Frau Glasmacher, der Standort Deutschland profitierte über Jahrzehnte von der Produktivität seines Industriesektors. Doch seit Unternehmen weltweit Massengüter zu Dumpingpreisen produzieren, ist der Kostendruck enorm gestiegen. Wie können deutsche Unternehmen sich vor diesem Hintergrund am Weltmarkt behaupten?
Die Unternehmen hierzulande können einen Preiskampf gegen die Niedriglohnländer nicht gewinnen und sollten ihn daher auch nicht aufnehmen. Industrien und Einzelbetriebe müssen sich vielmehr differenzieren und das geht nur über zusätzliche Dienstleistungen, da sich die Produkte heutzutage viel zu sehr ähneln.
Dann liegen die Wachstumschancen für die deutsche Industrie im Dienstleistungsbereich?
Ja dieser Bereich verspricht extrem hohe Wachstumschancen. Das hängt auch damit zusammen, dass die Produktkomplexität stetig zunimmt und der Konsument Services benötigt, die ihm Orientierung bieten. Der Bedarf an produktbegleitenden Dienstleistungen steigt also kontinuierlich und zwar sowohl im B2C- wie auch im B2B-Bereich. In beiden Bereichen werden immer mehr Packages nachgefragt. Nach einer aktuellen Accenture-Studie legen 68 Prozent der Konsumenten inzwischen sogar ein höheres Gewicht auf die Dienstleistung als auf das darunter liegende Produkt.
Web 2.0 und mobile Dienste übernehmen Pionierrolle
Heißt das, produktbegleitende Dienstleistungen sind selbst hochinnovative Erzeugnisse?
Genau: Innovative Dienstleistungen mit starkem Technologiebezug treiben den Dienstleistungssektor enorm voran. Eine Pionierrolle haben dabei Anwendungen wie das Web 2.0 und die mobilen Dienste übernommen. Interaction Walls sind ein gutes Beispiel dafür: Sie präsentieren als große interaktive Schaufenster Produkte, ermöglichen aber dem Konsumenten zugleich über Touch-Screen-Elemente und Handy-Schnittstellen, Preisinformationen einzuholen und zu vergleichen.
Welche Branchen profitieren in erster Linie von dieser Entwicklung?
Profiteure werden in Kerneuropa in einer ersten Welle Branchen sein, die mit Commodities - alltäglichen Gütern - arbeiten. Unternehmen in Telekommunikation, Versand, Versicherungen, Banken - kurz Branchen, die eng mit dem Endkunden zusammenarbeiten. Die Ing-Bank bietet beispielsweise ein Dienstleistungsspektrum, das weit über das Bankgeschäft hinausgeht. Das Unternehmen arbeitet fast nur auf elektronischem Wege und hat es mit seinen modernen Strukturen geschafft, Kunden an sich zu binden. In einer zweiten Welle wird die Technologiewoge dann auch das B2B-Dienstleistungsgeschäft erreichen.
Welche Herausforderungen stellt diese Entwicklung an die Unternehmens-IT?
Die weltweite Schnelllebigkeit des Geschäftes ist in den Unternehmen noch nicht angekommen. Infrastruktur und IT-Organisation müssen agiler werden. Produkte müssen direkt am Kunden ausprobiert werden - per trial und error. Das ist eine große Herausforderung für die IT-Organisation. Ohne SOA (Server-orientierte-Architekturen) können die Unternehmen mit der Entwicklung gar nicht Schritt halten. Eine Mehrkanal-Architektur, die die klassischen Organisationseinheiten miteinander verbinet, ist absolut notwendig
Welche Rolle spielen produktbegleitende Dienstleistungen bei der Bewältigung der aktuellen Krise?
Die Krise hat zu Vertrauensverlusten geführt und zwar nicht nur bei den Banken, sondern auch bei anderen Unternehmen. Dienstleistungen müssen viel besser auf Kunden zurechtgeschnitten werden, um so Vertrauen wieder herzustellen, das heßt der Druck, Kunden diesen Mehrwert zu bieten, hat durch die Krise an Schärfe gewonnen. Im Tourismusbereich beispielsweise reagieren die Kunden noch empfindlicher auf Probleme, die sich im Zusammenhang mit der Reise und ihrer Buchung ergeben. Auch im Bereich der Energieversorgung ist die Reizschwelle gegenüber Problemen im Service gesunken.
Standard-Software ist weniger fehleranfällig und schneller verfügbar
Hat die deutsche Industrie den Ausbau produktbegleitender Dienstleistungen verschlafen?
Die deutschen Unternehmen haben sich sehr spät auf innovative Services ausgerichtet, was mit kulturelle bedingten Vorbehalten in Deutschland zu tun hat. Die Notwendigkeit, dies zu ändern, wurde lange mit Scheinargumenten überspielt. Hinzu kommen historisch gewachsene Strukturen in den Unternehmen, die keine schnelle Anpassung erlaubten. Jetzt wurden die deutschen Unternehmen im Zuge der Krise von ihrem Versäumnisse eingeholt. Nun herrscht Handlungsbedarf.