Telekom, AXA, Kaeser

Digitalisierung in der Praxis

22.11.2018 von Heinrich Vaske
In ihrem Buch "Digitalization Cases, How Organizations Rethink Their Business for the Digital Age" haben die Wissenschaftler Nils Urbach und Maximilian Röglinger Beispiele dafür gesammelt, wie Unternehmen sich digital erneuern.
Den Anspruch, die Digitalisierung an praktischen Beispielen zu beschreiben, erfüllen Nils Urbach und Maximilian Röglinger in ihrer Beispielsammlung "Digitalization Cases".
Foto: Springer Verlag

21 Digitalisierungsprojekte aus verschiedenen Branchen fasst das Sachbuch zusammen, das von Wissenschaftlern herausgegeben wurde - so viel verrät bereits die hohe Dichte der Anmerkungen. Doch die Cases wurden von den Projektbeteiligten selbst verfasst, und die Lektüre lohnt sich. Der Leser erhält jede Menge Beispiele fürDigitalisierungsvorhaben aller Art. Wir picken drei unterschiedliche Projekte heraus, um einen Eindruck von der Bandbreite der Initiativen zu vermitteln.

RPA - Prozessautomatisierung bei der Telekom

Die Deutsche Telekom AG hat sich in den vergangenen Jahren intensiv mit Robotic Process Automation (RPA) beschäftigt, um mehr Transaktionen automatisiert abwickeln zu können. Ziel des Carriers war es, Prozesse schneller und besser auszuführen, ohne dafür die zugrundeliegende Anwendungsarchitektur anfassen zu müssen, was mit einem hohen zeitlichen und finanziellen Aufwand verbunden wäre.

Immer mehr autonom agierende Softwareroboter nehmen den Mitarbeitern der Telekom nun einfache, stupide Tätigkeiten ab, indem sie deren Vorgehen nachahmen und automatisiert die gleichen User Interfaces befüllen wie zuvor die Mitarbeiter. In der Umsetzung kommen dabei nicht nur einfache regelbasierte Tools, sondern zunehmend auch komplexe Machine-Learning-Werkzeuge zum Einsatz.

Die Telekom sieht ihre RPA-Initiative als Baustein einer übergeordneten Digitalstrategie, in der unter anderem Ziele bezüglich digitaler Customer Journey, prädiktiver Services und eben auch der Prozessdigitalisierung formuliert sind. Dabei hat sich der Konzern auf einen agilen Entwicklungsansatz und die Identifikation von zunächst 50 RPA-Anwendungsfällen verständigt.

Im Mittelpunkt standen zu Beginn zwei Beispiel-Use-Cases, die den Kundenservice und eine proaktive Problemlösung betrafen. Die Projekte verliefen erfolgreich, zeigten aber, dass es bei RPA-Vorhaben besser ist, IT-affine Mitarbeiter der Fachbereiche in die Verantwortung zu nehmen als IT-Profis, die technisch versierter sind, sich aber weniger mit den betroffenen Geschäftsprozessen auskennen.

Erreicht wurden eine messbar höhere Kundenzufriedenheit, um rund 40 Prozent gesunkene Kosten in den jeweiligen Bereichen sowie eine deutlich geringere Fehlerquote. Die Telekom hat für Design und Implementierung agile Methoden verwendet. Nach zwei Wochen stand ein Prototyp, nach sechs bis acht Wochen hatte das 25-köpfige Team eine erste Lösung auf den Weg gebracht.

Wichtig war es den Verantwortlichen zufolge, in jedem Projektstadium die teils stürmisch verlaufende technologische Entwicklung am Markt zu beobachten und zu berücksichtigen. Nicht nur RPA-Innovationen, auch Neuerungen rund um Machine Learning und Mobile Computing wurden ständig einbezogen.

Den Telekom-Verantwortlichen war bewusst, dass RPA-Vorhaben umstritten sind, da es nicht nur um eine verbesserte Prozesslandschaft geht, sondern theoretisch auch darum, menschliche Arbeit durch Maschineneinsatz zu ersetzen - ein hochsensibles Thema. Für die Telekom war es deshalb besonders wichtig, offen zu kommunizieren sowie die betroffenen Mitarbeiter frühzeitig einzubinden und auf veränderte neue Aufgaben vorzubereiten.

Kaeser verkauft Druckluft statt Kompressoren

Kaeser verkauft Druckluft im Servicemodell und muss dazu Druckluftstationen beim Kunden aufbauen und überwachen.
Foto: KAESER

Während der RPA-Case der Telekom im ersten Buchkapitel mit dem Titel "Digitale Disruption" erschien, geht es im zweiten Abschnitt um das "Digital Business". Hier picken wir das Beispiel des Maschinenbauers Kaeser heraus, der die oft zitierte Digitalisierungsfrage "Will der Kunde eine Bohrmaschine kaufen, oder will er nicht viel mehr ein Loch in der Wand haben?" auf sich ummünzte: "Will der Kunde unsere Kompressoren kaufen oder interessiert er sich nicht vielmehr für die damit zu erzeugende Druckluft?"

Zum Hintergrund: Das Unternehmen aus Coburg hat im Jahr 2016 mit seinen 5500 Mitarbeitern in 140 Ländern Kompressoren in verschiedensten Größenklassen einschließlich Services verkauft und damit knapp 800 Millionen Euro umgesetzt. Kaeser wird dabei von einem globalen Netzwerk an Vertriebs- und Servicepartnern unterstützt. Der Maschinenbauer entschied sich, sein Angebot um ein Service-basiertes Direktvertriebsmodell zu ergänzen, das er als "Sigma Air Utility" bezeichnet. Kunden zahlen dabei nur für die Druckluft, die sie brauchen. Kaeser analysiert ihren Bedarf und stellt ihnen eine vom Anbieter betriebene Druckluftstation inklusive Services hin.

Das neue Betriebsmodell unterteilt sich in die Phasen Entwicklung, Installation und Betrieb. In der Entwicklungsphase wird der Druckluft-Bedarf des Kunden hinsichtlich Menge, Druck und Qualität genau analysiert. Der wichtigste Schritt dabei ist die Air Demand Analysis (ADA), in der ein Daten-Logger das Verhalten eines vorhandenen Kompressors untersucht und über zehn Tage hinweg misst, wie das Nutzungsverhalten ist und wie sich der Luftdruck verändert. Die dafür nötigen Data Loggers wurden gemeinsam mit T-Systems entwickelt.

In der Entwicklungsphase spielt das Kaeser Energy Saving System (KESS) eine wichtige Rolle. Es hilft den Ingenieuren, verschiedene Technologiekonfigurationen für die geplante Station zu simulieren. Hier fließen neben den ADA-Daten auch Erfahrungswerte ein: Rund 80 Prozent der Kosten für die Erzeugung von Druckluft entfallen auf Energie, weshalb die Energieeffizienz der Basisstation entscheidend ist. Diese Simulation erlaubt Kaeser, den Sigma-Air-Utility-Kunden ein bestimmtes Level an Energieeffizienz vertraglich zu garantieren.

Kostenkalkulation automatisieren

Die Energiekosten zusammen mit dem Aufwand für Investitionen und Services sind die wichtigsten Parameter für die Kostenkalkulation über den gesamten Vertrags-Lebenszyklus hinweg. Eine detaillierte, IT-unterstützte Analyse vergangener Verträge einschließlich der Wartungsgebühren erlaubt dem Anbieter, die Kostenkalkulation zu automatisieren. Kaeser kann heute in weniger als einer Stunde herausfinden, welches Preisangebot pro Kubikmeter Druckluft gemacht werden sollte.

In der Phase der Installation, in der Kaeser beim Kunden das technische Equipment aufbaut, installiert der Konzern auch Industrie-PCs als Kontrollgeräte für die Druckluft-Station sowie Netzwerktechnologie und einen SAP-IoT-Client. Dieser verbindet den Kompressor mit der zentralen HANA-Datenbank im Coburger Hauptquartier. Jede Maschine in der Anlage (Kompressor oder Trockner) wird über einen Industrie-PC reguliert, und es werden Betriebsdaten gesammelt. Die PCs rund um die Basisstation sind über das Sigma-Network (Ethernet) mit dem "Sigma Air Manager 4.0" (SAM) verbunden.

Das SAM ist ein Tablet-ähnliches Gerät und hat zwei Funktionen: Erstens kontrolliert es die Maschinen im Netzwerk um sicherzustellen, dass der Kompressor die gewünschte Menge an Druckluft energieeffizient produziert. Zweitens sammelt es Maschinendaten und sendet diese an die zentrale HANA-Datenbank in Coburg. Der Datenverkehr erfolgt über eine Ethernet-Verbindung zwischen dem SAM und dem mit der zentralen Datenbank verbundenen IoT-Client.

Für den Betrieb der Anlagen im Feld ist schließlich das zentrale Kaeser Plant Control Center zuständig, das alle Luftdruckstationen im Feld zentral überwacht. Die Mitarbeiter sehen eine grafische Landkarte mit farbigen Icons darauf, die den Zustand der Stationen anzeigen. Zudem werden die Daten der jeweiligen Maschinen analysiert, um Ausfälle zu vermeiden (Predictive Maintenance). Energieverbrauch, Maschinentemperatur, Druck und Vibrationen gehören zu den erhobenen Werten. Erfasst wird auch der Druckluftkonsum, der unter anderem für die monatliche Rechnung ausschlaggebend ist.

Die Herausforderungen, mit denen der Maschinenbauer bei der Einführung des Subscription-Modells zu kämpfen hatte, sind vielfältig. Oft haben sich Kunden nie die Mühe gemacht, die Gesamtkosten für eine gekaufte Kompressoranlage zu berechnen. Daher fehlen ihnen die Vergleichsmöglichkeiten zum Servicemodell.

Verändert hat sich auch die Kundenbeziehung, die enger geworden ist und regelmäßige Meetings erfordert. Viele Kaeser-Mitarbeiter mussten sich ihre Ingenieursdenke ab- und eine Business-Denke angewöhnen. Wo früher technische Details die Diskussion zwischen Kunden und Kaeser-Vertrieb bestimmten, stehen jetzt geschäftliche Aspekte im Blickpunkt.

Service-basiertes Betriebsmodell

Auch mussten sich die Verkäufer mit einem Service-basierten Betriebsmodell anfreunden. Dabei änderten sich die Ansprechpartner beim Kunden: Hatte man es früher eher mit den Technikern in den Fabriken zu tun, sind jetzt Business-orientierte Mitarbeiter wie Abteilungsleiter oder Controller am Tisch. Die interessieren sich vor allem für geschäftliche Vorteile, weniger für Technikdetails.

Kaeser sieht sich auch einem höheren wirtschaftlichen Risiko ausgesetzt, da der Aufbau einer Druckluftstation für das Sigma-Air-Utility-Modell hohe Vorabinvestitionen erfordert. Diese müssen über den Lebenszyklus eines Kundenvertrags amortisiert werden. Geht der Kunde vorher pleite, bleibt Kaeser auf den Kosten sitzen - weshalb jetzt jedem Vertrag eine Solvenz-Analyse vorgeschaltet ist.

Ein wirtschaftliches Risiko stellt auch das Fabrikumfeld dar, in dem Kaeser seine Station aufbaut. Hohes Staubaufkommen führt beispielsweise zu einem kürzeren Austauschzyklus für Filtertechnik und damit zu mehr Wartungsaufwand, was sich in einer höheren monatlichen Gebühr widerspiegeln muss. Kaeser hat vor dem Hintergrund verschiedene Umfeldparameter strenge Regeln für seine Serviceverträge entwickelt.

AXA Germany - eine Data-driven Versicherung

Viele Unternehmen wollen "Data-driven" aufgestellt sein. Der Versicherer AXA zeigt, wie es geht.
Foto: pio3 - shutterstock.com

Das dritte Projekt aus dem Buch "Digitalization Cases" betrifft die digitale Transformationsstrategie der AXA Versicherung in Deutschland, die sich zu einer "Data-driven Insurance" entwickelt und dabei naturgemäß vor einer Vielzahl von Herausforderungen steht. Entscheidungen datengetrieben zu fällen, bedeutet einen kulturellen Wandel und trifft die Mitarbeiter, die seit vielen Jahren an bestimmte Abläufe gewöhnt sind.

Ein Problem ist auch die in die Jahre gekommene IT-Infrastruktur, die auf den Rollout neuer Technologien eine bremsende Wirkung hat. Hinzu kommt die Vielzahl an regulatorischen Anforderungen rund um den Datenschutz, die es zu beachten gilt. Um diese und andere Themen anzugehen, gründete AXA ein Data Innovation Lab, das sich in die Units Data Analytics, Data Management Office und Data Engineering gliedert. Die Aufgabe dieses Labs ist es, datenbasiert Innovationen zu schaffen, die operative Effizienz im Konzern zu verbessern, die Chancen neuer Technologien zu nutzen und bei alldem die für Versicherungen besonders strengen Datenschutzauflagen einzuhalten.

Der Bereich Data Analytics soll vor allem innovative Projekte vorantreiben. Das kann beispielsweise fortgeschrittene statistische Modellierungen im Claim-Prozess betreffen oder auch die Nutzung von KI im Kundenservice. So wurde beispielsweise ein Dialogsystem für den Kundenservice entwickelt, das in der Lage ist unstrukturierte Daten, etwa in Versicherungsdokumenten, auszuwerten und so Fragen rund um Vertragsbedingungen oder Abdeckung automatisiert zu beantworten. Für die Inanspruchnahme von Autoversicherungen wurde ein Geodaten-basiertes System geschaffen, das betroffene Kunden zur nächsten Partnerwerkstatt von AXA Deutschland navigiert.

Chef des Bereichs Data Analytics ist der "Chief Data Scientist". Er soll Daten- und Unternehmensstrategie in Einklang bringen und innovative Use Cases vorantreiben. Seine Aufgabe ist es auch, Ziele, Erfolgskriterien und Produkte rund um Smart-Data-Initiativen zu definieren, erfolgreich getestete Lösungen in den laufenden Betrieb zu überführen und agile Methoden, Tools und Best Practices auszurollen.

Ist der Chief Data Scientist Chef des Data-Analytics-Bereichs so steht der Chief Data Officer dem Data-Management-Team vor. Er sorgt dafür, dass Daten als Unternehmens-Asset verstanden und behandelt werden, bringt Business- und IT-Roadmaps in Einklang, bestimmt Richtlinien und Standards bezüglich das Data Handlings im Unternehmen und koordiniert Compliance-Initiativen. Außerdem ist er derjenige, der als Change Agent eine Datenkultur im Unternehmen etabliert. Aus dem Data Management Office von AXA Deutschland werden Standards für das Management des Data-Lifecycle erarbeitet, Datenservice-Angebote für verschiedenen Geschäftsfelder bereitgestellt sowie Datenschutz, Informationssicherheit und die Einhaltung regulatorischer Vorgaben verantwortet.

AXA Deutschland setzt auf Data-Lake-Technologie und führt strukturierte und unstrukturierte Daten aus zunächst 20 internen Datenbanksystemen und 25 externen Quellen zu Analysezwecken zusammen. Das Data Management Office ist Product Owner über diesen Data Lake - aber ohne die Kollegen der dritten Instanz, dem Data Engineering, geht gar nichts. Sie bauen die Daten-Pipelines, bereinigen die Bestände, sorgen für die logische und physikalische Datenmodellierung, implementierten Integration, Ver- und Entschlüsselung, schaffen Zugangsmöglichkeiten und sorgen für die Löschung von Daten, wenn rechtliche Umstände dies erfordern.

Was hat AXA aus dieser dreigliedrigen Organisation des Data Innovation Lab gelernt? Data Analytics und Data Management können durchaus konkurrierende Ziele verfolgen. Das Data Management stellt den organisatorischen und technischen Wandel in den Vordergrund, ihm sind Aspekte wie Compliance und stabile Prozesse wichtig. Die Analytiker sind eher rastlos, sie wollen schnell und agil Dinge ausprobieren und testen. Ihnen geht es um die zeitnahe Umsetzung von Smart-Data-Initiativen.

Bei AXA haben sich das Daten-Management- und das Data-Analytics-Team daher einen Shared-Office-Bereich auf dem Unternehmens-Campus eingerichtet, wo sie eng zusammenarbeiten und auch die Mitarbeiter anderer Abteilungen zu Smart-Data-Projekten einladen. Ein konsequenter Einsatz agiler Methoden sorgt dort für das nötige Tempo, gleichzeitig diffundiert das Wissen rund um agile Methoden in andere Geschäftsbereiche. Für AXA als klassischen Versicherer mit starken Hierarchien stellt dieses Shared Office bereits eine kleine Revolution darstellte.

Konzernweite Bottom-up-Datenkultur

Größere Herausforderungen für den Konzern sind aber der Aufbau einer konzernweiten Bottom-up-Datenkultur und das Umdenken der Mitarbeiter, die sich noch an den Gedanken gewöhnen müssen, dass Daten ein essenzielles Asset für das Kerngeschäft darstellen. Deshalb müssen die Geschäftsbereiche auf dem Weg zur Data-driven Company unbedingt im Boot sein. Sie arbeiten eng mit dem Data Innovation Lab zusammen, um ihre Prozesse gemeinsam mit den Spezialisten neu zu denken und zu gestalten. Bei AXA war es wichtig für das Data-Team, sich offen zu präsentieren, Brücken ins Business zu bauen und nicht den Eindruck eines Elfenbeinturms entstehen zu lassen.

Entscheidend für den Erfolg ist am Ende aber auch die Unterstützung und der lange Atem des Topmanagements. Angemessene Kennzahlen (KPIs) sowie die richtigen Kontroll- und Reporting-Systeme helfen dabei, den Umbau zu managen, auch wenn die Ergebnisse von Data-Management-Aktivitäten nur selten in monetären KPIs aufzuzeigen sind.