In den vergangenen Monaten waren vermehrt Stimmen zu hören, die deutsche Unternehmen vor einem Verschleppen und Verschlafen der Digitalisierung warnten. Marktforscher belegen klipp und klar, dass Firmen hierzulande im internationalen Vergleich mit der Entwicklung nicht standhalten können. Der Münchner Kreis etwa - eine unabhängige Plattform für Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft - legt in seiner "Zukunftsstudie 2014" die Schwachstellen der deutschen Wirtschaft bei der Digitalisierung offen.
Laut ihrem Vorsitzenden, Professor Arnold Picot, mangelt es deutschen Managern vor allem an der nötigen Weitsicht und Veränderungsbereitschaft. Die Digitalisierung erfordere ein Neudenken und ein Neugestalten bestehender Prozesse, mahnte Picot bei der Vorstellung der Studie. Dem steht der Untersuchung zufolge ein wenig offenes Innovationsklima in deutschen Unternehmen entgegen, sowie ein Management, das "stark den tradierten, an Unternehmensgrenzen orientierten Denkweisen verhaftet ist."
"Kompetenzen der Dienstleister mit den eigenen Stärken vernetzen"
Einer, der das reflektiert, ist Dr. Ferri Abolhassan, Geschäftsführer der T-Systems International GmbH und verantwortlich für die IT-Division des Unternehmens. Seiner Ansicht nach trifft "die Aufforderung, das Denken und Handeln in Unternehmensgrenzen aufzubrechen, ganz unmittelbar die IT-Dienstleister." Denn die Veränderung, die disruptive Technologien wie Cloud und Analytics sowie die großen Trends am Markt - hin zu intelligenten Netzen, Industrie 4.0 und M2M - forcierten, sei von jedem Provider für sich genommen nicht zu bewältigen.
"Allein die Vielfalt der heute verfügbaren Cloud-Services und diese dann in unterschiedlichsten Kundenbelangen End-to-End zu managen, erfordert es, mit den besten Partnern und Best-in-Class-Lösungen zu arbeiten", so Abolhassan. So läge im Partnering für IT-Dienstleister die große Chance, deren Kompetenzen mit den eigenen Stärken zu vernetzen. Wobei Abolhassan betont: "An der Stelle jedoch kommen Qualität und Sicherheit ins Spiel, schon um auch selbst als Dienstleister verlässlich zu bleiben". Das habe in Partnerschaften eine "ebenso große Bedeutung wie in jedem Technologie-Projekt".
Doch mit der Überwindung eigener Unternehmensgrenzen tun sich Firmen noch schwer. Zu diesem Ergebnis kommt auch das Beratungsunternehmen KPMG, das in einer aktuellen Studie gleichfalls das wenig freundliche Digitalisierungsklima in Deutschland untersucht.
Nur ein Drittel bindet Kunden oder Mitarbeiter konsequent über digitale Technologien ein
In der Erhebung "Survival of the Smartest 2.0" beurteilen die Unternehmen ihre eigenen Innovationsfähigkeit zwar überwiegend positiv. Bei genauerer Betrachtung einzelner Parameter zeigen sich jedoch Widersprüche. So bindet nur knapp die Hälfte der befragten Firmen ihre Kunden beziehungsweise Geschäftspartner in den Innovationsprozess mit ein.
Das Beratungsunternehmen PwC ermittelte mit seinem "Digitalisierungsbarometer 2014", dass sogar nur ein Drittel der Unternehmen Kunden oder Mitarbeiter konsequent über digitale Technologien in den Entwicklungsprozess von neuen Produkten einbindet.
Ein Versäumnis, das sich nachteilig auswirken kann, meinen die Studienautoren von KPMG, "etwa durch den Verlust von wertvollem Input seitens der Kunden oder Geschäftspartner, da diese beispielsweise wichtige Ideengeber sein können". Auch Einkaufs- oder Vertriebsprozesse seien deutlich effizienter, wenn alle Beteiligten auf relevante Veränderungen vorbereitet sind. Und ein weiterer Vorteil der frühzeitigen Einbindung von Kunden: Die Akzeptanz von Veränderungen könne deutlich gesteigert werden und daher auch als ein adäquates Mittel der Kundenbindung verstanden werden.
"Integration der Eco-Partnersysteme ist Herausforderung für die Zukunft"
Unternehmen, die das Thema Integration bereits auf ihrer Agenda haben, betrachten dessen Umsetzung als beträchtliche Herausforderung, wie aus Gesprächen von CIO.de mit IT-Leitern unterschiedlicher Organisationen hervorgeht.
So sieht Eugen Berchtold, Geschäftsführer der zur BayWa Group gehörenden RI-Solution GmbH, die spannende Herausforderung bei der Bewältigung der Digitalisierung in der Integration unterschiedlichster Partner. "Unser Business wird sich deutlich verändern durch die Integration der ganzen Eco-Partnersysteme", erläutert Berchtold. "Wir sind immer noch sehr 1:1 orientiert, aber in Zukunft werden wir deutlich mehr integriert werden in Systeme von Herstellern, Kunden, Sensordaten, Messdaten aus unterschiedlichster Quelle - das wird mit Sicherheit die große Herausforderung für die Zukunft werden."
Zum Video: Digitalisierung muss integrativ sein
Eugen Berchtold, Geschäftsführer RI-Solution GmbH, BayWa Group, im Interview
"Die Integration unterschiedlicher Partner der Ecosysteme wird die spannende Herausforderung"
Ähnliches schwebt Sebastian Saxe, CIO bei der Hamburg Port Authority (HPA), vor: "Unser Ziel ist es, die Sensorik im Hamburger Hafen auszubauen und bei der HPA so etwas wie ein Port Traffic Center zu errichten, über das die Verkehrswege Straße, Schiene, Wasserstraße gesteuert werden können, so dass der Verkehrsfluss in einem Binnenhafen optimiert wird."
Thema Integration nicht zu eng fassen
Dieses Ziel ist ohne die Einbindung aller Akteure im Hamburger Hafen von den Lkw-Fahrern über die Kapitäne der Container-Schiffe bis hin zu den HPA-Mitarbeitern kaum möglich. Entsprechend sieht Saxe in der Integration ein zentrales Aufgabenfeld, das viel Überzeugungsarbeit erfordert: "Wir müssen bei uns im Haus, aber auch extern bei unseren Kunden die digitale Transformation anfassbar machen. Anfassbar machen heißt, wir müssen Prototypen machen, Geschichten erzählen, die es vorstellbar machen, was digitale Transformation eigentlich bedeutet. (…) Die größte Herausforderung ist dabei, die Schere im Kopf der Menschen zu überwinden."
Zum Video: Digitalisierung muss integrativ sein
Sebastian Saxe, CIO Hamburg Port Authority, im Interview
"Wir müssen auch extern bei unseren Kunden die digitale Transformation anfassbar machen"
Sowohl das Beispiel BayWa wie auch Hamburger Hafen zeigen deutlich: Der Begriff Eco-Systeme darf beim Thema Integration nicht zu eng gefasst werden. Hier geht es um mehr als die Bereitstellung eines Zugangs zu bestimmten Kommunikations- oder Verkaufsplattformen - und darin liegt auch die Komplexität des Themas für Unternehmen. "Eco-Systeme sind dadurch gekennzeichnet, dass sich Unternehmen vertikal vernetzen, um die mobile, permanent vernetzte Kundschaft gemeinsam zu gewinnen", resümieren die Autoren von KPMG. "Dabei tritt das einzelne Produkt in den Hintergrund." Statt dessen stelle sich die Frage, welche Services insgesamt mit einer Lösung oder einem Kundenwunsch verbunden seien.
Erst branchenübergreifende Zusammenarbeit schafft Mehrwert für Kunden
Beispielhaft dafür sei der Bereich Connected Home, in dem Kundenkontakt, die Steuerung mittels Soft- und Hardware sowie die Endgeräte über Allianzen sichergestellt würden. Erst diese branchenübergreifende Zusammenarbeit schaffe den gewünschten Mehrwert für den Kunden.
Was diese Anforderungen für die Unternehmens-IT bedeuten, wurde bereits im Zusammenhang mit dem Konzept Industrie 4.0 ausführlich dargelegt. Wenn auch auf den industriellen Sektor fokusiert, sieht das Konzept vor, durch firmenübergreifende Vernetzung und Integration Wertschöpfungsnetzwerke zu errichten, die es ermöglichen die Produktentwicklung aus Sicht der Kundenanforderungen zu betrachten. Um dies zu erreichen gibt der Arbeitskreis Industrie 4.0 die folgenden IT-relevanten Umsetzungsempfehlungen:
Festlegung von Standards für die Zusammenarbeit und den Austausch von Informationen
Festlegung einer Referenzarchitektur, also eines Musters für Produkte und Dienstleistungen aller kooperierenden Unternehmen
Entwicklung einer gemeinsamen Sichtweise von Produktionstechnik, Automatisierungstechnik und IT / Internet
Entwicklung von Modellen komplexer (Produktions-)Systeme, um diese sicher zu beherrschen
Eine Breitbandinfrastruktur die einfach, skalierbar, sicher, verfügbar und bezahlbar ist und damit viele Anwender erreicht
Entwicklung integrierter Sicherheitskonzepte, -architekturen und -standards
Kommentar: Nur Digitalisierung reicht nicht von Frank Wolfsteiner, Partner Information Services Group Germany (ISG) |
Das „Age of the Customer“ und die damit verbundenen, veränderten Produktwelten und Geschäftsmodelle sind nicht aufzuhalten: Studien zeigen, dass in rund 80 Prozent der deutschen Unternehmen diese Erkenntnis noch nicht angekommen ist. Dabei ist die Digitalisierung aus technologischer Sicht noch die leichteste Übung. Vielmehr wirkt sich der Paradigmenwechsel weitaus tiefgreifender auf die Unternehmen aus. Eine Neubewertung des Portfolios ist angeraten. Das Portfolio muss gewährleisten, dass das Unternehmen selbst die „Customer Ownership“ behält und den Mehrwert liefert, den Kunden zunehmend erwarten. Gelingt das nicht, werden traditionelle Produktanbieter buchstäblich überrannt und zu bloßen Erfüllungsgehilfen degradiert: Andere werden den Wunsch der Kunden erfüllen, ihre Produktwelten selbst zu gestalten und neue Wege zum Kunden etablieren. Wie weit Kunden sich vom Ursprung der Leistung oder des Produkts entfernen, zeigt der Erfolg von z.B. „Spotify“ - die Digitalisierung von Musik hat ihre Entsprechung in einem Geschäftsmodell gefunden, das die Erwartungen von Kunden an Mehrwert erfüllt: Bequemlichkeit, Verfügbarkeit, individualisierte Angebote und nicht zuletzt Einfluss auf das Portfolio über ihr Kaufverhalten. Die eigentlichen Produzenten haben hier kaum noch Einfluss und den Zugang zu ihren Kunden in weiten Teilen verloren. Der Paradigmenwechsel wird sich auch massiv auf die Unternehmensorganisation auswirken. Abgeschottetes Abteilungsdenken lässt eine übergreifende Zusammenarbeit, die die neuen eng vermaschten Produktstrukturen erfordern, nicht zu. Gebraucht wird eine einheitlich geführte Organisation, die mehrwertorientierte Produktwelten entwickelt. Fazit: Die zitierten Studien zeigen, dass die Unternehmen die Digitalisierung noch nicht nachhaltig einsetzen. Sie sind jedoch gut beraten, die neuen Möglichkeiten, die die Digitalisierung bietet, zu nutzen und ihr Portfolio im Einklang mit ihrer Organisation den neuen Bedingungen folgend anzupassen. Nur so können sie Kunden im „Age of the Customer“ langfristig einen Mehrwert bieten und sie an ihr Unternehmen binden, bevor es andere tun. |