Cloud als Basis für experimentelle IT ernster nehmen

Digitalisierung muss vorausschauend sein

12.03.2015 von Ima Buxton
Bewährte Geschäftsmodelle geraten durch die Digitalisierung nicht selten ins Wanken. Zeit für neue Wege in unbekanntes Terrain. Dazu sind derzeit allerdings nur wenige Unternehmen bereit.

Die Digitalisierung sorgte laut Branchenverband BITKOM im Jahr 2012 in Deutschland für 1,46 Millionen Arbeitsplätze und ein Exportplus von 49 Milliarden Euro. Die bayerische Wirtschaftsministerin Ilse Aigner erwartet in Deutschland in den nächsten zehn Jahren ein zusätzliches Wachstum von 700 Milliarden Euro.

Die Erwartungen könnten kaum größer sein. Doch die Digitalisierung ist einer der Trends, die in den Medien und von Experten häufig als disruptiv beschrieben werden, soll heißen: die Auswirkungen der Digitalisierung auf bestehende Geschäftsmodelle und -prozesse sind schlecht vorhersehbar, ihre Folgen nur schwer planbar, denn existierende Strukturen werden durch die digitale Transformation grundlegend verändert oder sogar in Frage gestellt.

Laut Zukunftsstudie des Münchner Kreises - eine unabhängige Plattform für Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft - gehen derzeit 31 Prozent der befragten IKT-Experten aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft davon aus, dass eine erfolgreiche Geschäftsentwicklung in der digitalisierten Wirtschaft es erforderlich macht, bewährte Erfolgskonzepte komplett aufzugeben. Für das Jahr 2025 erwarten das schon 69 Prozent der Befragten.

Mut, alte Pfade zu verlassen

Um die Wachstumschancen der digitalen Transformation in diesem unbeständigen Umfeld ausschöpfen zu können, erfordert es folglich nicht nur Mut, alte Pfade zu verlassen, sondern auch Orientierungsvermögen, um aussichtsreiche Wege in eine neue Zukunft ausfindig zu machen. Digitalisierung muss also vorausschauend sein - sie muss ein langfristiges Konzept oder auch - weitreichender - eine digitale Vision formulieren, auch oder gerade, wenn andere deren Folgen noch nicht absehen können.

Sebastian Saxe, CIO bei der Hamburg Port Authority (HPA), legt im Gespräch mit CIO.de dar, wie das aussehen kann. Danach hätte sein Unternehmen nach vollständiger Digitalisierung "die Sensorik im Hamburger Hafen ausgebaut und wir hätten bei der Hamburg Port Authority so etwas wie ein Port Traffic Center, in dem die Verkehrswege Straße, Schiene, Wasserstraße gesteuert werden können, so dass der Verkehrsfluss von den Containern in einem Binnenhafen optimiert wird."

Dies könne in den nächsten drei bis vier Jahren erreicht werden. Damit die Vision jedoch Realität werden kann, müsse die Digitalisierung für Kunden und Geschäftspartner anfassbar gemacht werden, schlussfolgert Saxe. "Anfassbar machen heißt, wir müssen Prototypen bauen, Geschichten erzählen, die es vorstellbar machen, was digitale Transformation eigentlich bedeutet."

Zwei Drittel sehen Wachstumschancen in fremden Branchen

Für andere Unternehmen ist dabei der Weg das Ziel, wie etwa in der datengetriebenen Versicherungsbranche, in der vor allem Produkte und Dienstleistungen und weniger Prozesse Basis der Wertschöpfung sind. Die Erzeugung von Mehrwert via digitaler Transformation erfordert hier ein hohes Maß an Abstraktion und Kreativität, meint etwa Rainer Janßen, CIO bei Munich RE: "Die Kreativität, was wir mit digitalen Tools und Systemen erreichen könnten, ist noch nicht so ausgebildet, wie wir uns das wünschen."

Munich RE habe sehr viele Daten zur Verfügung, doch erfordere es noch einiges an Kreativität, das Potenzial aus diesen Daten auch zu heben. So habe auf der einen Seite der Fachbereich noch keine Ahnung, welche Antworten ihnen bereits vorhandene Daten mithilfe technischer Lösungen liefern könnten - die IT, auf der anderen Seite, habe noch keine genaue Vorstellung davon, welche Analysetools die Fachbereiche für ihre Arbeit benötigen.

Viele deutsche Firmen unternehmen allerdings bislang wenig, im Zuge der Transformation über den sprichwörtlichen Tellerrand hinauszublicken. Eine disruptive strategische Maßnahme könnte beispielsweise die Expansion mit digitalen Produkten oder Dienstleistungen in fremde Branchen sein. Hierzulande haben allerdings der KPMG-Studie "Survival of the Smartest" zufolge derzeit lediglich 19 Prozent der deutschen Firmen diesen Schritt unternommen. Dabei sehen 66 Prozent durchaus Wachstumschancen in fremden Branchen.

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Sebastian Saxe, CIO Hamburg Port Authority, im Interview:
"Wir müssen auch extern bei unseren Kunden die digitale Transformation anfassbar machen"

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Rainer Janßen, CIO Munich RE, im Interview:
"Wir befinden uns in einem sehr interaktiven Suchprozess"

Räume und Möglichkeiten für Experimente schaffen

Diese müssen Unternehmen künftig auch zunehmend ergreifen, meinen die KPMG-Analysten: "Marktsättigung und Wettbewerbsintensität im klassischen Kerngeschäft sowie technologiegetriebene Produkt- und Branchenkonvergenzen zwingen verstärkt dazu, neue Wachstumsinitiativen anzustoßen und Sektor übergreifende Lösungen zu entwickeln."

Beim Blick über den Tellerrand werden Business-Manager nicht nur Expansionspotenziale in andere Branchen erspähen, sondern auf so manches Neuland stoßen: von neuen Arbeitszeit- und Produktionsmodellen über neue Konzepte der vertikalen Vernetzung mit bisherigen Konkurrenten bis hin zu einer neuen Kundenkommunikationskultur.

Dem CIO kommt in der neuen digitalen Welt eine weitreichende Aufgabe zu. KPMG sieht die IT zum "wichtigen unternehmerischen Asset" erwachsen, zum "strategischen Unterscheidungsmerkmal" und "Differentiator auf dem Markt". Gerade vor dem Hintergrund einer Expansion in das Ungewisse mit zumindest teilweise experimentellem Charakter muss der CIO als Business Enabler auch Räume und Möglichkeiten für Experimente schaffen.

In diesem Zusammenhang verweisen die KPMG-Experten auf die Potenziale der Cloud-Nutzung, die von vielen deutschen Unternehmen noch immer verkannt würden. CIOs müssten sich künftig eingehender mit diesem Thema beschäftigen und "Cloud als Türöffner zu mehr Geschwindigkeit in Geschäftsprozessen, zu Innovationen sowie zu Kosten- und Wettbewerbsvorteilen verstehen".

Kommentar: Digitalisierung muss vorausschauend sein, aber auch flexibel und bezahlbar
von Philipp Emmenegger, Coresystems AG

Zunächst einmal: Ja, die Digitalisierung bringt bestehende Konzepte ins Wanken. Aber ich denke, dass die Auswirkungen der Digitalisierung auf bestehende Geschäftsmodelle und – prozesse zum Teil vorhersehbar sind. Ein Beispiel: die Automatisierung von Geschäftsprozessen kommt, und das branchenübergreifend. Hier können Cloud-basierte IT-Lösungen helfen, ohne kostenintensiven Aufbau einer IT-Infrastruktur Arbeitsprozesse effizienter und einfacher zu gestalten. Ebenso ist vorhersehbar, dass die Mobilität besonders bei dienstleistungsorientierten Unternehmen steigen wird. Entsprechend müssen alle Cloud-Lösungen auch mobil sein und Flexibilität bieten. Auch Trends wie die Vernetzung von Geräten (Internet of Things) oder Big Data werden die Digitalisierung der Industrie bestimmen. Wer hier experimentiert, der hat gute Karten, auch in Zukunft wettbewerbsfähig zu bleiben und neue Geschäftsmodelle zu erschließen.

Bewährte Konzepte müssen nicht zwangsläufig aufgegeben werden

Wenn Geschäftsprozesse automatisiert werden, heißt das nicht zwangsläufig, dass man von altbewährten Erfolgskonzepten Abschied nehmen muss. Manchmal reicht es, diese über IT-Lösungen zu optimieren und dabei wichtige Erkenntnisse zu sammeln. Ein Traditionsunternehmen, das tolle Kaffeemaschinen herstellt, wird nicht auf einmal etwas völlig anderes produzieren, denn das Know-how ist bereits vorhanden. Aber mit der Digitalisierung und Automatisierung von Prozessen, kann das Unternehmen wertvolle Daten sammeln. Erst mit den vorhandenen Daten kann man sehen, wo weitere Potentiale liegen und welche Kundenwünsche realisiert werden sollten, um damit zusätzliche Einkommensquellen zu schaffen.

Vorausschauend ja, aber auch flexibel und bezahlbar

Visionen sind sicher gut. Auch wir schauen, wo die Reise hingeht und wie die Zukunft aussehen könnte. Viele Unternehmen haben allerdings das Gefühl, die Digitalisierung erfordere große Investitionen und eine tiefgreifende Umstellung. Das ist ein Trugschluss. Gerade bei kleineren Unternehmen ist eine Umstellung auf digitale Prozesse schnell erfolgt, ist bezahlbar und Ergebnisse sind sehr schnell sichtbar. Beispielsweise verzeichnet einer unserer Kunden, welcher seine 40 Servicetechniker digitalisiert hat, bereits Kosten- und Zeitersparnisse von mehreren Tausend Euro.

Digitalisierung ist keine Zukunftsmusik, sondern passiert hier und jetzt. Das ist etwas, das wir KMUs verständlich machen müssen. Des Weiteren müssen wir Unternehmen Berührungsängste gegenüber neuen Technologien nehmen: Wenn ein Unternehmen eine erste IT-Lösung implementiert hat und das Ganze gut funktioniert, steigt auch die Akzeptanz für weitere Innovationen und Investitionen.