Die digitale Transformation hat in vielen Unternehmen an den Grundfesten der Geschäftsmodelle gerüttelt. Im Zuge dessen fordern Märkte und insbesondere auch Kunden mit einer nie dagewesenen Geschwindigkeit Veränderungen von Produkten und Services. Gerade in den etablierten Geschäftsmodellen von Versicherungen kam diese Entwicklung einer Revolution gleich. Über Jahrzehnte hinweg bildeten erprobte Konzepte ein solides Fundament und stabiles Rückgrat. Dem Anspruch an zunehmende Geschwindigkeit konnte damit jedoch nicht Rechnung getragen werden.
Die großen amerikanischen Tech-Unternehmen und Startups machten vor, dass es auch anders geht. Sie setzen auf Agilität (lateinisch "agilis" für flink oder beweglich) als Schlüssel für Geschwindigkeit, Erfolg und Zukunftsfähigkeit ihres Geschäfts. Interdisziplinarität, Austausch, Lernen aus Fehlern und Transparenz sind nur einige Beispiele aus dem agilen Werkzeugkoffer. Der Erfolg dieser Firmen brachte eine Lawine ins Rollen. Mittlerweile nutzen viele etablierte Unternehmen Agilität, um Veränderungen im Markt und im Kundenverhalten möglichst schnell wahrzunehmen und mit hoher Geschwindigkeit und flexibel darauf zu reagieren.
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Kein Wunder also, dass Agilität auch bei uns an Popularität gewann. So hat in vielen Unternehmen, gerade auch in der Versicherungsbranche, neben einer digitalen auch eine agile Transformation stattgefunden. War "agil" vor 20 Jahren allenfalls etwas für IT-Nerds in der Software-Industrie, ist Agilität mittlerweile auf viele Unternehmen und Branchen übergeschwappt. Grundlegende Veränderungen des Betriebsmodells sowie neue Interaktionsmodelle zwischen Geschäft und IT sind die Folge.
Die agile Transformation verändert damit auch die Rolle des CIOs in der Versicherungsbranche. Hatte ein CIO früher mehr oder weniger als "Dienstleister" die Versicherung kosteneffizient mit IT zu versorgen, treibt er heute als Changemanager strategische Veränderungsprozesse voran und bewegt sich als "Business-Partner" auf Augenhöhe mit dem Geschäft. Der CIO spielt damit eine entscheidende Rolle bei der Neudefinition der IT-Architektur, der Leistung agiler Teams und der Entwicklung agiler Fähigkeiten zur Erfüllung strategischer Ziele. Dies alles vor dem Hintergrund der Sicherstellung eines stabilen Geschäftsbetriebs.
Gerade für die Versicherungsbranche ist deshalb ein ganzheitlicher Blick unter Würdigung des bisher Erreichten und Erzielten erforderlich. Grundsätze wie Schnelligkeit und Flexibilität der Veränderung gehen deshalb weit über die bloße Einführung agiler Methoden wie Scrum für die IT-Entwicklung hinaus.
Aus der Gemengelage jahrzehntelang gewachsener Kulturen, Strukturen und Prozesse einer Versicherung sowie der erforderlichen Zeit (und des Budgets) zur Modernisierung der alten IT-Systeme resultieren ganz unterschiedliche Facetten agiler Ausprägung. Dies führt auf Jahre hinaus unweigerlich zu hybriden Lösungen mit einer Balance aus Stabilität und Agilität, in der die klassische und die agile Welt gleichberechtigt nebeneinander existieren. Ich wette deshalb, dass es auch in fünf Jahren keinen agilen "Sweet Spot" für Unternehmen geben wird!
Alles ist bereits ein wenig agil!
Der Ursprung der agilen Bewegung ist das agile Manifest aus dem Jahr 2001. Durch die kontinuierliche technische Weiterentwicklung der IT und die daraus resultierenden Möglichkeiten haben IT-Vorhaben zu jener Zeit einen Umfang und eine Komplexität erreicht, denen mit reiner Planwirtschaft nicht mehr beizukommen war. Als Alternative wurde der agile Ansatz vorgeschlagen und in vier Prinzipien manifestiert:
1. Individuen und Interaktionen sind wichtiger als Prozesse und Tools.
Der Fokus auf die beteiligten Menschen und die Interaktion hilft sowohl bei der Lösung von Problemen als auch bei der Beherrschung und Bewältigung der Komplexität. Diese Fähigkeit lässt sich - trotz Fortschritten in der künstlichen Intelligenz - nur bedingt in Prozessen oder Tools kodifizieren.
2. Funktionierende Software ist wichtiger als ausführliche Dokumentation.
Die beiden Schlüsselwörter sind "funktionierende Software". Je eher einem Kunden funktionsfähige Software geliefert wird, die ihm hilft, sein spezifisches Problem zu lösen, desto früher kann er Feedback geben. Eine frühere Bereitstellung bedeutet dabei auch eine frühere Nutzenrealisierung für das Geschäft.
3. Zusammenarbeit mit dem Kunden ist wichtiger als Vertragsverhandlungen.
Vertragsverhandlungen setzen vor Beginn der Arbeit einen Endpunkt. Dies suggeriert, dass die Arbeit abgeschlossen ist, bevor sie eigentlich beginnt. Weiter wird impliziert, dass die Rolle des Kunden mit dieser Vereinbarung und dem Vertrag endet und dass er seine Meinung danach nicht mehr ändern darf.
4. Reagieren auf Veränderungen ist wichtiger als Planbefolgung.
Agilität und Veränderung gehen Hand in Hand und sind fast synonym zu verwenden. Bei eher klassischen Ansätzen wird durch vorherige Spezifikation versucht, Veränderungen zu verhindern oder zumindest zu kontrollieren. Dies gilt insbesondere für das Projektmanagement, wo es entscheidend ist, vorhersehbare Ergebnisse zu erzielen.
Diese Prinzipien bildeten den Nukleus für die agile Transformation. Interessanterweise war im Jahr 2001 wirklich noch keinem klar, welche wirtschaftliche Bedeutung dem Thema einmal zukommen würde.
Agil als "Silver Bullet"?
Heute gibt es in den meisten Unternehmen irgendwo eine agile Enklave, in der nicht nur agile Prozesse zum Einsatz kommen, sondern, angefangen bei Kultur und Werten, auch agile Führungsinstrumente genutzt werden. Mittlerweile finden sich auch vermehrt Anpassungen entsprechender Organisationsstrukturen. Allein diese Betrachtung zeigt, dass es viele Varianten und Einflussfaktoren gibt. Daraus leitet sich ab, dass auch in fünf Jahren Unternehmen nicht im agilen Gleichlauf funktionieren werden.
Hand aufs Herz: Aus dem Anspruch heraus, agiler zu sein, stellt sich für den CIO die Frage nach dem Nutzen oder der Nutzengenerierung. Agilität hat keinen Alleinstellungsanspruch. Trotz des Hypes rund um Agilität ist es sicher nicht zielführend, allen möglichen Themen den Deckmantel der Agilität überzustülpen.
Der CIO muss deshalb das für die jeweilige Herausforderung passende Setting entlang unterschiedlicher Zieldimensionen (Kosten, Stabilität und Geschwindigkeit) festlegen.
Ein klassisches Strukturierungskriterium in der IT ist die Unterscheidung von IT-Entwicklung und IT-Betrieb. Beim IT-Betrieb im Sinne von CPU-Ressourcen, Speicher- und Datenmanagement, Netzwerk oder Arbeitsplatzausstattung sind Kriterien wie Stabilität und Kosteneffizienz meist wichtiger als Geschwindigkeit. Im Umfeld des IT-Betriebs eignet sich deshalb der agile Ansatz primär für die Erprobung von neuen Betriebstechnologien.
Das Einsatzfeld von Agilität findet sich deshalb eher auf der Entwicklungsseite wieder - dort ist es schließlich auch entstanden. Themen mit hoher Innovationskraft respektive hohem Interaktionsbedarf mit Kunden sind für agile Ansätze prädestiniert. Neue digitale Produkte, neue Vertriebswege, neu fragmentierte Geschäftsprozesse oder neue Formen der Kooperation mit Partnern sind hierfür gute Beispiele in der Versicherungsbranche. Alle eint der Anspruch, schnell auf sich verändernde Anforderungen reagieren zu können. Genau in diesen Fällen ergibt es Sinn, mit einem interdisziplinären Team in kurzen Zyklen zu sprinten und ein MVP nach dem anderen zu entwickeln und in den Betrieb zu bringen, um das Kundenerlebnis permanent zu verbessern und zu optimieren.
Hybrides Vorgehen ist die Regel
Gerade in der Versicherungsbranche gibt es allerdings auf der Entwicklungsseite auch eine Vielzahl an Themen, für die der Einsatz von Agilität zumindest kritisch zu reflektieren ist: Projekte im Umfeld historisch gewachsener Systemlandschaften (Mainframe Legacy), typische Migrationsprojekte oder Projekte mit hohem repetitivem Charakter (wie zum Beispiel in der Versicherungswirtschaft die jährlichen Tarifanpassungen). Dies sind nur einige Beispiele, bei denen a priori klar ist, was zu tun ist und wie es zu tun ist. Aktuell binden diese Themen noch signifikante Anteile an Ressourcen und Budgets. Anstelle rein agiler Ansätze kommen hier oft hybridere Vorgehen ("Best of all Worlds") zum Einsatz, die "Stabilität" gewährleisten.
Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Herausforderungen ist Agilität für einen CIO deshalb auch keine "Silver Bullet". Viele meinen und proklamieren das allerdings aufgrund von gefährlichem Halbwissen. Oft bleiben nur die Versprechungen im Sinne schnellerer Lieferzyklen bei höherer Qualität hängen. Es wird dann schnell vergessen, über die Erfordernisse vom Problem kommend den passenden Lösungsansatz zu finden. Oder darüber nachzudenken, dass das agile Setting keine Generalabsolution für unstrukturiertes und undiszipliniertes Vorgehen sein kann.
Stabilität und Agilität ausbalancieren
In den jetzigen Zeiten, mit den Nachwirkungen der Coronapandemie und den diversen internationalen Krisen, steht gerade die IT-Industrie vor weiter wachsenden Herausforderungen. Im Hinblick darauf ist es keine Frage, dass die IT in Summe flexibler und dynamischer werden muss. Dies hört nicht an der Tür zur IT-Organisation auf. Die agile Transformation wird in Unternehmen weitere Fortschritte machen und der Verbreitungsgrad weiter zunehmen. Der Lösungsweg erfordert jedoch eine Symbiose aus klassischem und agilem Management.
Vier Erfolgsfaktoren sind aus meiner Sicht für eine erfolgreiche Weichenstellung anzupacken: Portfolio, Architektur, Prozesse und Organisation. Warum sind gerade diese wichtig?
1. Portfoliomanagement schafft die erforderliche übergreifende Transparenz und stellt sicher, dass genau an den Themen gearbeitet wird, die zum jeweiligen Zeitpunkt den größten strategischen Nutzen erzielen. Neben der Planung und Steuerung von klassischen und hybriden Themen unterstützt das Portfoliomanagement auch bei der Skalierung des agilen Ansatzes.
2. Architektur muss auf technologischer Ebene das Zusammenspiel von Legacy und moderner Welt über Jahre hinweg ausbalancieren. Zum Kunden hin sind dabei moderne Frontends zu entwickeln. Die architekturellen Schulden in den Backend-Systemen werden erst im Laufe der Jahre beseitigt.
3. IT-Prozesse müssen die klassische Welt auf prozessualer Ebene mit der agilen Welt verbinden. Dies gelingt etwa bei der Ergo mit der Kombination des Standardmodells "Essence" mit einem agilen Stack an Techniken, Methoden und Werkzeugen in Richtung "New Way of Working".
4. Last, but not least: Kein Prozess ohne passende Organisation. Die bekannten Linien- und Projektstrukturen sind mit dem Ansatz permanenter interdisziplinärer Teams zu integrieren. Aufgrund demografischer Entwicklungen und der daraus resultierenden Ressourcen- und Skill-Engpässe sind hier die Lieferketten auch international zu organisieren und zu optimieren.
Gerade in Branchen wie der Versicherung wird der eingeschlagene Weg der Modernisierung entlang der aufgezeigten Dimensionen noch mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Damit dieser erfolgreich beschritten werden kann, müssen wir auch unter Würdigung der Vergangenheit erfolgreiche Lösungsansätze und -muster in die Waagschale werfen. Die agile Methodik ist notwendig, aber bei weitem nicht hinreichend.
Einen agilen "Sweet Spot" mit einer einheitlichen und standardisierten Orchestrierung der Gestaltungsoptionen Kultur, Organisation, Prozesse und Architektur wird es zumindest im Betrachtungszeitraum der nächsten fünf Jahre nicht geben. Hybriden Konstrukten mit dem Besten aus stabilen und agilen Welten gehört meiner Meinung nach die nahe Zukunft!
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