Der digitale Wandel macht auch vor der Automotive-Branche nicht halt. Vom "Auto der Zukunft" ist die Rede - vernetzt, umweltschonend, selbstfahrend. Bedrohungen seitens neuer Herausforderer wie Google oder Tesla, die traditionelle Automobilhersteller in Sachen Elektroantrieb und Selbststeuerung bereits überholt haben, sind nur ein Faktor, der aktuell auf die Branche einwirkt.
Das Fünf-Kräfte-Modell von Michael E. Porter, Wirtschaftswissenschaftler und Professor an der Harvard Business School, zeigt auf, wie die Wettbewerbssituation im Automotive-Bereich momentan aussieht: Das physische Produkt konkurriert mit dem digitalen Service. Für Käufer ist nicht länger der Besitz eines Autos oder die Marke an sich entscheidend, vielmehr zählen das Fahrerlebnis und der gebotene Service. Die Zukunft der Branche wird allerdings nicht nur vom Kunden bestimmt,sondern auch durch die Zulieferer, die den Herstellern die nötigen digitalen Komponenten liefern - sei es für Assistenzsysteme, Remote-Funktionen, Überwachung oder Selbstdiagnose.
In der Forschung und Entwicklung sind Automobilhersteller zunehmend auf spezialisierte Zulieferer angewiesen, die sich ihrerseits den veränderten Kundenwünschen und den Anforderungen der Hersteller anpassen müssen. In den letzten 13 Jahren wurden rund 100.000 Elektroautos und Hybridfahrzeuge in Deutschland verkauft. Prognosen zufolge sind es bis zum Jahr 2020 bereits eine Million. Abgassysteme für elektrisch betriebene Fahrzeuge sind unnötig und auch der Hybridantrieb wird nur ein Übergangsszenario in der Branche sein.
Zuerst das Assessment
Um disruptiven Innovationen wie dem Auto der Zukunft zu begegnen, müssen Automobilhersteller und Zulieferer sich dem digitalen Wandel stellen. Das betrifft nicht nur die IT-Abteilung, sondern alle Bereiche des Unternehmens. Um den Transformationsprozess zu bewältigen, ist erfahrungsgemäß ein Vorgehen in drei Schritten sinnvoll: Im ersten Schritt zeigt ein Assessment, wie es um die digitale Zukunftsfähigkeit der Produkte, der Kern- beziehungsweise Kundenprozesse und der IT eines Unternehmens bestellt ist. Anschließend wird der IT-Bereich und als Drittes schließlich ein Geschäftsbereich, in unserem Fall die Produktion, oder gleich das ganze Unternehmen unter die Lupe genommen.
Das hier vorgestellte Assessment dient dazu, das Management für die Themen Cloud Computing und Digitale Transformation zu sensibilisieren und zu bewerten, wie sich das Unternehmen hierzu positioniert hat.
Das Assessment sollte nicht länger als sechs Stunden dauern. Wir starten früh um 8.30 Uhr. Als Teilnehmer sind die Leiter des Unternehmens gesetzt inklusive der IT-Leitung. Bevor das Assessment beginnt, haben wir bereits ein zirka zweistündiges Gespräch geführt, in dem die Rahmenbedingungen festgelegt und vereinbart wurde, welche Unternehmensdaten wir vorab erhalten und im Assessment verwenden können.
Folgende Daten fragen wir dabei an:
Organisations-Charts der ersten bis dritten Ebene
Werke und Niederlassungen weltweit
Umsätze und Ertragszahlen
Anzahl der Mitarbeiter, wenn möglich im Organisations-Chart enthalten
Produkte und Services des Unternehmens
Außerdem recherchieren wir vorab im Netz und auf der Unternehmens-Webseite nach weiteren Informationen.
Der Tag der Bestandsaufnahme beginnt
Von 08:30 bis 09:00 werden die Rahmenbedingungen und die Erwartungen geklärt, sowie die Agenda des Tages abgestimmt. Wir arbeiten online mit Templates, so dass die Ergebnisse für alle sichtbar festgehalten werden, aber auch mit Visualisierungsmethoden. Wenn es die Räumlichkeiten zulassen, erstellen wir im Laufe des Assessments ein sogenannte Big Picture auf einem an der Wand befestigten großen altbewährten "Brown Paper".
Um 9:00 geht es zur Sache. Die Geschäftsleitung erläutert die Produkte und Produktgruppen und teilt diese gegebenenfalls nach Top-Sellern, Auslaufprodukten und Neuentwicklungen ein. Von den Produktgruppen gehen wir dann zügig zu den Prozessen über; Produkte kann es ja nur geben, wenn die notwendigen Kernprozesse dafür etabliert sind. Die Produktgruppen werden mittels eines Templates oder am Brown Paper den Kernprozessen zugeordnet.
Zu jeder Produktgruppe stellen wir dieselbe Frage: Welche Kernprozesse gibt es für diese Produktgruppe im Unternehmen?
Entwicklungs-Prozess
Sales-Prozess
Auftragsabwicklungs-Prozess
Fertigungs- und Montageprozesse
After-Sales-Prozess
Diese Fragen gelten aber nur für Unternehmen, die in Sachen Digitalisierung ganz am Anfang stehen. Befinden sich die Organisationen bereits in der digitalen Transformation, ändern sich gerade die sonst so stabilen Kernprozesse radikal. Darauf gehe ich in einem späteren Abschnitt genauer ein.
10:00 Uhr. Die Kernprozesse sind den Produkten zugeordnet. Die Reaktion auf den ersten Schritt zum Big Picture ist meistens: "Gute Übersicht - hätten wir auch selbst machen können!" "Dieses Bild sollte jeder im Unternehmen kennen!"
Es folgt eine 20minütige Pause mit der Ankündigung, dass danach die wichtigsten IT-Applikationen den Kernprozessen zugeordnet werden. Die Zuordnung der Applikationen wird mithilfe des Templates stark beschleunigt und vereinfacht. Parallel wird in der Regel das Big Picture am Brown Paper nachgezogen.
Die Erkenntnisse der Applikationszuordnung sind: Die wichtigsten Applikationen sind im Entwicklungs- und Auftragsabwicklungsprozess angesiedelt. In der Fertigung und Montage hat der IT-Bereich in unserem Fall keine Applikationen im Einsatz. Stanz-, Press-, Schweißsysteme inklusive Infrastruktur aus physischen Komponenten, Elektronik, Hardware, Firmware, Betriebssystem und Mikroprozessoren sowie Software werden durch einen externen Dienstleister oder die Fertigung selbst gesteuert und betrieben. Wir fragen nach, wie es mit den Compliance-Anforderungen im Produktionsbereich steht und ob das Thema Industrie 4.0 im Unternehmen diskutiert wird.
11:20 Uhr Wenn es die Räumlichkeiten zulassen und die Teilnehmer einverstanden sind, teilen wir die Gruppe in den IT-Bereich und die Unternehmensleitung auf. Mit den IT-Verantwortlichen tauchen wir wiederum mittels Templates in die Architektur der Applikationen ein und sensibilisieren für das Thema Business-Objekte. Diese sehen wir in Verbindung mit der Verbauung in den Prozessen und der Architektur als wichtigen Aspekt, um die Kritikalität und Zukunftsfähigkeit der Applikationen bewerten zu können.
Da diese Themen nur kurz gestreift werden können, wird dieser Teil des Assessment zu einer kurzen aber intensiven Diskussion mit den IT-Verantwortlichen genutzt.
Parallel wird der Geschäftsleitung eine Kurzpräsentation zu Cloud Computing und digitaler Transformation vorgestellt, in die aktuelle für das Unternehmen relevante Informationen einfließen.
Nach dem Mittagessen geht es um 13.30 Uhr in die Feedback-Runde: Wir erläutern, wo wir Handlungsbedarf sehen und wie die nächsten Schritte aussehen könnten - nämlich die Bestandsaufnahme im IT-Bereich.
IT-Bestandsaufnahme
Die Bestandsaufnahme des IT-Bereichs bewertet drei Perspektiven: die des Geschäfts, der Technologie und der Service-Orientierung.
In der ersten Perspektive gilt es, den Geschäftszweck der IT zu klären:
Wie ist der IT-Bereich als Dienstleister des Unternehmens aufgestellt?
Welche Ressourcen, bestehend aus IT-Budget, Mitarbeiterkapazitäten und Qualifikationen stehen zur Verfügung?
Wie werden diese in den Prozessen eingesetzt?
Welche IT-Produkte und IT-Services werden dem Unternehmen zu welchen Kosten bereitgestellt?
Mit dem BI-unterstützten Verfahren Activity-based Costing (ABC) wird in dieser Betrachtung eine nachhaltige Kosten- und Leistungstransparenz für den IT-Bereich hergestellt.
Die Technologie-Perspektive klärt folgende Fragestellungen:
Welchen Durchdringungsgrad haben die Applikationen in den Management- und Support-Prozessen, vor allem aber in den Kunden- beziehungsweise Kernprozessen?
Wo machen Cloud-Technologien für das Unternehmen Sinn?
Gibt es bereits Ansätze von Industrie 4.0?
Gibt es Ideen, wie die aktuellen Produkte durch Digitalisierung optimiert werden können?
Mit einem ebenfalls BI-unterstützen Verfahren zum Enterprise Architecture Management (EAM) werden die Applikationen samt Architektur auf ihre Zukunftsfähigkeit und Cloud-Readiness untersucht.
Die dritte Perspektive betrifft die Service-orientierte Architektur (SOA). Mit diesem schon häufig zu Unrecht für tot erklärten Verfahren wird festgestellt, welche Services - basierend auf Geschäftsobjekten - im Unternehmen angewendet werden.
Aus diesen Erkenntnissen kann dann das Funktionen-Modell, häufig auch Domänen-Modell genannt, aufgebaut und vervollständigt werden. Dieses Modell ist Grundlage für die Gesamtheit der aktuellen Services im Unternehmen.
Durch die Verknüpfung dieser drei Perspektiven auf Basis Business Intelligence mit den Verfahren ABC, EAM und SOA werden folgende Ergebnisse und Erkenntnisse generiert.
Zurück zu unseren Praxiserfahrungen mit der Zukunftsfähigkeit des IT-Bereichs in der Autozuliefererbranche. Nicht selten, und so auch in diesem Fall, sind die Ressourcen des IT-Bereichs durch das operative Geschäft nahezu vollständig gebunden - ohne Aussicht auf Verbesserung. Daher gilt es erst einmal den IT-Verantwortlichen und -Mitarbeitern die Sorge zu nehmen, dass es in der Bestandsaufnahme um Kürzungen des IT-Budgets gehen könnte. Es geht vielmehr darum, wie das IT-Commodity-Geschäft insbesondere mit Cloud-Technologie automatisiert werden kann.
So können die dringend benötigten Ressourcen für die Digitale Transformation gewonnen werden. Die Geschäftsleitung muss die IT-Abteilung überzeugen, dass die nun geschaffene Kosten- und Leistungstransparenz als Meilenstein für die Neuausrichtung der IT notwendig ist.
HOSTING ist nicht CLOUD
Im Verlauf des Projekts hat sich leider schnell herausgestellt, dass der langjährige Hoster gerade erst neue Verträge für das Leasing der IT-Infrastruktur mit Laufzeiten von drei bis fünf Jahren durchgesetzt hat. Die so gebundenen Mittel in Millionenhöhe blockieren nun die geplanten SaaS- und PaaS-Migrationen ganz erheblich. Selbstredend hatte der Hoster seine Leistung als "Cloud-Technologie" angeboten. So bleibt der IT-Bereich auf seinen operativen Aufgaben sitzen und benötigt weitere Ressourcen, zur Entwicklung einer zukunftsfähigen IT.
Weitere Erkenntnisse waren, dass die interne IT keine Applikationen für Fertigung und Montage bereitstellt und damit die Industrie-4.0-Initiative ohne internes IT-Know-how bewerkstelligt wird. Es gibt zudem einige Ansätze zu Digitalisierung von Kundenprodukten, aber auch hier ist der IT-Bereich nicht involviert.
Was nun absolut nicht helfen wird, sind Rechtfertigungen und die Suche nach Schuldigen. Vielmehr sollte die Erkenntnis reifen, dass im Rahmen der Digitalen Transformation auch die Führungsprozesse neu durchdacht werden müssen.
Bestandsaufnahme im Produktionsbereich
Auch im Produktionsbereich wurden Geschäfts-, Technologie- und Serviceperspektive mit den Verfahren ABC, EAM und SOA bewertet. Die Voraussetzungen für eine diesbezügliche Bestandsaufnahme in Fertigung und Montage in einem ausgewählten Pilotwerk waren gut. Die Budget- und Kostensituation, Mitarbeiter-Kapazitäten und -Skills, Prozesse und Produkte sind in einer brauchbaren Form dokumentiert. Auch die Geschäftsobjekte sind hinreichend gut bekannt - das Geschäft der Produktion ist klar definiert.
Aufnahme der Produktionsapplikationen resp. Betriebsmittel
Die Schwierigkeit bestand nun darin, die Applikationen beziehungsweise Systeme aufzunehmen. Alle Arten von Betriebsmitteln waren hier interessant, zum Beispiel Messgeräte, Stanz-, Press-, Fräs- und Schweißsysteme sowie Förder- und Montageanlagen.
Diese Systeme wurden dann - versehen mit erweiterten Attributen im IT-Layer - nach dem Verfahren EAM erfasst.
In der Regel bestehen diese Systeme aus physischen Komponenten wie zum Beispiel Mechanik und Elektronik, aus IT-Komponenten wie Mikroprozessoren, Speicher, Software, Betriebssystem, Hardware oder Sensoren sowie aus Anschlüssen wie Netzwerk, User-Interface oder Programmier-Schnittstelle.
Häufig sind diese Systeme bereits über sogenannte Zellenrechner zum Datenaustausch miteinander verbunden. Nach der Erfassung der Systeme, startet die Analyse, mit dem Ziel, Industrie-4.0-Potenziale zu erschließen. Folgende Fragen müssen dazu geklärt werden:
Wie sieht das Betriebs- beziehungsweise Sicherheitskonzept aus?
Wurden bereits Compliance-Regeln vereinbart?
Wie kritisch sind die Systeme für den Produktionsablauf beziehungsweise den Kunden?
Gibt es eine Backup-Strategie?
Werden vorhandene Daten ausgewertet oder verwendet?
Welche Daten gibt es zu Rüst- und Standzeiten, Fehlermeldungen und Wartungsintervallen?
Ergebnisse
Die Potenziale bezüglich Industrie 4.0 sind noch weitgehend ungenutzt, obwohl insbesondere die vorhandenen Daten analysiert werden könnten. Das gilt etwa für die zentrale Auswertung von Ausfall-, Rüst- und Laufzeiten der Systeme, von Log-Dateien oder für die Optimierung des Fertigungsprogramms.
Generell kann das Thema Industrie 4.0 in folgende Stufen eingeteilt werden:
Überwachung der Systeme, durch die Analyse vorhandener Daten und gegebenenfalls zusätzlichen Sensoren;
Einzeloptimierung der Systeme;
Vernetzung der Systeme zur übergreifenden Optimierung der Produktionsabläufe.
Mit überschaubarem Aufwand wurden also schnell Erkenntnisse gewonnen, die teilweise sofort umgesetzt wurden. Das Versuchsstadium sollte nun bald verlassen werden und eine einheitliche Strategie für Industrie 4.0 definiert werden.
Zusammenfassung
Die Digitale Transformation betrifft das gesamte Unternehmen und oft auch dessen Geschäftsmodell. Die Bestandsaufnahme in der IT und den Geschäftsbereichen mit dem vorgelagerten Assessment schaffen Transparenz und sind die Basis für eine nachhaltige Digitalisierungsstrategie. Die Veränderungen werden sich auf alle Teile des Unternehmens auswirken. Diesen Wandel gilt es nun proaktiv zu gestalten.
Während man noch vor einigen Jahren der Meinung war, dass Prozessmodelle und insbesondere die Kernprozesse stabil bleiben, muss man nun feststellen, dass sich gerade die Kern- beziehungsweise Kundenprozesse im Rahmen der digitalen Transformation schnell und tiefgreifend wandeln.
Der Entwicklungsprozess eines vormals physischen Produkts wird nun zusätzlich noch zum Software-Entwicklungsprozess. Der After-Sales-Prozess wird einerseits zum Produktbetriebs- und andererseits zum Produktdaten-Analyse-Prozess. Eine enge Verbindung zwischen der Entwicklung neuer digitaler Produkte und deren Betrieb ist dringend erforderlich, um schnelle Änderungen am Produkt vornehmen zu können. Unter dem Begriff DevOps (Development and Operations) wird dieser Prozess zusammengefasst.