Texte schreiben ist mein Hobby", sagt Michael Pullmann. Vor vier Jahren hatte sich der Architekturstudent das Bein gebrochen und meldete sich in den Semesterferien zum Zeitvertreib bei Clickworker an. Seither hat er im Auftrag dieser Crowdsourcing-Plattform viele Texte verfasst, Arbeiten anderer Schreiber korrigiert und Daten gepflegt. "Für einen typischen Textauftrag braucht man mit Erfahrung ein bis zwei Stunden, als Anfänger länger", schildert Pullmann. "Die Dotierung hängt vom Thema ab, mit einem besser bezahlten Auftrag kommt man auf zehn Euro pro Stunde." In den Semesterferien arbeitete er täglich etwa zwei Stunden über Clickworker. Heute ist er als Diplomingenieur Architektur berufstätig, hält der Plattform aber nebenher für fünf bis sieben Stunden in der Woche die Treue. Es macht ihm einfach Spaß.
Scrum funktioniert nicht als Crowdsourcing
Den Begriff "Crowdsourcing" prägte der Journalist Jeff Howe 2006 im Online-Magazin "Wired". Die vielen Definitionen, die seither kursieren, folgen zwei Mustern. Große Unternehmen und Beratungen sehen in Crowdsourcing ein mögliches Mittel, feste Arbeitsplätze aufzulösen oder gar nicht erst einzurichten und die Arbeit viel billiger von Freiberuflern verrichten zu lassen. Startups, Wissenschaftler, Datenjournalisten und Blogger neigen dagegen zum Open-Source-Optimismus: Freiwillige in Netz-Communities lösen das Problem, das Ergebnis steht allen zur Verfügung. Gemeinsam ist beiden Ansätzen die Organisation: Auftraggeber stellen Aufträge oder Anfragen in Plattformen, die allen Internet-Nutzern zugänglich sind. Manche Aufträge nehmen einige Tage in Anspruch. Viel häufiger und typischer sind aber die, die sich binnen weniger Stunden, Minuten oder Sekunden erfüllen lassen. Manchmal reichen ein bis zwei Clicks.
Für welche Unternehmen ist das interessant? Dass Anwender ihre Eigen-IT auf diese Weise entwickeln oder pflegen, ist schwer vorstellbar. IT-Dienstleister, Berater und klassische Freiberufler sollen meist auch dann im Haus des Kunden arbeiten, wenn sich der Auftrag vom (Home-)Office aus erledigen ließe. Die Programmiermethode Scrum etwa, die tägliche kurze Treffen von Entwicklern und Auftraggebern vorsieht, ist nicht Crowdsourcing-fähig.
Crowdworking - zwei Definitionen
- "Crowdsourcing bedeutet, einen Job, der von einem Angestellten ausgeführt wird, zu nehmen und auf Projektbasis in Form eines Aufrufs an eine unbestimmte Gruppe von Menschen auszulagern. Firmen, die dem Modell folgen, könnten Angestellte ermutigen, ein Unternehmen mit zehn oder mehr Kollegen zu gründen, und deren Dienste zurückkaufen."
Burnt Oak, Unternehmensberatung
- "Crowdsourcing heißt, den Wunsch von Experten, ein Problem zu lösen, zu kanalisieren und dann die Antwort frei mit jedermann zu teilen."
Henk van Ess, Web-Watcher und Datenjournalist
Für Hersteller sieht es anders aus. Sie können per Crowdsourcing nicht nur Aufträge anbieten, die von vornherein klein sind, sondern sie können auch umfangreiche Projekte in kleine bis winzige Arbeitsschritte zerlegen. In der Softwareentwicklung ist da einiges möglich. Ob Softwareunternehmen sich für Crowdsourcing entscheiden, hängt nicht vom Können, sondern vom Wollen ab. "Für die Telekom/T-Systems ist Crowdsourcing für die Softwareentwicklung derzeit kein Thema", sagt Frank Leibiger von den Group Services der Telekom. Die Software AG beschränkt Crowdsourcing nach Auskunft ihrer Sprecherin Bärbel Strothmann darauf, mit Aris Connect "die interaktive Zusammenarbeit und kollaborative Generierung von Ideen seitens vieler Anwender" zu fördern. "Es ersetzt keine Arbeitsplätze", vielmehr sei die Abteilung Forschung und Entwicklung im Jahr 2013 um mehr als 100 auf 998 Mitarbeiter gewachsen.
Die Prinzipien Zerlegung und Kleinteiligkeit bringen doch wieder die Anwender ins Spiel, die ja im Kern nicht IT herstellen, sondern etwas anderes. Phuoc Tran-Gia, Informatikprofessor an der Universität Würzburg, nennt ein Beispiel: "Ein Laborant der TU München testet die Übertragungsqualität von Audios und Videos." Dafür 100 Studenten und Mitarbeiter zu gewinnen, die man für einen aussagekräftigen Test brauche, sei zeitaufwendig. Mit Crowdsourcing könne man Videos von 1000 bis 2000 Probanden testen lassen: "Man zahlt jedem Tester 50 Cent und hat nach zwei Tagen ein Ergebnis."
Ausbeutung oder Chance für viele?
Größere Aufregung rief Crowdsourcing im April 2010 hervor, als Tim Ringo, hoher Manager in IBMs Beratungszweig Human Capital Management (HCM), der Zeitschrift "Personnel Today" ein Interview gab. Bis 2017, sinnierte Ringo, könne IBM mit Hilfe von Crowdsourcing von seinen 399.000 unbefristet Beschäftigten auf 100.000 herunterkommen und sich riesige Ausgaben für Gebäude, Pensionen und Gesundheit sparen. Im Februar 2012 war dann von dem Programm "Liquid" die Rede, dem in Deutschland bis zu 8000 der 20.000 Arbeitsplätze bei IBM zum Opfer fallen sollten.
Der "Spiegel" konnte aus einer Präsentation zitieren, die der Personalgeschäftsführer von IBM Deutschland, Dieter Scholz, im Mai des Vorjahrs intern gehalten hatte. Auch hier ging es darum, mit Hilfe von Cloudworking die Kernmannschaft möglichst zu reduzieren. Allerdings folgten Dementis, und IBM hat seine Belegschaft seit Ringos Interview merklich ausgebaut: weltweit auf 426.000, in Deutschland auf 21.000 Mitarbeiter . Bert Stach, der in der Gewerkschaft Verdi für Verhandlungen mit IBM zuständig ist, hält das Thema aber für aktuell und IBM für keinen Einzelfall: "Die anderen großen IT-Unternehmen ziehen in unterschiedlicher Intensität nach."
Crowdsourcing ist Globalisierung. Auf Plattformen wie Freelancer und Topcoder konkurrieren Cloudworker aus der ganzen Welt. Dabei könnten sich Preise herausbilden, die etwas vom Wohlstand der entwickelten Volkswirtschaften in ärmere Länder exportieren. Informatikprofessor Tran-Gia glaubt, dass das bereits geschieht: "In manchen Ländern kann man mit einigen Cent viel mehr anfangen als in Deutschland mit drei Euro." Clickworker-Chef Christian Rozsenich will, "dass unsere Clickworker, je nach Aufgabe, für eine Stunde Arbeit mindestens neun Euro bekommen". In Deutschland sei das verträglich, für einen Clickworker in Rumänien sei es richtig attraktiv. Verdi-Mann Stach sieht die internationale Preisbildung skeptischer: "Man trifft sich auf dem niedrigsten Niveau."
Digitale Minijobs als Nebenerwerb
Crowdsourcing-Plattformen spezialisieren sich auf unterschiedliche Auftraggeber, Dienste und Freiberufler, und auch ihre Brückenfunktion gestalten sie unterschiedlich aus (siehe unten). Ihre Margen veröffentlichen sie nicht. Zur Kritik am Crowdsourcing haben sie durch sehr niedrige Honorare beigetragen, die sich - neben besseren - überall finden lassen, ferner durch Bedingungen, die manche Plattformen ihren Cloudworkern auferlegen: Bei Mylittlejob muss der Auftraggeber nur zahlen, wenn er zufrieden ist, bei Wettbewerben auf Topcoder kann der Freiberufler auch mit guter Arbeit leer ausgehen, Freelancer wirbt unverhohlen mit Billighonoraren.
Michael Pullmann hat auch auf Clickworker miserable Aufträge gesehen, die er aber nicht annahm. Über die Plattform selbst sagt er nur Gutes: "Alles ist klar geregelt. Man bekommt gegebenenfalls Rückmeldung von den Korrektoren und kann seinen Text dann ändern." Auch das interne Forum, auf dem man sich mit anderen austauschen könne, sei hilfreich, und die Bezahlung habe stets tadellos funktioniert.
"Das Gros unserer Clickworker arbeitet für uns nebenbei eine bis ein paar Stunden pro Monat", sagt Clickworker-Chef Rozsenius. "Hauptberufliche Clickworker sind die große Ausnahme." Vermutlich ist das der springende Punkt: Von den digitalen Minijobs leben zu wollen wäre zumindest hierzulande eine Tortur. Als Nebenerwerb können sie angenehm sein.
Plattformen für Crowdworker
Topcoder: Vereint 627.406 Programmierer, Designer und Data-Science-Experten und kooperiert mit IBM. Topcoder wirbt mit dem qualitätsfördernden "Geist des Wettbewerbs". Wer sich für einen Auftrag interessiert, reicht eine Lösung ein und konkurriert mit allen anderen Cloudworkern, die das auch tun. Nur einer gewinnt. Am Schluss sind alle Lösungen für alle Teilnehmer einsehbar. Der Auftraggeber bestimmt selbst, welchen Preis er aussetzt, zusätzlich gehen eine "Contest Fee" und Bewertungsgebühren an Topcoder.
Clickworker: 500.000 "Clickworker", die sich auf Texterstellung undauf IT-nahe Dienstleistungen, die mit gehobenen Anwenderkenntnissen zu bewältigen sind, spezialisiert haben: Web-Recherche, Tagging und Kategorisierung, Erstellen, Bewerten, Sammeln und Verifizieren von Daten und Informationen. Für standardisierbare Texterstellung kann der Auftraggeber auf dem "Self-Service-Marktplatz" selbst einen Preis festlegen. Für alles andere bekommt er von Clickworker ein "individuelles Angebot auf Anfrage".
Freelancer: Der Auftraggeber beschreibt sein Projekt und nennt einen Preis, die Freelancer machen Angebote, der Auftraggeber wählt aus. Gefragt sind Dienste wie Web-Entwicklung, MySQL-Programmierung, HTML-Codierung, Suchmaschinen-Optimierung und CSS-Gestaltung. Mit über zehn Millionen Freelancern wendet sich die Plattform vor allem an kleine und mittelständische Auftraggeber, die "ihre Arbeit für einen Bruchteil der Kosten erledigt" haben wollen, und zwar "ohne riskante Aufwendungen und Kosten für das Einstellen von Mitarbeitern".
Mylittlejob.de: 19.350 Studenten. Der Auftraggeber nennt einen Preis, ein algorithmisches Bewertungssystem bietet den Auftrag geeigneten Studenten an. Wer ihn annimmt, hat ihn als Einziger, der Auftraggeber bezahlt bei Zufriedenheit, der Student kennt ihn nicht. IT-nahe Aufgaben betreffen Programmierung, Grafik und Datenpflege. Oft geht es um Übersetzen oder Schreiben: Verfasse drei coole Standorttexte (je 250 Wörter) für ein Autovermietungsportal, Honorar: zwölf Euro.
(Alle Cloudworker-Zahlen nach Angaben der Plattformen, Stand: Ende April 2014).