Management-Strategien

Die Mitarbeiterführung der alten Griechen

13.07.2009 von Olaf  Kraus
Der griechische Heeresführer Xenophon beschreibt in seinem Buch "Anabasis", wie man mit Menschen umgeht, sie führt und zu Höchstleistungen bringt. Die Kernbotschaft: Die Mitarbeiter sind wichtiger als die Person an der Spitze. Genau das Gegenteil von dem, was Unternehmen heute praktizieren. Ein erstaunlich modernes Management-Buch.

Was passiert, wenn 10.000 Einzelunternehmer aufeinandertreffen, um gemeinsam ein Projekt umzusetzen, bei dem zwei Regeln gelten sollen:

Regel 1: Jede strategische Entscheidung muss gemeinschaftlich getroffen werden.
Regel 2: Die Vorgesetzten werden von der Gruppe bestimmt - und bei Bedarf abgesetzt. Erfolgsmodell oder Lachnummer?

Gemessen an der klassischen Management-Literatur, wäre das Unternehmerteam von vornherein zum Scheitern verurteilt. Ein Blick in die Geschichte weit vor den ersten modernen Management-Werken zeigt jedoch, dass das Modell funktionieren kann. Xenophon, ein griechischer Aristokrat und Heerführer, beschreibt um 400 vor Christus in seinem Buch "Anabasis - Der Zug der Zehntausend" ein kooperatives Führungsmodell, das seinem Heer eine für damalige Verhältnisse überwältigende militärische Überlegenheit verschaffte.

Xenophons langer Marsch

Xenophons Karriere als Heerführer beginnt mit seinem Eintritt in ein Söldnerheer aus 10.000 Griechen und 100.000 Persern. Der damals 30-jährige Athener ist reich und hochgebildet, er wird neun Jahre von Sokrates unterrichtet. Xenophon will mit dem Heerführer Kyros nach Bagdad ziehen, um dessen älteren Bruder Artaxerxes die Herrschaft über das Perserreich zu entreißen. Von Ephesos an der Westküste der heutigen Türkei marschiert das Kyros-Heer durch ganz Kleinasien bis in die Gegend des heutigen Irak. Kurz vor Bagdad treffen sie am 1. September 401 v. Chr. auf eine Übermacht von etwa 400.000 Mann des Artaxerxes. Es kommt zur Entscheidungsschlacht.

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Als die Griechen ihre berühmte Phalanx gebildet haben und in Achterreihen gestaffelt, geschlossen, diszipliniert im Laufschritt und mit Kriegsgeschrei auf die Perser losstürmen, gibt es für diese kein Halten mehr - obwohl sie von Antreibern mithilfe von Peitschen "motiviert" werden. Sie flüchten in Panik, und die Schlacht ist entschieden, ohne dass auch nur ein einziger Grieche verwundet worden wäre.

Im Visier: Für das Erreichen hoher Ziele ist nicht nur die Führungskraft an der Spitze, sondern auch das Kollektiv zuständig.
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Diesen schnellen Sieg verspielt der damals 18-jährige Anführer Kyros allerdings sofort wieder. Als er von Weitem seinen verhassten Bruder sichtet, hält ihn nichts mehr. Er stürzt sich auf die Feldherrngruppe und wird von der Leibwache des Königs getötet. Daraufhin laufen die persischen Söldner des Kyros zu Artaxerxes über. Und die zuvor siegreichen Griechen befinden sich plötzlich in einer fast aussichtslosen Lage.

Antike Management-Lehre

Glücklicherweise trauen sich die immer noch vom Angriffslauf geschockten Perser nicht, die Griechen in offener Feldschlacht zu stellen. Nach einigen Scharmützeln schließen sie mit den Griechen einen Waffenstillstand und sagen ihnen freien Abzug zu. Um den Vertrag zu feiern, laden sie die griechischen Führer zu einem Gastmahl ein und ermorden alle hinterrücks. Die Annahme, das führungslose Heer wäre jetzt ein leichtes Opfer, erweist sich jedoch als Fehleinschätzung.

Es stellt sich heraus, dass die Griechen von einzelnen Führungspersonen unabhängig sind. Sie stellen eine neue Führungsmannschaft auf und wählen Xenophon und den Spartaner Cheiristophos zu den obersten Führungskräften. Die neuen Vorgesetzten führen das Heer unter verlustreichen Kämpfen durch das von wilden Bergvölkern bewohnte kurdische und armenische Bergland (in das sich das Heer des Artaxerxes nicht wagt), bis die ausgemergelten Truppen mit dem berühmten Ruf: "Thalatta, thalatta" ("das Meer, das Meer") das Schwarze Meer erreichen. Schließlich wird das Heer nach einem Marsch von insgesamt 15 Monaten und etwa 5000 Kilometern dem spartanischen Feldherrn Thibron übergeben, der es in den folgenden Jahren zu weiteren Territorialkämpfen in Kleinasien einsetzt.

Antike Management-Lehre

Dass die Griechen den Kampf gegen die Perser und den darauffolgenden Gewaltmarsch überlebt haben, verdanken sie ihrer einmaligen Art und Weise, Entscheidungen zu treffen, und ihrer Fähigkeit, sich auch unter schwierigen Bedingungen neu zu organisieren. Xenophon beschreibt auf den 250 Seiten seines Werks weniger die Details der Reise und der Schlachten. Ihm ging es nicht um einen Kriegs- oder Abenteuerbericht. So wie er in seinem anderen berühmten Buch, seiner "Reitkunst" (noch heute ein Standardwerk für Reiter) den richtigen Umgang mit Pferden zeigt, so legt er in seiner "Anabasis" dar, wie man mit Menschen umgeht, wie man sie führt und zu Höchstleistungen bringt. Die "Anabasis" ist ein Managementbuch, und die von Xenophon angesprochenen Themen erscheinen erstaunlich modern.

Die gesamte zweite Hälfte des Buches ist zum Beispiel eine Fallstudie über die Schwierigkeiten, die bei der Führung einer Organisation auftreten, wenn die strategische Grundausrichtung nicht allgemein akzeptiert wird. Denn während die Soldaten bis zum Erreichen des Schwarzen Meeres vor allem ihre Haut retten wollen, gibt es danach eher grundsätzliche Differenzen. Ein Teil der Soldaten will sofort in die Heimat reisen, ein anderer schlägt vor, am Schwarzen Meer eine griechische Stadt zu gründen, und wieder andere - schließlich die Mehrheit - wollen zunächst einmal Beute machen, bevor man an die Rückkehr denkt. Mehrere Male steht die gesamte Unternehmung wegen dieser strategischen Differenzen kurz vor dem Scheitern.

Glücklicherweise wird das gemeinsame Leitbild der Gruppe nie infrage gestellt. Xenophon formuliert es in seinem Appell kurz nach seiner Wahl zum Heerführer: "... keinem Menschen huldigt ihr, außer den Göttern!" - und bringt damit das extreme Unabhängigkeitsgefühl auf den Punkt, durch welches sich die Griechen fundamental von allen anderen Völkern ihrer Zeit unterscheiden.

360-Grad-Feedback

Getragen wird dieses Leitbild von einer allseits gelebten Kultur und rigide eingehaltenen gemeinsamen Werten. Hohe Bindungskraft hat vor allem die gemeinsame Sprache. Zwar sind die Griechen zur damaligen Zeit häufig zerstritten, Sparta und Athen befinden sich sogar im Krieg miteinander, aber bei Gefahr von außen, von den "Barbaren" (all jene, die nicht Griechisch sprechen), halten sie zusammen. Außerdem werden die Griechen durch die gemeinsame Religion zusammengeschweißt. Alle religiösen Rituale werden penibel eingehalten; die Seher sind beim gesamten Zug dabei, und vor jeder Entscheidung werden Opfer gebracht und die Götter befragt.

Einen herausragenden Rang nimmt auch der Wert "Wettbewerb" ein: Kaum hatten die Griechen völlig erschöpft das Schwarze Meer erreicht und sich einige Tage ausgeruht, da hatten sie nichts Besseres im Sinn, als eine kleine "Olympiade" auszurichten, ein Sportfest mit allen Disziplinen.

Die gemeinsamen Werte wurden allerdings nicht ganz freiwillig befolgt. Es herrschte großer sozialer Druck, denn die Einhaltung der Werte wurde von der Vollversammlung streng überwacht. Sie übernahm quasi die Controlling-Funktion. Hier wurde das Führungsverhalten offen diskutiert und schonungslos kritisiert. Man kann sagen, dass die griechischen Führer sich einem ständigen "Assessment", einem brutalen 360-Grad-Feedback, stellen mussten. Bei Fehlverhalten wurden sofort Sanktionen verhängt. Als der Grieche Apollonides in der kritischen Phase nach der Ermordung der griechischen Führer vorschlägt, noch einmal mit den Persern zu verhandeln, weil man sonst keine Chance habe, lebend die Heimat zu erreichen, wird er nicht nur überstimmt, sondern sofort wegen Feigheit und Defätismus degradiert und aus der Gemeinschaft der Hopliten (der Schwerbewaffneten) ausgestoßen.

Wie differenziert und auch aus heutiger Sicht hochprofessionell das Führungsverhalten evaluiert wurde, zeigt beispielhaft Xenophons Charakterisierung der früheren Heerführer. So beschreibt er seinen Vorgänger Klearchos als mutige, durchsetzungsstarke und verantwortungsvolle Führungskraft, aber auch als hart und grimmig. Er diagnostiziert bei Klearchos einen gefährlichen Mangel an Empathie. "War der Kampf vorüber, verließen ihn viele, denn er hatte nichts Gewinnendes an sich." Seinen Freund Proxenos beschreibt er als ehrgeizig, aufrichtig und gutwillig, er führe aber ausschließlich durch Lob und Vorbild, scheue bei Unwilligen vor Konflikten zurück und müsse deshalb letztlich als schwache Führungskraft gelten.

Führung ohne Macht

So einleuchtend, modern und vertraut das Führungsverhalten der Griechen bisher erscheint, so fremd und ungewöhnlich mutet zunächst die Tatsache an, dass die Führungsmacht des leitenden Personals extrem beschnitten war. Das ergibt sich teilweise aus der Art dieser Gemeinschaft. Bei den Griechen war jeder Hoplit ein freier Bürger und Unternehmer. Er musste nicht nur für Ausrüstung und ständiges Training aufkommen, er musste auch mindestens einen Knappen bezahlen (allein ließ sich die schwere Rüstung beim Marsch nicht tragen) und deshalb hohe Vorleistungen erbringen. Das Heer bestand also aus 10.000 "Ich-AGs".

Am ehesten lässt sich die Organisation als "Kooperative" beschreiben, die sich für eine bestimmte Unternehmung (ein Projekt) zusammentat; wie in einer Kooperative wurden die existenziellen Entscheidungen nicht von den gewählten (und jederzeit wieder absetzbaren) Führungsleuten getroffen, sondern stets von der Vollversammlung auf basisdemokratische Weise. Das sonst beim Militär vorherrschende System von Befehl und Gehorsam war hier weitgehend außer Kraft gesetzt. Aber: Dieses "Geschäftsmodell" war in seiner Zeit unübertroffen erfolgreich, es war dem zentralistischen, strikt hierarchischen Modell der Perser haushoch überlegen.

Die schwache Position der griechischen Führer zeigt sich auch in ihrer Besoldung: Ein Feldherr (Bataillonsführer, Stratege genannt) erhielt gerade einmal viermal so viel wie ein einfacher Soldat, und im gleichen Verhältnis wurde auch die Beute aufgeteilt.

Die praktische Führungsarbeit war also durch hohen Zwang zum Konsens gekennzeichnet, sodass die Fähigkeit, durch verbale Kommunikation zu überzeugen, zur wichtigsten Führungseigenschaft wurde. Vermutlich ist nur so zu verstehen, dass der Athener Xenophon sich in einem mehrheitlich aus Spartanern zusammengesetzten Heer während der Unternehmung an der Spitze halten konnte; denn Xenophon war ein begnadeter Rhetoriker, und er war durch Sokrates, einen der größten Geister der Menschheitsgeschichte, jahrelang in dialektischer Argumentationskunst geschult worden. Darüber hinaus waren von den Leitenden vor allem Soft Skills gefordert, wie "Führen durch Beispiel", hohe Motivationskunst, Glaubwürdigkeit, Persönlichkeit - für alle bringt Xenophon zahlreiche Beispiele.

Bei allen Vorteilen dieses griechischen Geschäftsmodells, es litt natürlich unter den umständlichen, zeitraubenden Abstimmungs- und Diskussionsprozeduren und war deshalb in bestimmten Situationen sehr ineffizient. Das wurde den Griechen vor allem gegen Ende des Zuges bewusst, als sie zunehmend auf Beute aus waren und ihre Organisationsstruktur schnelle taktische Manöver verhinderte. So rangen sie sich dazu durch, einen "Kommandeur" einzusetzen, der allein entscheiden konnte, und wählten hierfür Xenophons Kollegen Cheiristophos. Aber: Nach nur sechs Tagen wurde er wieder abgesetzt, die Gemeinschaft kehrte zu ihrem Leitbild zurück. Sie konnte einen einzelnen Befehlshaber nicht ertragen, es war nicht mit ihrer "Unternehmenskultur" vereinbar.

Von den Griechen lernen

Für den Leser lautet die Kernbotschaft Xenophons deshalb: Die Mannschaft, das Kollektiv ist wichtiger als die Person an der Spitze, deren Machtbefugnisse strikt beschränkt werden sollten. Bei den heutigen Unternehmen weist der Trend eindeutig in die andere Richtung: Spitzenmanagern wird immer höhere Verantwortung aufgebürdet, und sie werden mit immer höheren Vergütungen geködert, um ihre Organisationen rücksichtslos auf Erfolg zu trimmen. Eine Art neuer Personenkult und skandalöse moralische Entgleisungen sind die Folge. In der Führungsliteratur werden zwar Soft Skills und die Aufteilung der Verantwortlichkeit durch "Empowerment" propagiert, aber die grundsätzliche Machtstruktur der Organisationen wird nicht infrage gestellt; die vorgeschlagenen "partizipativen Führungsmodelle" erfüllen eher eine taktische Funktion und haben mit der wirklichen Machtverteilung in den Unternehmen meist nichts zu tun.

Um nicht missverstanden zu werden: Es gibt Situationen - wie das berühmte vom Untergang bedrohte Schiff -, in denen der Kapitän machtvoll, schnell und ohne Rücksichten durchgreifen muss. Aber das sind Ausnahmesituationen, wie sie für Unternehmen allenfalls bei Gründung, Sanierung oder bei drohender Illiquidität bestehen. Und es gibt zu denken, dass Xenophon selbst in Kriegszeiten für das individualistische, freiheitliche griechische Geschäftsmodell plädierte. Als der erwähnte Kommandeur gewählt werden sollte, lehnte er es ab, sich zur Wahl zu stellen.

Xenophon: "Des Kyros Anabasis: Der Zug der Zehntausend."; Reclam, 2005, 284 Seiten, 7,00 Euro.
Foto: Reclam

Während meiner Tätigkeit bei der Metallgesellschaft habe ich mit dem bekannten Sanierungsmanager Kajo Neukirchen zusammengearbeitet. In der Sanierungsphase habe ich sein blitzschnelles Erfassen der Lage und seine scharfsinnigen, konsequent durchgezogenen Entscheidungen bewundert; später musste ich aber auch erleben, wie kontraproduktiv sich derselbe Führungsstil in der Aufbauphase auswirkte.

Der aus den USA kommende Trend, das Heil in einem starken, mit allen Vollmachten ausgestatteten CEO zu sehen, ist nicht nur - wie die moralischen Entgleisungen und die ins Astronomische gestiegenen Managervergütungen zeigen - gesellschaftspolitisch ein Irrweg, dieser Trend ist auch wirtschaftlich unvernünftig. Und gerade aus den USA kommen in letzter Zeit Stimmen, die ein Umdenken ankündigen.

Von Xenophon können wir lernen: Gemeinschaften, in denen sich eigenständige Individuen, die Machtkonzentrationen strikt ablehnen und ein klares gemeinsames Ziel haben, freiwillig zusammenschließen, sind zu Höchstleistungen fähig, und zwar über lange Zeit und nicht nur in der Phase der "Sanierung". Aber auch, dass es höchster Konzentration, Geschicklichkeit und Professionalität bedarf, in solchen Gemeinschaften die höchste Verantwortung zu übernehmen und zu behalten.