Die Ausgangssituation für Nearshore- und Offshore-Anbieter in Deutschland könnte derzeit kaum besser sein. Fachkräftemangel und Kostendruck machen den IT-Organisationen der Anwender das Leben schwer. Und die Preisunterschiede sind trotz der steigenden Löhne in vielen Offshore-Regionen immer noch gewaltig: Einer aktuellen Marktanalyse von Berlecon zufolge betragen die Tagessätze für IT-Dienstleistungen, die an Near- oder Offshore-Standorten erbracht werden, gerade einmal ein Viertel bis ein Drittel des in Deutschland üblichen Preisniveaus.
Trotz alledem hält sich der überwiegende Teil der hiesige Anwender und IT-Dienstleister beim Thema Offshoring bislang zurück. Laut Berlecon hatten nur gut zehn Prozent der IT-Dienstleister mit 50 oder mehr Mitarbeitern im vergangenen Jahr Offshore-Komponenten in ihre Angebote integriert. Und einer Umfrage des ZEW (Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung) in Mannheim zufolge lagert bislang nur ein marginaler Teil der deutschen Anwenderunternehmen IT-Aufgaben an Anbieter im Ausland aus.
Anwender wenden sich vom klassischen Offshoring ab
Verhindert also die viel zitierte deutsche Zögerlichkeit den hierzulande längst fälligen Offshoring-Boom, wie manche Auguren meinen? Sicher nicht, denn auch deutsche Unternehmen werden - aller Risikoscheu zum Trotz - ihr Geld nicht dauerhaft auf der Straße liegen lassen. Außerdem stehen sie mit ihrer Skepsis durchaus nicht allein. Wie die weltweite Anwenderbefragung der Brown Wilson Group ("Black Book of Outsourcing") zeigt, legen auch in anderen Ländern viele Firmen wieder ein stärkeres Gewicht auf lokale Dienste und wenden sich von klassischen Offshore-Modellen ab. Man kann darüber streiten, ob und inwieweit eine Befragung von 24.000 Untenrehmen weltweit, die in irgendeiner Art in Outsourcing-Prozesse involviert sind, tatsächlich für eine verlässliche Messung der Kundenzufriedenheit taugt. In jedem Fall deuten die Ergebnis aber auf ein wichtiges Problem hin: Offshoring nach dem Motto "alles raus nach Indien" funktioniert nicht - und hierzulande schon gleich gar nicht.
Dass sich die hiesigen Unternehmen einen Provider wünschen, der in Deutschland präsent ist und deutsche Mitarbeiter vor Ort beschäftigt, ist laut Berlecon aber nicht nur eine Mentalitätsfrage, sondern hat vor allem wirtschaftliche Ursachen. So seien die Unterschiede in Kultur und Sprache zwar immer wieder ein Thema. Die damit verbundenen Probleme würden jedoch meist unterschätzt. Auf der einen Seite propagieren die Provider die wachsende Bedeutung der IT für die Prozessgestaltung im Unternehmen. Auf der anderen Seite sollen die Mitarbeiter der deutschen Kunden ihre IT-Probleme dem Service-Desk in Mumbai oder Bratislava in einer für sie ungewohnten Sprache schildern. "Da passt etwas nicht zusammen", so die Experten.
Preisvorteile allein reichen nicht aus
Die Befragungsresultate von Berlecon deuten an, dass dieses Problem mittlerweile erkannt wurde. So hat ein Großteil der befragten Anbieter festgestellt, dass mit Preisvorteilen allein auf dem deutschen Markt kein Blumentopf zu gewinnen ist. Stattdessen gewinnen aus Sicht der Provider Faktoren wie Servicequalität, Branchen- und Prozesskompetenz sowie auch die lokale Präsenz beim Ringen um das Vertrauen deutscher Kunden an Bedeutung. Konsequenterweise planen die meisten Global-Sourcing-Anbieter, ihr Personal sowie die Marketing- und Vertriebsausgaben in Deutschland aufzustocken und Partnerschaften mit lokalen Akteuren zu schließen.
Abzuwarten bleibt, ob diese Absichten tatsächlich auch in Taten münden. Vollmundige Ankündigungen großer indischer und osteuropäischer Anbieter, den deutschen Markt stärker ins Visier zu nehmen, hat es in der Vergangenheit genug gegeben. Die großen Würfe blieben jedoch bislang aus. Stattdessen gab es einzelne Trippelschritte zu vermelden, wie die Eröffnung eines regionalen Lieferzentrums durch Tata Consultancy Services (TCS) im Rahmen eines Outsourcing-Deals mit Nokia Siemens Networks oder die Kooperation zwischen Satyam und Arvato Systems zur Erschließung deutscher Mittelstandkunden. Trotz beeindruckender Wachstumsraten in anderen Ländern sind die Inder und Osteuropäer in Deutschland immer noch kaum sichtbar.
Chancen für mittelständische deutsche Provider
Die Zurückhaltung der Kunden beim Thema Offshoring und das Zögern der Inder ist aber keineswegs als ein Scheitern des Global-Sourcing-Modells an sich zu verstehen, stellt Berlecon klar. Die Kunst liege vielmehr darin, die Offshore-Komponenten so in den Wertschöpfungsprozess zu integrieren, dass die Schnittstelle zum Kunden davon unberührt bleibt. Die Einbindung von Offshore-Ressourcen "durch die Hintertür" gelinge vor allem bei fabrikartigen Ansätzen, wie sie etwa von SAP Consulting im Rahmen der SAP Upgrade Factory oder von IBM Global Technology Services (GTS) in den jüngst erweiterten Remote-Managed-Infrastructure-Services (RMIS) praktiziert würden.
Intelligente Einbindung von Offshore-Ressourcen
Beispiele finden sich aber nicht nur bei den großen Playern. Berlecon Research arbeitet derzeit an einem Fallstudienreport, in dem vier erfolgreiche Global-Sourcing-Modelle mittelständischer ITK-Anbieter aus Deutschland vorgestellt und diskutiert werden. Der Erfolg dieser Ansätze basiert auf dem beschriebenen Muster - also der Einbindung von Offshore-Ressourcen an nachgelagerten Stufen der Wertschöpfung, wogegen an den Schnittstellen zum Kunden einheimisches Personal sitzt. Bei der Erbringung der Backend-Leistungen nutzen die Anbieter zudem die als Managed Services bereitgestellten Personal- und Infrastukturdienste spezialisierter Nearshore-Partner wie Ameria, Cross Border Projects (beide Deutschland) oder Infopulse (Ukraine). Auf diese Weise entsteht eine internationale Lieferkette, bei der die mittelständischen deutschen IT-Dienstleister und Softwareanbieter die Steuerungskompetenz behalten.
Es gibt also hierzulande durchaus Beispiele für eine erfolgreiche Einbindung von Near- und Offshore-Services. Und deutsche IT-Dienstleister sind angesichts ihrer Vor-Ort-Präsenz bestens positioniert, um mittels intelligenter Liefermodelle den hiesigen Global-Sourcing-Markt zu erschließen. Sie sollten deshalb die zögerliche Haltung der großen indischen und osteuropäischen Anbieter sowie die Forderung der Outsourcing-Kunden nach mehr Vor-Ort-Support zum Anlass nehmen, sich selbst an die Spitze der Entwicklung einer neuen Generation globaler Sourcing-Modelle zu stellen.