Abhängig vom Internet. Wir sehen Teenager vor Bildschirmen, die Spiele wie "World of Warcraft" zocken. Viele zucken mit den Schultern: Typisch in dem Alter. Lass sie doch ein paar Nächte durchzocken. Sie kommen schon wieder zur Besinnung. So manche Sucht wird hierzulande verniedlicht, üblicherweise wird höchstens Alkohol als ernst zu nehmendes Problem genannt oder der Missbrauch von Medikamenten. Gemessen an der Zahl der Betroffenen sind diese beiden Abhängigkeiten auch weiterhin weit vorn, aber die Zahl derer, die süchtig nach dem Internet sind, steigt rapide an.
Die umfangreichsten Zahlen bietet eine Studie vom Bundesministerium für Gesundheit. Demnach sind hierzulande 800.000 Menschen abhängig vom Internet. Dazu kommen 3,6 Millionen Menschen, die unter Internet-Missbrauch leiden. Ihr Umgang mit dem Medium gilt als "problematisch" - bei Alkoholkranken benutzt man dieselben Definitionen.
Der Großdenker und Internetpionier Jaron Lanier sagte bereits 2010 warnend: "Wir sollten zum Nutzen zukünftiger Generationen über die digitalen Schichten nachdenken, die wir jetzt legen." Offensichtlich haben wir das in den vergangenen fünf Jahren nur unzureichend getan. Und das Problem betrifft längst nicht mehr nur frustrierte Lehrer, denen die Schüler vor Müdigkeit im Unterricht wegdämmern. Und auch nicht mehr nur frustrierte Ehefrauen, deren Männer sich mit dem Rechner einschließen, weil Cybersex ihnen so viel mehr bieten kann als sie. Es ist ein gesellschaftliches Problem, dass auch Unternehmen betrifft, die deswegen Milliarden Euro an Wertschöpfung verlieren.
Ein Grund, warum Internetabhängigkeit noch nicht voll anerkannt ist, dürfte darin bestehen, dass valide Forschungsergebnisse noch nicht ausreichend vorhanden sind. Der Mediziner und Buchautor Bert te Wildt macht keinen Hehl daraus, dass Ärzte und Psychologen rein wissenschaftlich betrachtet noch ein wenig im Trüben fischen. Dennoch kann er aufgrund seiner langjährigen Erfahrungen Urteile bilden: "Die Internetabhängigen sind die Verlierer der digitalen Revolution."
Für te Wildt gibt es eine simple Logik: "Die sozialen Netzwerke ersetzen reale Kontakte. Der Cybersex ersetzt den realen Sex. Und die Erfolge im Computerspiel ersetzen die Anerkennung in Schule, Ausbildung und Beruf." Für einen gewissen Zeitraum könne die virtuelle Welt darüber hinwegtrösten, was im realen Leben fehlt.
Te Wildt ist Oberarzt der Ambulanz der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie des LWL-Universitätsklinikums Bochum. Er behandelt seit Jahren Internetabhängige und hat seine umfangreichen Erfahrungen im aktuell erscheinenden Buch "Digital-Junkies" aufgeschrieben. Die Lektüre lohnt sich nicht nur für aufgeschreckte Eltern, auch angesichts des kleinen Mankos, dass die knapp 400 Seiten viele vage Formulierungen beinhalten. Ärzte wie te Wildt mögen es nicht, wenn Forschungsergebnisse fehlen. Aber der Autor ersetzt diese so gut es geht mit Belegen aus seinem großen Erfahrungsschatz.
Wie Unternehmen unter der Sucht leiden
Te Wildt sieht im Internet auch etwas grundsätzlich Positives. Es sei das "Werkzeug, mit dem wir die Welt gestalten". Aber es ist eben auch ein "Genussmittel zu unserem Vergnügen". Der Arzt betont die Parallelen zum Alkohol. Viele Abhängige bauen vor allem in Rollenspielen eine Scheinwelt auf. Das geht bei den meisten gut, aber bei immer mehr setzt ein Kontrollverlust ein - durchaus auch gefördert durch die Konstrukte vieler Online-Spiele, die ihre Nutzer durch clever gestaltete Level vom Aufhören abhalten wollen.
Manche Abhängige vernachlässigen lebensnotwendige körperliche Bedürfnisse und vergessen schlichtweg Essen und Trinken. Besonders krasse Fälle werden vor allem aus Südkorea gemeldet - in keinem anderen Land ist Internetabhängigkeit ein so großes Problem. Exakte Forschungsergebnisse über die Todesfälle gibt es allerdings auch hier nicht. Fakt ist aber: An Internetabhängigkeit sterben Menschen - seien es die Betroffenen selbst oder Kleinkinder, die von ihren spielenden Eltern vergessen werden. Doch auch wenn es nicht zum Äußersten kommt - die Folgen von Internetabhängigkeit sind erheblich: Der Tag-Nacht-Rhythmus ist nicht nur gestört, sondern häufig aufgehoben; Schlafmangel ist die Folge, körperlich geht es bergab und das Sozialleben leidet immer mehr.
Unternehmen sind auf verschiedene Weise davon betroffen. Offensichtlich ist die steigende Zahl von Mitarbeitern oder Auszubildenden, deren Leistungsfähigkeit durch die exzessive Internetnutzung massiv sinkt. Zudem sind auch scheinbar erfolgreiche Manager gefährdet. Denn gerade unsere Präsenz als Geschäftsleute stellen wir im Internet - zum Beispiel in Foren wie LinkedIn - möglichst von der besten Seite da. Oder besser gesagt so, wie wir uns gerne selbst sehen würden.
"Die digitalen Techniken helfen uns immer mehr dabei, uns dem idealen Selbstbild anzugleichen", schreibt te Wildt. Nun gibt es psychologisch aber einen wichtigen Unterschied zwischen Selbstvermarktung und Selbstverwirklichung. Durch die Überbetonung des erstgenannten gerate im Internetzeitalter die Entwicklung der Selbstverwirklichung leicht ins Hintertreffen.
Perfektion funktioniert eben nur auf Distanz. "Ruhe scheint immer mehr Menschen zu beunruhigen", urteilt te Wildt. Vielleicht charakterisiert das Arbeitsleben von heute kein Wort besser als "Übersprungshandlung". Stark vereinfacht könnte man den Begriff so erklären: Wir stehlen uns aus einer unangenehmen Situation weg, indem wir uns ablenken lassen. Das kann ein Twitter-Tweet sein, eine Facebook-Nachricht, eine E-Mail oder der Blick auf ein Nachrichtenportal. Ausweichen, aufschieben, ablenken - das steckt hinter dem psychologisch intensiv erforschten Trend zu Übersprungshandlungen.
Das Internet bietet diese Fenster und ist mit dem Smartphone stets in Griffnähe - sei es in Konferenzen oder am Schreibtisch. Doch der Blick in die virtuelle Welt ist nicht nur Usus in unangenehmen oder langweiligen Momenten: Mit der Zeit verstellt er auch das Leben im Hier und Jetzt. Man verliert die Fähigkeiten zur Achtsamkeit oder die, den Moment zu genießen. Oder die Welt um einen herum intensiv beobachtend zu erfassen, wozu auch das "Lesen" von Mitmenschen gehört - im Zweifel auch in Kundenterminen: "Mit den mobilen Endgeräten wird es immer schwieriger, einfach einmal nur zu sein", urteilt der Fachmann Bert te Wildt. Im Internet gehe es nicht um Achtsamkeit, sondern um Beachtung - ein erheblicher Unterschied.
Auch Facebook und Co können süchtig machen
"Zur Professionalität gehören auch Erholungszeiten", rät der Arzt. Eine scheinbar triviale Aussage - doch ist es nicht in der Regel so, dass gerade die ständige Erreichbarkeit als professionell gilt? Souverän sei in seinem Job nur der, der nicht ständig auf Nachrichten antwortet, sagt te Wildt.
Zudem haben viele erfolgreiche Geschäftsleute das Handeln mit Aktien, Gold und anderen Anlageprodukten über das Internet für sich entdeckt. Hier treten dieselben süchtig machenden Prinzipien auf wie beim Glücksspiel. Wer die Interviews mit Uli Hoeneß genau gelesen hat, kann auch hier zu dem Schluss kommen, dass eine Form der Internetabhängigkeit vorliegt.
Zwar ist die Abhängigkeit von sozialen Netzwerken nicht die häufigste Form der Internetsucht-Varianten, aber Fachleute unterschätzen nicht, dass sich immer mehr Menschen einer Sucht nach Facebook und Co hingeben, um direkte Begegnungen mit Menschen möglichst zu vermeiden. Zum zweiten verschwimmen die Grenzen zwischen Spielen und Netzwerken. Elemente des einen tauchen beim anderen immer häufiger auf: Facebook bindet Nutzer über Spieler länger an seine Plattform und Game-Entwickler bilden Netzwerke, um die Zocker an sich zu binden.
Die Folgen der Internetabhängigkeit zu bekämpfen ist langwierig und kompliziert. Prävention ist wie immer das beste Mittel. Und hier geht es um mehr, als "nur" den Internetkonsum der lieben Kleinen zu überwachen: Ausgangspunkt für die meisten Abhängigen sind negative Erfahrungen in der realen Welt. Rückschläge, Kränkungen, Verletzungen, mit denen sie nicht fertig wurden. Auch weil ihnen niemand im realen Leben geholfen hat. Da ist der Weg ins virtuelle leichter.
1789 schrieb der Pädagoge Joachim Heinrich Campe: "Das unmäßige und zwecklose Lesen macht zuvörderst fremd und gleichgültig gegen alles, was keine Beziehung auf Literatur und Bücherideen hat." Campe meinte offensichtlich nicht das Internet, sondern auf die zu der Zeit enorm erfolgreichen Groschenromane. Die sind als stete Ablenkung immerhin kein nennenswertes Problem mehr. Die Ablenkungen des Internets werden dagegen bleiben. (Handelsblatt)