Politik und Verwaltung haben unterschätzt, wie komplex die Digitalisierung der Verwaltung ist. Nach dem Scheitern des Onlinezugangsgesetzes (OZG) ist jetzt der Moment, um aus Fehlern zu lernen und einen neuen Anlauf zu wagen.
Wenn man mit ein wenig Erfahrungswissen - und ein wenig Selbstironie - auf die Struktur der öffentlichen Verwaltung schaut, so lassen sich aus organisationstheoretischer Sicht drei Kategorien von Handlungsträgerinnen und Handlungsträgern unterscheiden. Da sind zum einen die Leistungsträger. Diese Gruppe von Beschäftigten begreift Digitalisierung und technologische Innovation als Chance für die Weiterentwicklung der eigenen Fachaufgabe - oder des Business, wie man in der Privatwirtschaft vielleicht zu sagen pflegt. Diese Gruppe ist offen für Neues, ambitioniert und bringt sich gerne mit Ideen und Talent bei der Optimierung der eigenen Verwaltungsprozesse ein.
Die zweite Kategorie lässt sich als Gruppe der Bedenkenträgerinnen und Bedenkenträger charakterisieren: Jedwede Veränderung wird skeptisch gesehen, die bestehende analoge Aufgabenwahrnehmung gilt für diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als nicht verbesserungsfähig. Innovationsimpulse werden als Risiko für das traditionelle, regelbasierte Handeln erachtet. "Ich habe verfassungsrechtliche Bedenken", ist der Generaleinwand in der Argumentation. Und dann gibt es die Gruppe der Würdenträgerinnen und Würdenträger: Erhaben und würdevoll schreitet die Amts- oder Behördenleitung durch die Flure der Organisation. Sie möchte geliebt, aber wenig aufgehalten werden. Innerbehördliche Störungen sind ungern gesehen.
Pragmatisches Vorgehen zählt
Wir, die Gruppe der IT-Verantwortlichen, Digitalisierer, Organisationsentwickler, CIOs und CDOs zählen uns zu den Leistungsträgerinnen und Leistungsträgern. Das haben wir aktuell im Ministerium für Infrastruktur und Digitales in Sachsen-Anhalt bewiesen. Unter schwierigen politischen Rahmenbedingungen haben wir mit Mut zu Entscheidungen und Pragmatismus für Lösungswege eine zentrale digitale Plattform mit einem Projektpartner entwickelt - ohne Datenbestand oder Zugang zu Registern.
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it dieser leicht bedienbaren Plattform war es möglich, die Einmalzahlung an Studierende sowie Schülerinnen und Schüler in Höhe von 200 Euro unkompliziert auf den Weg zu bringen. Durch ein Höchstmaß an Automation, die kaum des manuellen Einsatzes von Sachbearbeitern bedurfte, wurden auch Missbrauch und kriminelle Energie weitgehend verhindert. Wir haben schlichtweg einen neuartigen Zahlungsverkehr an natürliche Personen entwickelt, den es vorher so nicht gab und mit dem es möglich war, innerhalb kürzester Zeit an knapp fünf Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung Hilfsgelder auszuzahlen.
Der Mut zu Entscheidungen fehlt noch zu oft in der öffentlichen Verwaltung. Diese Beobachtung mache ich insbesondere in den jeweiligen Fachabteilungen. Sie erkennen Digitalisierung nicht als Teil der Fortentwicklung ihrer Aufgabe und verweisen häufig auf die Haus-Nerds in ihrer Organisation. Aber die Nerds wissen im Detail nicht, worum es inhaltlich eigentlich geht, und wir begeben uns in eine schwierige Spirale. Das ist nur eine Ursache für das Verfehlen der eigenen politischen Ziele.
Bis Ende 2022 sollten Bund, Länder und Kommunen alle Verwaltungsleistungen über Verwaltungsportale auch digital anbieten und diese Portale zu einem Verbund verknüpfen. So verlangte es das Gesetz zur Verbesserung des Onlinezugangs zu Verwaltungsleistungen, kurz Onlinezugangsgesetz (OZG), das am 18. August 2017 bundesweit in Kraft getreten ist. Daraus resultierte, dass fast 7.000 Verwaltungsleistungen auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene (zusammengefasst in 580 sogenannten OZG-Leistungsbündeln) digitalisiert werden müssen. Darüber hinaus muss über die jeweiligen staatlichen Ebenen hinweg eine IT-Infrastruktur entstehen, die Bürgerinnen und Bürgern sowie Unternehmen einen einfachen Zugriff auf diese Leistungen ermöglicht.
OZG nicht wie geplant umgesetzt
Flächendeckend ist über alle Ebenen festzustellen, dass das OZG bei Weitem nicht so umgesetzt werden konnte, wie es ursprünglich geplant war. Die Gründe sind, wie beschrieben, vielschichtig und über alle Ebenen gleichermaßen ernüchternd. Mit meinen Kolleginnen und Kollegen, den CIOs der Länder, haben wir daher vor dem Hintergrund der aktuell laufenden Anpassung des bisherigen OZG Verbesserungsvorschläge zur künftigen Verwaltungsdigitalisierung formuliert.
Diese sollen in einem Nachfolgegesetz des OZG bestmöglich umgesetzt werden, um eine nachhaltige Verbesserung der rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen für die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung zu erreichen. Im Kern müssen wir Länder die Kommunen schon früher in die planerischen und strategischen Prozesse nicht nur einbinden, sondern auch über interoperable Datenaustausch-Formate verknüpfen.
Ein Beispiel aus meinem Bundesland: Die nötige Information, ob ein sehbehinderter Mensch in einer Kommune Hundesteuer zahlen muss, liegt zwar dem Land als strukturierter Datensatz vor, aber die Kommune kommt im Backoffice nicht an diese Information. Das Amt muss erneut abfragen. Auskunftspflichtige oder Nutzerinnen des Bürgerservice müssen aktuell mehrmals aufs Amt, um Nachweise einzuholen und abzugeben. Wären die Register der Verwaltung interoperabel, könnte das alles automatisiert ablaufen. Die Grundsteuererklärung wäre für Eigentümerinnen und Eigentümer kinderleicht, wenn es verknüpfte Register gäbe. Hier ziehen wir jetzt die richtigen Schlüsse.
Enge Zusammenarbeit mit Kommunen
Zum einen zielt die gerade begonnene, enge Zusammenarbeit mit unseren Kommunen auf die Nachnutzung anwendungsbereiter ausgewählter digitaler Lösungen. Wir modernisieren unsere bundesweit vorhandenen Register und betreiben konsequent den Einstieg in die Ende-zu-Ende-Digitalisierung. Dabei stehen aktuell schnelle Umsetzungen von Massenverfahren wie die An- und Ummeldung, das Elterngeld, der Unterhaltsvorschuss oder die internetbasierte Kfz-Zulassung im Vordergrund.
In Sachsen-Anhalt wollen wir eine flächendeckende Nutzung von effizienten und auf einen realen Mehrwert bedachten durchgängigen Verfahren in der Verwaltung. Die Identifikation und Beseitigung organisatorischer, technischer, rechtlicher und finanzieller Hürden werden dabei konsequent verfolgt. Zum anderen gibt die Modernisierung aller Register selbst neue Schubkraft. Sie ist eine wesentliche Säule der Verwaltungsdigitalisierung und damit mindestens so wichtig wie das OZG selbst.
Zwei Dinge gilt es abschließend anzusprechen. In der öffentlichen Verwaltung muss die Verbindlichkeit von Standards und Normung stärker verankert werden. Dabei geht es neben der Erhebung von Daten auch um die verbindliche Festlegung von Datenaustauschformaten sowie um einheitliche Terminologien und Schnittstellen. Das lese ich auch aus dem Whitepaper des Deutschen Instituts für Normung (DIN). Hier erwarte ich mehr Mut vom Bund, solche Standards vorzugeben und auch dafür zu sorgen, dass sie durchgesetzt werden.
Für jede Verwaltungsleistung muss darüber hinaus klar verständlich in öffentlich zugänglichen Verzeichnissen beschrieben werden, welche Daten, Informationen und Nachweise in welchem Format benötigt werden und wie diese technisch bei den Behörden eingereicht werden können. Die Schnittstellenspezifikation ist neben den verwendeten Standards verbindlich zu machen.
Hemmnisse abbauen
Schließlich darf der Abbau von Digitalisierungshemmnissen nicht aus den Augen verloren werden. Bürokratisierung hemmt die Nutzung neuer Technologien. Der Bund hat jetzt die Chance, die Erkenntnisse aus fünf Jahren OZG konsequent zu nutzen. Dazu gehört die Überarbeitung des Verwaltungsverfahrensrechts mit klaren Hinweisen zur Digitalisierung und der Abkehr von der Schriftformerfordernis alter Art. Auch solche Vorschriften, die immer als Begründung herhalten müssen, warum Digitalisierung nicht geht, wie etwa die Bundeshaushaltsordnung, müssen einem Digitalcheck unterzogen werden.
Wir können jetzt bei der Verwaltungsdigitalisierung einen neuen Anlauf wagen.
Wagen wir es doch einfach!
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