oder in der Flugzeugturbinenherstellung durch die Lieferantenzulassung des Luftfahrtbundesamtes.

In allen wirtschaftlichen Bereichen, in denen hohe Sicherheit notwendig ist, gelten verschärfte Regeln, entweder getrieben durch den Markt oder veranlasst durch den Gesetzgeber aus Sorge um das Wohl der Bevölkerung. Die Nutzung eines Exzellenzmodells allein reicht mithin nicht aus, um Qualität und Sicherheit umfassend zu verbessern. Das Modell der European Foundation for Quality Management (EFQM) eignet sich besonders für Unternehmen und Organisationen, die bereits auf dem Weg zur Exzellenz sind und die bereits Ansätze zur ständigen Verbesserung als Bestandteil des Geschäftslebens implementiert haben.

In Deutschland wird das Qualitätsmanagement-System einer Klinik häufig nach KTQ (Kooperation für Transparenz und Qualität im Gesundheitswesen) zertifiziert – eine Sache, die nicht weh tut und auch wenig bringt nach Meinung von Insidern. Eine internationale Variante ist eine Zertifizierung des Qualitätsmanagement-Systems nach ISO 9001, vor allem mit der Ergänzung TS 15224: "Health Services - Quality Management Systems - Guide for the use of EN ISO 9001:2000“. Viele orthopädische Kliniken zum Beispiel lassen ihr Qualitätsmanagement-System nach ISO 9001 zertifizieren.

Insgesamt kommt man nicht um die Tatsache herum: Die IT kann im Healthcare-Bereich nicht ihren Anspruch einlösen, die Geschäftsprozesse umfassend zu verbessern. IT-Systeme verbessern zwar einzelne Abläufe oder periphere Prozesse, beispielsweise die Abrechnung oder die Lagerverwaltung. Die medizinischen Leistungsprozesse der Diagnose und Therapie lassen sich jedoch nur selektiv unterstützen. Am weitesten fortgeschritten ist die IT-Unterstützung noch bei einzelnen Funktionen, beispielsweise der Radiologie, der Labordiagnostik oder in der Anästhesie.

Die Datenmengen, die die IT zu bewältigen hat, nehmen andererseits ständig zu. Insofern kann die IT auch als die Achillesferse im klinischen Ablauf betrachtet werden. Ihre im Alltag der Kliniken noch festzustellende geringe Akzeptanz hängt u.a. mit der schlechten Benutzerfreundlichkeit (Usability) zusammen. Ein großes Hindernis in der Einführung von IT-Systemen ist die notwendige und unumgängliche Änderung der Abläufe in den Krankenhäusern. Ohne diese Änderung lohnt sich der Einsatz der IT nicht. Und ohne solche Veränderungen werden die Mitarbeiter in den Krankenhäusern der IT weiterhin kritisch und ablehnend gegenüberstehen.

Teil II lesen Sie demnächst auf cio.de. Der Artikel befasst sich mit den Konsequenzen der Prozessoptimierung für die Healthcare-IT

(*) Johann Walter ist Lehrbeauftragter der Medizinischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg im Master-Studiengang "Medical Process Management“ und Autor des Buches "Geschäftsprozessmanagement umsetzen“ (Hanser, 2009).

Harald Mang ist Professor für Anästhesiologie an der Universität Erlangen-Nürnberg.