Der Geist hat die Flasche verlassen. Die Digitalisierung lässt sich nicht mehr aufhalten. So beschreibt CIO Jan Brecht die Situation in der Autoindustrie. Bisher verdienten Autohersteller ihr Geld damit, Fahrzeuge zu produzieren. Doch datengetriebene Services rund ums Auto gewinnen massiv an Bedeutung. Letztendlich tappen aber alle Autobauer im Dunkeln: Wie Internet und Daten die Geschäftsmodelle der Unternehmen genau verändern, bleibt die große Unbekannte.
Sicher ist indes, dass die Produktion weiter digitalisiert werden muss. Schlagworte wie Smart Factory und Industrie 4.0 sind hinlänglich bekannt. Es geht um die durchgängige Digitalisierung aller Prozesse der Wertschöpfungskette: von Konstruktion und Entwicklung über die Produktion bis hin zum Vertrieb. Auf der anderen Seite arbeiten die Autobauer am Connected Car und wollen Mobilitätsanbieter werden. Dazu müssen sie beispielsweise Apps entwickeln und verstärkt Analytics-Tools einsetzen.
Spannend ist die Frage, womit die Autoindustrie künftig ihr Geld verdienen wird, mit ihren verkauften Fahrzeugen und mit digitalen Services? "Ich weiß nicht, wie sich die Umsatzanteile bis 2020 entwickeln werden", lautet die ehrliche Antwort von Daimler-CIO Brecht.
Ganz sicher weiß er dagegen, dass er beide Bereiche in Angriff nehmen muss. Dafür bemüht er einen weiteren Vergleich: Daten sind das neue Öl. Während das Öl in den vergangenen 200 Jahren der Industrialisierung die Wirtschaft im Allgemeinen und die Autoindustrie im Besonderen antrieb, so sind es jetzt die Daten, die die entscheidenden Wachstumsimpulse geben. Für die Autokonzerne und ihre Mitarbeiter ist damit radikales Umdenken gefordert.
Brecht ist sicher: In allen Bereichen des Unternehmens muss die Geschwindigkeit steigen, damit es in der Wirtschaft des 21. Jahrhunderts nicht ins Hintertreffen gerät. So lautet denn auch die erste Priorität der Daimler-IT-Strategie: Speed!
Im November 2015 war Brecht als neuer CIO zum Daimler-Konzern gekommen. Zusammen mit dem Vorstand verabschiedete er inzwischen die neue IT-Strategie für die kommenden drei Jahre. Dabei standen die drei Megatrends Urbanisierung, Personalisierung und Digitalisierung im Vordergrund der Überlegungen. Vor allem die letzten beiden Trends betreffen die Autoindustrie stark. "Die Digitalisierung wird die Daimler AG transformieren", sagt Brecht. "Und durch Personalisierung müssen wir näher an den Kunden rücken und damit auch wieder näher an die eigene Software."
Nachdem die Softwareentwicklung in den vergangenen Jahren vielfach outgesourct wurde, soll sie nun teilweise wieder ins eigene Haus zurückgeholt werden. Als Ziel strebt Brecht an, dass auf einen internen 30 bis 40 externe Entwickler kommen. Zurzeit reiche das Verhältnis je nach Projekt und Aufgabe von eins zu zehn bis eins zu 500. Brecht will dabei die Zahl der eigenen IT-Mitarbeiter nicht sprunghaft steigern, sondern die Verteilung der Aufgaben neu organisieren. "Software wollen wir selbst entwickeln, um schneller zu werden und die Qualität sicherzustellen", begründet der CIO den Schritt. Es gehe um Speed.
Die fünf strategischen Prioritäten
Im Detail stellen sich die fünf Prioritäten der Daimler-IT wie folgt dar.
Prio 1: Speed
Zu den wichtigsten Werkzeugen, um die Geschwindigkeit zu erhöhen, zählen Methoden, organisatorische Anpassungen und Technologie.
Bei den Methoden wendet sich Daimler Arbeitsweisen wie Design Thinking zu. CIO Brecht will das Arbeiten in kleinen autarken Einheiten fördern, um schneller zu Ergebnissen zu kommen. Ihm schweben "Two-Pizza-Teams" vor, wie Amazon sie einsetzt: Gruppen, die nur so groß sind, dass sie von zwei Pizzen satt werden können.
Neue Formen der Zusammenarbeit sollen sich auch in einer einfacheren Ablauforganisation niederschlagen. Zu viele Stufen innerhalb der Lieferkette sind ein Phänomen, unter dem nahezu alle großen Konzerne leiden. Brecht möchte die eine oder andere Stufe wegfallen lassen und so die Zusammenarbeit von IT und Fachbereichen schlanker aufstellen.
Letztlich trägt natürlich Technologie zu kürzeren Reaktionszeiten und Entwicklungszyklen bei. So können Cloud-Lösungen helfen, Projekte schneller umzusetzen und Services zeitnah zu liefern.
Prio 2: Customer Interaction
Den Austausch und die Kontaktpflege mit Kunden hält Brecht für eine Schlüsselaufgabe für die gesamte Autoindustrie. "Es geht künftig um Mobilität, weniger um das Produkt Auto", sagt er. Als Beispiel führt er Future Transportation Systems an.
Im Zuge dieses Projekts hatten sich im März 2016 drei über ein WLAN vernetzte, autonom fahrende Daimler-Trucks auf die Reise gemacht. Sie befuhren im Konvoi die A52 bei Düsseldorf. Der Sicherheitsabstand betrug nur noch 15 statt der normalen 50 Meter, und die Länge der gesamten Kolonne verkürzte sich von 150 auf 80 Meter.
Ein Assistenzsystem sorgt dafür, dass Auffahrunfälle weitgehend ausgeschlossen werden können. Durch das Fahren im Windschatten können die Trucks zudem Kraftstoff sparen. Bei dieser Art des Fahrens in Kolonnen, auch "Platooning" genannt, würde es reichen, wenn nur noch im ersten Truck ein Fahrer säße. Momentan sprechen allerdings noch rechtliche Vorgaben dagegen.
Neue Geschäftsmodelle ergeben sich auch, wenn Transportdienstleister ihre Pakete im Kofferraum der Kunden abladen können. Voraussichtlich im Sommer will Daimler solch ein System in Betrieb nehmen.
Prio 3: Data Insight Driven
Auf der einen Seiten wachsen die Datenmengen exponentiell an, auf der anderen steigt auch die Rechengeschwindigkeit rasant. Vor diesem Hintergrund ermöglichen neue Analytics-Tools laut Brecht "dramatisch neue Möglichkeiten". So lassen sich Daten von Kunden und Fahrzeugen für neue Services nutzen, gleichzeitig können Kundenservices optimal personalisiert werden.
Zudem helfen neue Daten und Analysen dabei, interne Ressourcen besser auszunutzen. So könnte die Auslastung beim Auto-Rohbau verbessert werden, sagt Brecht. "Daimler hat Assets, die besser genutzt werden könnten. Wenn wir sie nur um ein, zwei oder drei Prozent besser auslasten, dann ist das schon ein großer Hebel."
Prio 4: Engineering & Production
Die Digitalisierung von Konstruktion und Produktion kann nicht darin bestehen, nur einzelne Standorte zu optimieren. Vielmehr geht es darum, das globale Netzwerk, die gesamte Wertschöpfungskette des Konzerns zu betrachten und zu verbessern.
Prio 5: The Empowered Employee
Mitarbeiter sollen kleine autarke Teams bilden, die schnell und selbstbestimmt arbeiten. Um eine solche hierarchiefreie Zusammenarbeit zu ermöglichen, definierte Daimler in dem Programm "Leadership 2020" auch neue Führungsmodelle.
Der Arbeitsplatz der Zukunft sei zwar noch nicht bis ins letzte Detail definiert, aber ein Ziel sei es, dass Mitarbeiter die Hälfte ihrer Anwendungen ohne Schulungen sofort auf ihrem Endgerät benutzen können.
Sechs Prinzipien
CIO Brecht hat seine Prioritäten mit sechs Prinzipien unterlegt: "Diese Grundsätze habe ich aus meinen bisherigen beruflichen Erfahrungen abgeleitet. Sie sind mir wichtig, um die Strategie umzusetzen." Die Prioritäten lauten:
1. Näher am Kunden und am Softwarecode sein.
2. Loosely coupled: Die Zeit der Silos und Monolithen in Sachen Technologie und Organisation sind vorbei.
3. Mobile First: Entwickelt wird zuerst für mobile Endgeräte wie Tablets und Smartphones, erst dann für den PC.
4. Kleine autonome Teams und Projekte, um schneller zu werden.
5. Universelle Verbindungen: Alles soll mit allem und jedem vernetzt werden.
6. Daten- und metrikgetrieben: Das soll die Qualität von Entscheidungen verbessern und schnelles Lernen vorantreiben. "Measure, learn, do" - so lautet das Credo der "fast learning organization".
Zweimal 100 Millionen Euro
Die neue IT-Strategie und ihre Umsetzung lässt sich Daimler viel Geld kosten, wie schon der Titel "100/100" verdeutlicht. Danach sollen in den kommenden drei Jahren 100 Millionen Euro aus dem aktuellen Budget umgewidmet werden und in die Digitalisierung fließen. Zusätzlich investiert der Konzern weitere 100 Millionen Euro in den nächsten drei Jahren in die Umsetzung.
Auch in den einzelnen Divisionen sei die Bereitschaft hoch, in IT zu investieren, stellt Brecht fest. Und: "Die lernende Organisation ist wichtig." Sie umfasst immerhin 284.000 Mitarbeiter weltweit, die 2015 einen Umsatz von fast 150 Milliarden Euro erwirtschafteten. Auf der IT-Seite zählen 8000 Mitarbeiter dazu, wovon 4500 in Deutschland arbeiten und 1200 Entwickler in Indien tätig sind.
Zur lernenden Organisation gehört es, dass sich IT, Fachbereiche und auch Kunden austauschen. Es gilt, die Denkweisen der Klientel zu verstehen und ihre Probleme zu erkennen. Wichtig ist es aber auch, sich mit anderen Unternehmen zu unterhalten.
Brecht hält allerdings nicht viel davon, sich mit anderen Dax-Unternehmen zu vergleichen: "Die IT und die Organisationen in der Autobranche und im Handel haben ein vergleichbares Reifestadium", weiß der frühere Adidas-CIO aus eigener Erfahrung. Sein Blick geht in Richtung Silicon Valley, aber auch zu deutschen Startups: "Wir müssen von Firmen lernen, die mit der Digitalisierung groß geworden sind."