Technik und ihre Nebenwirkungen bereiten uns mannigfache Probleme, die dann nur mit Hilfe von Technologie lösbar sind. Die Tatsache wiederum, dass solche Lösungen immer notwendiger und immer machbarer werden, verändert die Ansprüche und Möglichkeiten von IT-Abteilungen in noch nie dagewesener Weise.
Was das konkret bedeutet, lässt sich gut an der Rolle von Christian Niederhagemann aufzeigen, der seit August 2017 "Group Vice President Information Technology" - vulgo CIO - bei Mann+Hummel in Ludwigsburg ist.
Das Unternehmen, das Flüssigkeits-, Luft und Innenraumfilter sowie Ansaugsysteme herstellt und knapp 90 Prozent seines Umsatzes mit der Automobilindustrie macht, ist ein klassischer "Hidden Champion": Weitgehend unbekannt bei Ottonormalverbraucher, mit mehr als 20.000 Mitarbeitern und einem Umsatz im von knapp 3,5 Milliarden Euro (2016) ein veritabler Konzern, dennoch nicht börsennotiert und in Familienbesitz. Laut vorläufigen Geschäftszahlen, soll der Umsatz im Jahre 2017 sogar auf 3,9 Milliarden Euro steigen.
Auch Luftfilter werden intelligent
Anlässlich des Einstiegs in seinen neuen Job bezeichnete es Niederhagemann als seine wichtigste Aufgabe, die IT-Organisation an künftigen - auch globalen - Kunden- und Businessanforderungen auszurichten.
Diese Anforderungen entstehen konkret zum Beispiel dadurch, dass Mann+Hummel einen Teil seiner jüngsten Aktivitäten und Akquisitionen am 1. Januar 2018 zur neuen Division "Life Science and Environment" verschmolzen hat.
Geschwindigkeit der Produktentwicklung steigt
Ein spannendes Produkt ist dabei der intelligente Luftfiltermonitor "Senzit" für LKW oder Landmaschinen. Durch den Einsatz von Sensoren misst das an dem Filter angebrachte kleine Gerät, wann der Filter voll ist und ersetzt werden muss.
Mithilfe einer App bekommt das Wartungspersonal diese Info auf den PC oder das Smartphone gespielt und kann den Tausch dann individuell vornehmen. Ein solches Verfahren ist deutlich effizienter und kostengünstiger als der Standardaustausch nach X Betriebsstunden unabhängig vom individuellen Zustand des Filters.
"Die Geschwindigkeit bei der Entwicklung und Umsetzung solcher Innovationen ist deutlich höher als bei OEM-Produkten für die Autoindustrie", so CIO Christian Niederhagemann.
Mit einem MVP schnell loslegen
Während dort allein das aufwändige Zertifizierungsverfahren Monate dauern kann, startet man hier auch mal mit einem MVP, einem "Minimum Viable Product", also einer Version, die gerade eben einsatzfähig ist und so als Grundlage für weitere Entwicklungsarbeiten dient.
Entwickelt und umgesetzt wurde der intelligente Filter von einer Mann+Hummel-Tochtergesellschaft in den USA, die Corporate IT habe "gar nicht so viel dazu beigetragen, lediglich hier und da etwas beraten, vor allem dort, wo es um den Massenbetrieb der Anwendung geht", so CIO Niederhagemann.
Die IT darf nicht alles vorschreiben
Was aber keineswegs heißt, dass in seinem Unternehmen die Fachabteilungen auf eigene Faust Lösungen einkaufen und installieren, auf dass sich neben der zentralen eine im Verborgenen wuchernde, kaum betreibbare Schatten-IT entwickele.
Und es bedeutet auf der anderen Seite auch nicht, dass die IT-Abteilung für jedes Problem genau eine Lösung vorschreibt - wie dies im Falle der Teilautomatisierung von Prozessen via ERP üblich war - und teilweise noch ist.
Mit Multi-Vendor-Strategie fast alle Wünsche erfüllen
Der Königsweg dazwischen heißt Multi-Vendor-Strategie. Christian Niederhagemann: "Bei Cloud-Anwendungen zum Beispiel haben wir alle am Markt relevanten Produkte im Portfolio. Daraus wählen wir gemeinsam mit dem Business die beste Lösung aus, die wir dann nicht nur zuverlässig betreiben und abrechnen können, sondern auch testen und evaluieren."
Wer dabei zuverlässig verhindern will, dass die Fachbereiche zusätzlich noch Lösungen an der IT vorbei beschaffen und installieren, der schafft das nach Ansicht von Christian Niederhagemann keinesfalls mit Drohungen oder Strafen, sondern nur mithilfe von Kommunikation.
"Wir gehen aktiv auf die Fachbereiche zu, zeigen auf, welche Möglichkeiten wir haben und dass sich damit circa 90 Prozent aller Wünsche erfüllen lassen." Häufig seien die Kollegen dann erstaunt über die Breite des Angebots.
IT und Business bauen gemeinsam den "Feinstaubfresser"
Eine in diesem Sinne gelungene Kooperation zwischen IT und Business war die Entwicklung des "Feinstaubfressers". Feinstaubpartikelfilter, wie die Geräte offiziell heißen, saugen Umgebungsluft aktiv an und filtern sie anschließend, reduzieren so die Konzentration der höchst gesundheitsschädlichen Melange.
Die Geräte können stationär am Straßenrand aufgestellt oder direkt in Fahrzeuge eingebaut werden. Das geschieht aktuell in fünf elektrischen StreetScooter-Lieferwagen der Deutschen Post. An deren Unterseite ist ein solcher aktiver Filter von Mann+Hummel installiert, er nimmt hier (mindestens) so viele Partikel auf, wie beim Fahren durch Reifen-, Bremsen- und Straßenabrieb entstehen.
Da die Lieferwagen zudem keinerlei Abgase ausstoßen und auch keinen Lärm machen, werden sie durch die Filter zu den weltweit ersten emissionsneutralen Fahrzeugen. Nach erfolgreichem Test ist ein serienmäßiger Einsatz möglich, insgesamt betreibt die Deutsche Post 5000 StreetScooter.
Auch diese Filter sind mit Sensoren ausgerüstet, um die Effizienz der Systeme via Online-Monitoring zu überprüfen. Es erfasst Informationen über Filtrationsleistung, gereinigte Luftmenge, Feinstaubkonzentration sowie Wetterdaten, die anschließend in einer Cloud zusammengeführt, durch eine Webschnittstelle dargestellt und ausgewertet werden können. Für dieses Projekt stellte die IT also die technische Plattform, ihr Know-how und Ressourcen bereit.
Agil und Dienstleister sein
Hardware, Sensoranbindung, Big Data - derart komplexe Projekte lassen sich nach Ansicht von Christian Niederhagemann heute erstens nur agil, also schrittweise, umsetzen und zweitens nur, wenn sich die IT-Abteilung als Dienstleister versteht, das heißt die gewünschten Ressourcen bereitstellt und sie kontrolliert managt.
Und sein Verständnis von der Rolle dieses Dienstleisters geht noch einen Schritt weiter: "Heute muss die IT vordenken, was das Business künftig braucht. Sie muss aufzeigen, was geht, und nicht, was nicht geht."
Das gilt nicht nur für neue Produkte und neue Divisions, sondern auch für das etablierte Standardsortiment von Mann+Hummel. Auch hier, sagt Niederhagemann, "gibt es neue Möglichkeiten, unser Business noch besser zu betreiben, und externe Anbieter stellen viele innovative Ansätze bereit. Die gilt es zu orchestrieren und nahtlos in die vorhandene Architektur zu integrieren."
Weitermachen wie bisher ist keine Option
Zwar könne man technisch und inhaltlich an vielen Stellen auch noch weitermachen wie vor zehn Jahren, so der CIO, jedenfalls theoretisch. Praktisch sei das aber schon deshalb nicht möglich, "weil sowohl das Business als auch die IT den Anspruch hat, die vorhandenen Möglichkeiten auch zu nutzen - und zwar so schnell und so effektiv wie möglich."
Das gilt auch für die Zukunft der IT, an der Christian Niederhagemann und sein Team intensiv arbeiten. Der CIO ist davon überzeugt, dass sich Business und IT insofern immer weiter annähern, als IT-Mitarbeiter Fachthemen kennen und Business-Leute IT-Kenntnisse haben müssen.
IT und Fachbereiche werden nichtvollständig zusammenwachsen
Dass beide Bereiche irgendwann gänzlich zusammenwachsen, glaubt er allerdings nicht, dazu blieben die Aufgabenstellungen doch zu unterschiedlich.
Stattdessen sollte die Zusammenarbeit besser koordiniert werden als in der Vergangenheit, und das fängt schon bei den Räumen an: Mit Projektteams, die in unterschiedlichen Gebäudeteilen sitzen und vor allem per E-Mail kommunizieren, lassen sich die heute üblichen Ansprüche an Agilität und Geschwindigkeit nicht mehr erfüllen.
Ideen von Gamern und Consumern holen
Technisch sieht Niederhagemann die Zukunft vor allem in Microservices, die eingekauft oder selbst entwickelt, in jedem Fall aber mehrfach wiederverwertet werden.
Ebenfalls immer wichtiger werden seiner Meinung nach Virtual Reality, Sprach-, Gesten- oder sogar Irissteuerung von Anwendungen. "Immer mehr Ideen aus dem Consumer- - und da vor allem aus dem Gaming-Bereich - diffundieren ins Business, deshalb orientieren wir uns unter anderem auch auf Consumer- und Spielemessen."
Ausprobieren, auch ohne Business-Case
Für IT-Organisationen wird auch deshalb Weiterbildung noch wichtiger als bisher. "Wer hier über einen längeren Zeitraum nichts tut, hat sehr schnell ein Problem", sagt der Mann+Hummel-CIO.
Und: "Wir müssen auch mehr ausprobieren als bisher, statt immer zu warten bis eine Lösung einkaufbar ist. Denn dann haben sie alle anderen auch. Wir brauchen den Mut, auch mal Ideen anzuschieben, hinter denen noch kein quantifizierbarer Business-Case steckt."