RFID – Radio Frequency Identification – ist eigentlich ein Traumthema für Paranoiker: winzige Funktransponder, sogenannte Tags, die ganz viel wissen und dieses Wissen auch noch freigeben, wenn sie jemand – unauffällig und unbemerkt – anfunkt. Dezent eingenäht in die Garderobe? Grauenhafte Vorstellung.
Der böswillig Scannende könnte erfahren – und diese Info speichern –, dass eine x-beliebige Person schwarze Jeans vom fiktiven Hersteller "Summers" anhat und in ihrer Umhängetasche "Das Kapital" von Karl Marx, just entliehen in der städtischen Leihbücherei und deshalb ebenfalls mit einem RFID-Tag versehen. Schließlich nutzen Bibliotheken die Technik bereits massiv. Wer die Daten aus diesem Beispiel auswertet, könnte den betreffenden Menschen – handelsübliche Vorurteile vorausgesetzt – für zumindest dubios halten. Und Big-Brother-Paranoikern macht diese Vorstellung eine Heidenangst.
Wozu diese Vorgeschichte? Weil die Story vom RFID-Einsatz beim Modeunternehmen Gerry Weber International AG zeigt, dass es tatsächlich schon eines gewissen Verfolgungswahns bedarf, um die RFID-Technik gefährlich zu finden. Jedenfalls gilt das für ihren Einsatz in Textilien.
Das Modeunternehmen aus Halle in Westfalen wird ab Mitte 2010 sämtliche jährlich hergestellten 25 Millionen Kleidungsstücke mit einem RFID-Tag versehen. Der sitzt auf der Rückseite des üblichen Pflegeetiketts und wird an die 250 Lieferanten in aller Welt geliefert, die ihn nur noch einnähen müssen.
Eine eigene RFID-Infrastruktur mit Lesegeräten und Empfangsantennen brauchen die Fabriken in Asien, Osteuropa oder der Türkei nicht. "Das wäre zu aufwendig und zu teuer – jedenfalls im Moment noch", sagt CIO Christian von Grone. Das Projekt ist sein "Baby", er hatte das Modeunternehmen schon vor mehr als zwei Jahren als freier Berater beim Thema RFID unterstützt und war dabei so erfolgreich, dass ihn die Ostwestfalen Anfang 2009 zum IT-Leiter und CIO machten.
Erstmals werden die kleinen Dinger auf ihrer Reise nach Europa in großen asiatischen Warenlagern zum Einsatz kommen. Diese Lager betreiben die Logistiker DHL und Hellmann, die dort auf eigene Rechnung gerade die Infrastruktur dafür aufbauen. Irgendwann in der zweiten Jahreshälfte soll alles funktionieren. Ziel ist die automatische 100-Prozent-Kontrolle des Warentransfers von diesen Lagern zu den Groß- und Einzelhändlern der Gerry Weber International AG.
Unterstützung bekam der CIO beim RFID-Projekt unter anderem von den Logistikexperten der TU Berlin. Stefan Vogeler, wissenschaftlicher Mitarbeiter: "Bekleidung eignet sich extrem gut für den Einsatz von RFID. Denn erstens lenken Textilien die Funksignale nicht ab, und zweitens sind Produktion und Distribution von Mode bis zum Endverbraucher ein stark arbeitsteiliger Prozess, in dem eine Vielzahl von Erfassungsvorgängen stattfinden, die durch RFID automatisiert werden können."
Zwei Stunden statt zwei Tage
Diese Erfassung, das ist in diesem Fall der wichtigste Vorteil, sind mithilfe der Funk-Tags blitzschnell und nahezu fehlerfrei machbar. RFID-Lesegeräte brauchen keinen Sichtkontakt zum Produkt, um dessen EPC, den elektronischen Produkt-Code, zu erfassen. Der Inhalt einer Palette mit geschlossenen Kartons darauf kann in Sekundenschnelle elektronisch gelesen, die Daten ins System gespeist werden. CIO von Grone: "Der gesamte Warenbestand eines Ladens lässt sich in zehn Minuten erfassen, die rechtssichere Inventur dauert ungefähr zwei Stunden." Auf herkömmlichem Weg mit dem alten Strichcode benötige dieselbe Inventur zwei Tage.
Solche Argumente sind deshalb wichtig für von Grone, weil die Einzelhändler unbedingt mit ins Boot müssen. Auf jeden Laden kommen inklusive Lesegerät, Antenne und sonstiger Infrastruktur Investitionen von 7000 bis 10 000 Euro zu. "Nur wegen der Inventurschnelligkeit rechnet sich das nicht", gibt von Grone unumwunden zu.
Aber es gibt noch ein weiteres Argument: Diebstahlsicherung wird deutlich billiger. Die eingenähten RFID-Tags übernehmen diese Aufgabe mit, vorausgesetzt, die technische Infrastruktur ist im Laden installiert. Was wegfällt, sind die heute üblichen Plastiksicherungen, die pro Stück und Durchlauf etwa 30 Cent kosten. Nach Berechnung von CIO von Grone amortisiert sich dadurch die technische Infrastruktur nach dem Verkauf von etwa 20 000 Kleidungsstücken. In einem normalen Gerry-Weber-Store dauert das zwei bis drei Jahre.
Was bedeutet, dass sich der Einsatz von Funk-Tags für Billigmarken, die aus Kostengründen auf den Einsatz von Plastiksicherungen verzichten, auch in Zukunft nicht lohnen wird. Von diesem Segment abgesehen, hoffen die westfälischen Modemacher auf eine breite Akzeptanz von RFID in den kommenden Jahren. Steigende Verbreitung senkt die Kosten pro Funk-Tag, und steigende Verbreitung sorgt dafür, dass auch große Warenhäuser eine entsprechende Infrastruktur aufbauen. Gerry-Weber-Produkte gibt es schließlich auch auf gesonderten Flächen in großen Warenhäusern. Für die würde sich die Technik erst lohnen, wenn alle Textillieferanten mitmachten. Anderenfalls müssten Kaufhof & Co. zu Inventur und Diebstahlsicherung auf Dauer eine doppelte Infrastruktur vorhalten.
Die Gerry Weber International AG hatte für die Umsetzung der RFID-Pläne einen Vorlauf von etwa drei Jahren. Der Startschuss fiel erst jetzt, weil die Technik vorher noch zu teuer und nicht zuverlässig genug war. Christian von Grone: "Vor drei Jahren kostete ein Tag noch 25 Cent, heute sind es zehn Cent." Investiert hat das Unternehmen etwa 2,5 Millionen Euro, wovon "ein kleiner Teil" aus öffentlichen Fördermitteln kam. Für den Roll-out fallen noch mal etwa 2,7 Millionen an, und durch das Einnähen der Tags in alle Produkte entstehen Kosten von 2,2 bis 2,3 Millionen Euro pro Jahr.
Gewinn durch fehlerfreie Daten
Das Geld soll natürlich wieder reinkommen. Erstens durch schnellere Inventur und billigere Diebstahlsicherung. Dieser Spareffekt kommt zwar den Läden zugute, aber 185 davon gehören der Gerry Weber International AG selbst, das Geld bleibt also mindestens zum Teil in der Familie. Zweitens und viel wichtiger: mehr Umsatz für alle durch fehlerfreiere Bestandsdaten und weniger Inventurverluste. Gemeint ist damit nicht, dass weniger geklaut wird. Denn mehr als laut piepsen kann auch die RFID-Technik nicht, wenn die Bluse mit dem Tag dran unbefugt aus dem Laden getragen wird.
Aber: Die Hälfte aller Inventurverluste ist nicht auf Diebstähle zurückzuführen, sondern auf Fehlbuchungen und Irrtümer. Besonders bei Kleidungsstücken, die immer "gehen", die jeder Händler ständig in allen Größen vorrätig haben muss, weiße Blusen etwa oder Jeans. "Bestandsungenauigkeiten in diesem Bereich sind ein Riesenproblem", sagt von Grone.
Datenschutz ist kein Problem
Ein Beispiel: Durch Erfassungsfehler beim Lesen des Strichcodes glaubt die Warenwirtschaft, es sei noch eine Jeans in Größe 38 am Lager. Das System bestellt deshalb nicht nach. Das Personal sucht danach, findet nichts, glaubt aber zunächst dem System. Und kann deshalb der ersten Kundin, wenn es schlecht läuft, auch der zweiten und dritten, die Hose nicht verkaufen. Der Umsatz ist verloren. Die RFID-Technik macht keine oder zumindest viel weniger solcher Fehler.
Und der Datenschutz? "Der Einzelhandel ist eigentlich das schlechteste Beispiel für Gefährdungen durch RFID, weil die Tags keine persönlichen Daten über jemanden enthalten, sondern nur über ein Produkt", sagt Harald Kelter, Sicherheitsexperte beim BSI, dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik. Und sogar die Produktinformationen lassen sich entfernen. Gerry Weber schreibt auf seine Pflegeetiketten (in Englisch): "Enthält RFID. Vor dem Tragen entfernen." Und auf Wunsch wird das Etikett mit dem Tag darauf sogar nach dem Kauf noch im Geschäft herausgeschnitten.