Das Geschäft der AXA Versicherung gliedert sich in Sach- und Personenversicherungen wie Lebens- und Krankenversicherungen. Zum Kundenstamm zählen sowohl Privatpersonen als auch Unternehmen aller Größenordnungen. "Das alles müssen wir durch leistungsfähige Systeme abdecken. Wir betreiben rund 360 Applikationen und viele Kleinstanwendungen, einen großen Teil in der Cloud," so CIO Stefan Lemke.
Das Unternehmen ist durch Zukäufe über die Jahre gewachsen und hat dadurch eine heterogene Produkt- und IT-Landschaft. "Unsere IT ist nicht aus einem Guss - auch heute noch nicht," sagt Lemke. Um das zu ändern, habe der Versicherer von 2015 an die IT systematisch modernisiert und eine Basis geschaffen, die heute noch trage.
Basisarbeit
Im Rahmen der Strategie rückte zuerst das Backend in den Fokus. Es galt, die Basis der IT zu renovieren, Produkte zu harmonisieren und Prozesse zu automatisieren. Dabei ging es nicht nur um gute Lösungen, sondern auch um deren Anbindung. "Wir wollen nicht nur die besten Systeme, wir wollen sie auch so gut wie möglich integrieren. Unsere Integrationsfähigkeit ist strategisch. Deshalb haben wir viel Zeit und Arbeit in die Architektur unserer Schnittstellen gesteckt", so der IT-Chef.
AXA sicherte sich im Bereich der Lebensversicherungen die Unterstützung des Dienstleisters MSG, um mit dessen Lösung "Life Factory" die Bestandsführung mit allen Verträgen und Kundenbeziehungen zu vereinheitlichen. Das IT-Team migrierte bislang über eine Million Policen in dieses System. Zum Jahresende soll ein großes Altsystem abgeschaltet werden.
Im Bereich der Sachversicherung nutzt AXA die Branchenlösung von Guidewire. Das Projekt wurde 2017 gestartet. Vier Jahre lang arbeitete der Versicherer an einem modularen Produktbaukasten für Sach- und Haftpflicht-Produkte, automatisierten Prozessen sowie an der Integration. Anfang 2022 wechselten 1,3 Millionen Verträge aus dem Bestand in das Guidewire-System.
Im Zuge dessen wurde das Tool auch den knapp 3.500 Vertriebsagenturen zur Verfügung gestellt. Zuvor ging bereits der Direktkanal live und ab September sollen die Makler angebunden werden. "Damit laufen alle Vertriebskanäle in einer Produkt- und Prozessmaschine zusammen," sagt Lemke. Das Ziel sei, Abläufe zu vereinfachen, um so die Bedürfnisse der Kunden besser abzubilden. "Darum haben wir im Backend begonnen. Durch schnellere, einfachere und fallabschließende Prozesse verbessern wir die digitale Kundenerfahrung." Anliegen sollen rasch bearbeitet, Änderungen an bestehenden Verträgen in wenigen Handgriffen durchgeführt werden können.
Schnittstellen und Standards
In Bereich der Schnittstellen arbeitet AXA mit anderen Versicherungen und Makler-Unternehmen zusammen, die sich im Verein BiPRO organisieren und dort Branchenstandards erarbeiten. Entsprechend normierte APIs erlauben es beispielsweise Maklern, Angebote zu erstellen oder Vertragsauskünfte zu geben. Dazu hat der Versicherer die "TAA-Normen" für Tarifierung, Angebot und Abschluss mitentwickelt. "An den Kontaktpunkten mit den Kunden gibt es für alle dieselben einfachen und klaren Standards, was zu einer guten Kundenerfahrung führt", sagt Lemke.
Auch Partnerschaften im Finanz-, Kfz- und Gesundheits-Sektor spielen dem CIO zufolge eine wichtige Rolle für AXA. Bei Partnerschaften mit der ING Bank oder mit BMW kommen etwa die zuvor entwickelten Schnittstellen zum Einsatz. "Von der einfachen und schnellen Integrierbarkeit der Systeme hängt ab, wie schnell neue Angebote auf den Markt gebracht werden könnten," so Lemke.
Im E-Health-Bereich hat der Konzern mit "Meine Gesundheit" beispielsweise gemeinsam mit anderen Unternehmen einen Standard geschaffen, über den Rechnungen und Berichte einfach bearbeitet werden können. "Die Kundschaft entscheidet dabei, wer was sehen darf", so Lemke. "So bleiben Berichte der Ärzte sicher in der Plattform und nur die Rechnung wird auf Knopfdruck an den Versicherer weitergegeben." In diesem Ökosystem könnten Kunden auch durch Produkte und Partnerschaften Mehrwerte geboten werden, beispielsweise Boni für einen guten Fitnesszustand.
Cloud mit AWS und Azure
AXA ist zudem dabei, seine klassische Infrastruktur in die Cloud zu transferieren. Nur die SAP-Lösungen für Personal und Finanzen sowie die Legacy-Mainframe-Systeme bleiben dabei außen vor. In der Vergangenheit setzte der Versicherer auf einen Mix aus Private und Public Cloud. Inzwischen werden auch die Private-Cloud-Anwendungen aus den Rechenzentren in die Public Cloud migriert. In Sachen Public Cloud setzt AXA hauptsächlich auf Amazon Web Services (AWS), aber auch auf Microsoft Azure. Mittlerweile befinden sich rund 80 Prozent der Anwendungen in einer der Cloud-Umgebungen.
"Wir sind hier systematisch und strategisch vorgegangen. Die Cloud ist für uns mehr als eine Infrastruktur - sie bringt viel Innovation mit sich und bildet die Basis, um Automation und gutes Software-Engineering realisieren zu können," sagt Lemke. Die Mitarbeiter hätten moderne Arbeitsmittel an der Hand und könnten häufiger und schneller deployen.
Das Team um den CIO misst die Mehrwerte der Cloud systematisch mit Metriken. So habe die Frequenz der Deployments deutlich zugenommen. Etwa zwei Drittel der neuen Features würden in Kleinstreleases abgeliefert. Der Rest sind noch klassische, vierteljährliche Wasserfall-Releases. "Das wird weiter abnehmen, je weniger Abhängigkeiten unsere Anwendungen und Services untereinander haben," so der CIO.
Agile Organisation
Damit das Ganze läuft, musste sich das Team neu aufstellen. Begleitet wurde der Prozess von umfassenden Change-Maßnahmen. "Agil beginnt im Kopf, die agile Transformation fängt bei der Unternehmenskultur an," sagt Lemke.
Seit 2018 haben sich etwa 100 agile Squads rund um die IT gebildet. Diesen Prozess hat Lemke mit seinem Team begleitet. Die Squads sind crossfunktional mit Product Ownern und Business Requirements Engineers aus den Geschäftsbereichen aufgestellt. Gemeinsam mit den Entwicklern und weiteren Experten bilden sie die DevOps-Teams. Zudem hat AXA Deutschland eine DevOps-Gilde mit etwa 200 aktiven Mitgliedern ins Leben gerufen, die Engineering-Themen priorisiert und umsetzt.
In der Gilde werden Verbesserungsvorschläge zur Softwareentwicklung in Backlogs gepflegt. Das reicht laut Lemke von der Planung und Codierung über Tests und Releases bis hin zum Monitoring der Anwendungen. Dazu zählen etwa der robustere Betrieb der Systeme in der Cloud oder verbesserte Verfahren zu Continuous Integration und Integration CI/CD sowie Codequalität.
Entlang der acht DevOps-Stufen moderieren sogenannte Paten die Prioritäten und kümmern sich um Querschnittsthemen, die viele Squads betreffen. Aus Sicht des CIOs erfüllt die Gilde somit zwei Funktionen: Sie mache wertschöpfende Verbesserungen sichtbar, die über viele Squads wirksam werden. Gleichzeitig würden Schwerpunkte der IT-Strategie von den Squads aufgegriffen und umgesetzt.
Dreigeteilte Stammeskultur
Zusätzlich dazu baut AXA derzeit eine Tribe-Organisation auf, die die Geschäftseinheiten stärker crossfunktional einbindet. Zu den insgesamt 700 IT-Mitarbeitern sollen bis Jahresende etwa 800 Kollegen aus den Business Units kommen.
Insgesamt sollen 14 Tribes geschaffen werden, die sich in drei Kategorien gliedern. Knapp die Hälfte orientiert sich an den verschiedenen Bedürfnissen der Kunden und entwickelt Angebote dafür. Der Mobilitäts-Tribe befasst sich etwa mit Kfz- und E-Roller-Versicherungen. Das Thema Vorsorge ist im sogenannten Protection-Tribe verortet. Der "Health Offer Tribe" deckt beispielsweise Krankenversicherungen ab.
Ein weiteres Viertel der Tribes beschäftigt sich mit dem Thema Customer Journey und den Anliegen der Kunden. Dazu zählen etwa die Weiterentwicklung der My-AXA-App oder Aufgaben wie Adressänderungen. Zudem sind hier die Schaden- und Leistungsfälle verankert. "Das ist der Moment der Wahrheit für Versicherer. Hier spielt eine gutes Prozessdesign und die Einbindung von Expertennetzwerken eine wichtige Rolle, um schnell helfen zu können," sagt Lemke.
Das letzte Viertel umfasst die "Enabler-Tribes". Sie fungieren als Zulieferer und stellen automatisierte Services, Prozessstrecken und Plattformen bereit. Außerdem geben sie den anderen Tribes Werkzeuge an die Hand, um schnell und autonom arbeiten zu können. In diesen Bereich fallen etwa Automatisierungs- und DevOps-Tools, Workbenches, Testwerkzeuge und Vorkonfigurationen, etwa für Cloud-Produkte. Zudem findet sich hier der Data-Capability-Tribe. Er schafft eine Datenplattform, baut Tools und konfiguriert etwa Data Vaults vor, damit die Datenanalysten der anderen Tribes Daten analysieren und nutzen können.
Planung je Quartal
Begleitend zum Aufbau der agilen Squads führte Lemke Ende 2018 sogenannte Big-Room-Plannings ein. Darin werden jedes Quartal die Aktivitäten der Teams priorisiert und mit den verfügbaren Kapazitäten abgeglichen. Es kommen etwa 400 Menschen zusammen, darunter unter anderem die Product Owner, Mitglieder des Managements und interessierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie diskutieren bis zu 2.000 Aufgabeneinheiten ("Epics").
"Wir legen fest, was gemacht wird und was nicht. Das hört sich vielleicht nach Detailarbeit an, aber es ist ein transparenter Prozess, der viel Unruhe aus der Organisation nimmt," sagt Lemke. Die Teilnehmenden würden sich gemeinschaftlich auf die Inhalte für die nächsten drei Monate einigen. Die dafür zugesagten Kapazitäten und das Commitment aller Beteiligten führe zu produktiverem Arbeiten in den Squads und Projekten.
Dadurch hat sich laut dem CIO das Verhältnis von geplanten zu tatsächlich im Quartal gelieferten Aktivitäten - Lemke spricht von der Say-Do-Ratio - von 70 auf über 93 Prozent erhöht. "Die Squads funktionieren schon allein sehr gut, aber die Tribes schaffen noch mehr Fokus auf Kunden, Vertriebspartnerinnen und -partner sowie Verbindlichkeit in der Lieferung," resümiert der CIO.
Mobile Moment mit der My-AXA-App
"Mitte 2021 hatte die AXA Versicherung ihren 'Mobile Moment': Von diesem Zeitpunkt an fand mehr als die Hälfte unserer Kundenkontakte über mobile Endgeräte statt", berichtet Lemke. Dazu beigetragen habe die My-AXA-App eines der Leuchtturmprojekte der neuen agilen Organisation.
Die App wird von einem kleinen crossfunktionalen Team entwickelt und betreut. Das Squad arbeitet nahe an den Kundenbedürfnissen: Jede Anfrage und jeder Kommentar aus den Appstores findet den Weg in die Backlogs. "Rund 40 Prozent unserer Kunden nutzen die App regelmäßig, und der Anteil aller Touchpoints über Mobilgeräte ist seitdem auf 65 Prozent gestiegen", sagt Lemke.
Das Projektteam besteht aus nur zehn Mitarbeitern. "Dass ein so kleines Team einen so sichtbaren Impact leisten kann, liegt auch an der geleisteten Vorarbeit. Ohne die Investitionen in Backend-Systeme, wiederverwendbare Schnittstellen und ohne unsere agile Aufstellung könnten wir so einen Service nicht anbieten," ist sich der IT-Chef sicher.