Die Mai-sonne kitzelt den norddeutschen Acker. Vorwitzig recken Zuckerrüben ihr Grün aus dem Mutterboden. Die erste Saat einer Echtzeitunternehmung geht auf. Nordzucker, der Saatgutzüchter KWS und die Landwirte haben in diesem Jahr gemeinsam die Saatgutbestellung beschleunigt. Aufträge und Lieferbestätigungen fließen sekundengenau von einem SAP-System ins andere und gegebenenfalls auch in die bäuerlichen Computer. Vom neuen Verfahren profitieren alle Beteiligten so stark, dass sie den Return on Investment erst gar nicht ausgerechnet haben. "Die Vorteile liegen auf der Hand", meint Thomas Joachim, der das Projekt vonseiten des Beratungshauses IDS Scheer geleitet hat: "Die Saatgut-distribution wird durch den Real-Time-Prozess wesentlich beschleunigt."
Davon profitiert Nordzucker mit Sitz in Braunschweig, da die norddeutschen Rübenbauern ihren Bedarf an Saatgut nicht mehr nur per Postkarte, sondern bald auch online melden können. Historisch bedingt bestellen die Landwirte nicht bei den Saatgutzüchtern direkt. Seit ihrer Gründung vor gut 150 Jahren bestimmen die Zuckerfabriken und nicht die Bauern, welche Rübensorten auf die Äcker gelangen. Mit dieser Macht haben die großen Zuckerunternehmen in Deutschland allerdings auch die Pflicht geerbt, den Bedarf an Saatgut zu erfassen und es dann auszuteilen. Rund 11000 Bestellungen tippe die Auftragsannahme jedes Jahr ins SAP-R/3-System, schätzt Gerd Jung, Leiter des Geschäftsbereichs International bei Nordzucker: "Früher haben die Mitarbeiter noch jeden Landwirt mit Handschlag begrüßt, wenn er sich das Saatgut in der Fabrik abgeholt hat."
Damit ist jetzt Schluss: Die Rudolph Logistik Gruppe aus Baunatal organisiert die Direktbelieferung. Der Paketdienst General Logistics Systems - früher German Parcel - hat dieses Jahr erstmals die Samenpakete mit Lieferwagen zu den Höfen gebracht. Acht bis zehn Pakete von der Größe eines Waschmittelkartons sind im Durchschnitt bei einem Landwirt gelandet. In jedem stecken mehr als 100000 Samen, mit denen man genau einen Hektar bestellen kann. Ab September werden also auch in diesem Jahr wieder viele Rüben über die Straßen rund um Uelzen, Klein Wanzleben und die anderen sieben Werke von Nordzucker rollen - dafür aber weniger Deutz-Trecker oder Mercedes Diesel. Die Landwirte werden das Saatgut nicht mehr selbst aus der Stadt holen, denn für die Anlieferung zahlen sie keinen Pfennig.
Wer zuerst kommt, sät zuerst
Die Kosten tragen jeweils zur Hälfte Nordzucker und der Saatgutzüchter KWS aus Einbeck, der als Dritter im Bunde von der Real-Time-Bestellung profitiert. Der Marktführer in Sachen Saatgut kann jetzt rechtzeitig abschätzen, welche Sorten aus der Angebotsliste der Zuckerfabrik die Landwirte präferieren. "Früher war es im Extremfall so, dass am 25. Februar bestellt wurde und wir am 5. März liefern sollten", erzählt Fritz Hübner, Leiter der Bauern-beratungsstelle in der KWS. Wenn dann eine Sorte zu stark nachgefragt wurde, habe man eben alle Anfragen um 20 Prozent gekürzt und die Mangelware gerecht unter allen Bauern verteilt. In Zukunft gilt: Wer zuerst kommt, sät zuerst. Da alle Aufträge der Landwirte noch am selben Tag von der Zuckerfabrik an die KWS weitergeleitet werden, kann der Hersteller aus Einbeck sofort mit der Aufbereitung der Samen beginnen. Mangel oder Produktion auf Halde sollte es bei dieser Real-Time-Unternehmung nicht geben.
Dieselfahrer als Trendsetter
Rübenbauern können als Kunden nicht weglaufen, es sei denn, sie geben ihr Geschäft auf. Ihre Bestellungen werden auch erst dann verarbeitet, wenn ein Nordzucker-Mitarbeiter sie von der Postkarte abgetippt hat. Dennoch sei Nordzucker ein gutes Beispiel für ein Real-Time-Unternehmen, findet Wolfgang Bosch, Beratungsvorstand von IDS Scheer. Genau wie Gartner strapaziert er den Begriff Real Time so, dass jede Bemühung darunter fällt, mit der Unternehmen ihre Prozesse beschleunigen. Echtzeit bezeichnet also nur das Ziel, nicht den tatsächlichen Stand der Technik.
"Real Time Enterprises stellen für uns eine besondere Herausforderung dar, weil die Real-Time-Anbindung mehrerer Partner die genaue Abstimmung der Dateninhalte erfordert und Beratern dabei eine wichtige Rolle zukommt", sagt Bosch. Projektleiter Thomas Joachim kann das bestätigen: Ende vergangenen Jahres hat er vier Monate mit der Anpassung der SAP-Business-Connectoren bei Nordzucker und KWS sowie mit der Anbindung an das Logistikunternehmen verbracht. Alle Beteiligten sind mit dieser Projektlaufzeit zufrieden.
Direkte Kundenanbindung
Hübner von KWS schätzt die sekundengenaue Datenübertragung, auch wenn es ihm nicht so sehr darauf ankommt, ob Bestellungen den Saatguthersteller ein paar Stunden früher oder später erreichen. Viel wichtiger ist ihm, dass er eine direkte Anbindung zu seinen Kunden hat. Bislang hat KWS die Samen in Lkw-Ladungen zu den Nordzucker-Fabriken gekarrt. Auf welchen Äckern die Rüben besonders gut gediehen oder wo sie mehr Grün als Frucht entwickelten, konnte bei KWS niemand sagen. Heute weiß Berater Hübner wenigstens, auf welchem Hof das akribisch polierte (in runde Formen gebrachte) und pillierte (mit Insektiziden umhüllte) Saatgut zum Einsatz kommt. Sollten in Zukunft Schädlinge oder Krankheiten eine Rübensorte befallen, so könnte Hübner den betroffenen Bauern gezielt sagen, wie das Übel zu bekämpfen ist.
Gehen die Landwirte solchen Empfehlungen nach, müssen sie seit diesem Jahr alle ihre pflanzenbaulichen Maßnahmen in der "Acker-Schlagkartei" protokollieren. Für jedes Feld halten sie in dieser Kartei fest, welche Rübensorte sie gepflanzt, womit sie wann gedüngt und wodurch sie die Pflanzen geschützt haben. Diese Karteikarten führen die Bauern entweder auf Papier oder in einem von etwa vier bis fünf etablierten Softwareprogrammen zur Ackerverwaltung.
Geplant ist von Nordzucker-Seite, den Landwirten in der nächsten Saison mit einem Portal bei der Pflege ihrer Acker-Schlagkartei zu helfen. Bis diese Lösung zum Einsatz kommt, muss sie sich jedoch noch in einem Pilotprojekt mit rund 60 Landwirten bewähren. Ab Juni sollen diese Passwörter bekommen, mit denen sie bald auch ihr Saatgut über das Portal bestellen können. Bei der Bestellung wird dann zudem die Anerkennungsnummer der Landwirtschaftskammer übermittelt, sodass der Landwirt die verbürgte Qualität seines Saatguts nicht händisch in die Acker-Schlagkartei übertragen muss.
Papierloses Rübenmanagement
Jung von Nordzucker träumt davon, das gesamte Rübenmanagement eines Tages papierlos zu gestalten, auch wenn er niemanden dazu zwingen will, auf Papier zu verzichten. Was wie eine angestaubte Vision aus den Anfängen der EDV klingt, könnte tatsächlich Realität werden. Da Bauern nicht als Freunde von Bürokratie gelten, käme ihnen eine Onlinelösung recht, die neue gesetzliche Anforderungen für den Zuckeranbau gleich mit erschlägt. Landwirte, KWS und Nordzucker ziehen bei den Auflagen der Verbraucherschutzministerin an einem Strang. "Gentechnisch veränderte Rüben wollen wir nicht", sagt Jung, der in diesem Punkt auf Regierungslinie liegt.