In einem heißen, staubigen Dorf im ostindischen Bundesstaat Jharkhand steht an einer unbefestigten Straße ein gelbes Haus. Hier entscheidet sich für viele Bewohner Monat für Monat, ob sie genug Reis zu essen haben werden. Es hängt unter anderem davon ab, ob das Internet gerade funktioniert, und ob sich ihre Fingerabdrücke erkennen lassen - trotz Jahre harter Arbeit.
In dem Haus, der Ausgabestelle für subventionierten Reis im Dorf Baridih, sitzt Jolen Minz in einem kleinen, dunklen Raum. In einer Ecke liegen Dutzende 50-Kilo-Säcke Reis gestapelt. Sie sind vom vorherigen Monat übrig, als die Menschen, denen der Reis zustand, ihn wegen verschiedener Probleme nicht mitnehmen konnten.
Auf einem kleinen Tisch vor Minz liegt ein Gerät mit einer Kassenrolle, das aussieht, wie ein Lesegerät für EC- und Kreditkarten. "Willkommen", quäkt eine weibliche Stimme, als Minz das Gerät einschaltet. Noch bevor ihre Kundin ihren Daumen auflegen kann, zeigt das Gerät ein Netzwerkproblem an.
"Das Internet kommt und geht", erzählt Minz schulterzuckend. Die Kundin, die 28-jährige Ziegelei-Arbeiterin Rina Devi, muss sich nun gedulden und hoffen, dass die Verbindung heute noch einmal zustande kommt. Dann kann das Gerät ihren Daumenabdruck mit einer Datenbank abgleichen, und sie kann die 35 Kilo staatlich subventionierten Reis kaufen, die ihrer Familie monatlich zustehen.
Ohne Aadhaar geht nichts
Gemeint ist die zentrale Datenbank des indischen Identifikationsprogramms Aadhaar - übersetzt in etwa "Fundament". Die meisten der 1,3 Milliarden Bürger des Landes haben inzwischen einen Aadhaar-Personalausweis mit einer zwölfstelligen Nummer, unter der in der Datenbank persönliche und biometrische Daten gespeichert sind - darunter Iris-Scans beider Augen und alle zehn Fingerabdrücke. Wer subventionierte Grundnahrungsmittel bezieht, muss sich seit rund einem halben Jahr per Aadhaar ausweisen. In Jharkhand, einem der ärmsten Bundesstaaten Indiens, sind das etwa 86 Prozent der mehr als 30 Millionen Einwohner.
Infolge des Datenskandals um Facebook wird auch in Indien, einem Land ohne umfassendes Datenschutzgesetz, über Datenmissbrauch diskutiert. Wie sich herausstellt, zählt ein lokaler Partner der Datenanalyse-Firma Cambridge Analytica beide der großen indischen Parteien zu seinen Kunden. Außerdem hat ein Hacker enthüllt, dass Daten von Nutzern der persönlichen App von Premierminister Narendra Modi ohne deren Einverständnis an eine US-amerikanische Firma weitergegeben wurden - was anschließende Recherchen indischer Medien bestätigt haben.
"Hi! Mein Name ist Narendra Modi. Ich bin Indiens Premierminister. Wenn Sie sich für meine offizielle App anmelden, gebe ich all Ihre Daten an meine Freunde in amerikanischen Unternehmen weiter", spottet Rahul Gandhi, Chef der oppositionellen Kongresspartei, auf Twitter. Kurz darauf twittert der Hacker über ähnliche Probleme mit einer App der Kongresspartei.
Über Aadhaar ist im Zusammenhang mit Datenschutz bislang wenig gesprochen worden. Dabei wird das Programm immer mehr zu einem Grundbestandteil des indischen Lebens. Ab Juli müssen sich Empfänger staatlicher Hilfsleistungen per Aadhaar ausweisen, und zum selben Stichtag muss die Aadhaar-Nummer mit der Steuernummer verknüpft werden. Dasselbe soll auch für Bankkonten, SIM-Karten und Reisepässe gelten - entsprechende Fristen sind derzeit ausgesetzt, während sich der Oberste Gerichtshof mit Klagen gegen das Programm beschäftigt.
Aadhaar wurde 2009 noch unter der vorherigen Regierung eingeführt, um Betrug bei Sozialleistungen zu verhindern. Modi baut es als Teil seiner Digitalisierungs-Initiative weiter aus. "Lange Zeit wurde es den Menschen als freiwillig verkauft", erklärt der renommierte Entwicklungsökonom und Aktivist Jean Drèze, der aus Belgien stammt, aber seit 1979 - als er 20 war - in Indien lebt. "Jetzt stellen die Leute fest, dass es alles andere als freiwillig ist, sondern in Wirklichkeit de facto verpflichtend."
Sicherheit ist fraglich
Dass die in der Aadhaar-Datenbank gespeicherten Daten von mehr als einer Milliarde Menschen keineswegs sicher sind, fand die Journalistin Rachna Khaira heraus. Sie berichtete im Januar in der Zeitung "The Tribune", dass sie von Hackern gegen Zahlung von 500 Rupien (etwa 6,20 Euro) Zugang zu der gesamten Datenbank bekommen habe. Die Aadhaar-Behörde UIDAI zog daraus befremdliche Konsequenzen: Sie zeigte Khaira unter anderem wegen Betrugs und Fälschung an.
Es war nach Angaben des Journalisten und Internetfreiheits-Aktivisten Nikhil Pahwa längst nicht die einzige Aadhaar-Datenpanne - obwohl die Regierung immer wieder betont, die Daten seien sicher. Wer auf Probleme hinweise, müsse mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen, sagt Pahwa. Auch gebe es viel Betrug, weil beim Zuweisen von Aadhaar-Nummern Ausweisdokumente nicht überprüft würden. Das habe bisweilen absurde Folgen: "Es gab Berichte über einen Stuhl, der eine Aadhaar-Nummer bekam - mit einem Foto eines Stuhls auf dem Ausweis. Auch Hunde haben Aadhaar-Nummern bekommen."
Auf dem Weg zum Massenüberwachungsstaat?
Nach Ansicht von Pahwa entsteht in Indien derzeit ein "Massenüberwachungsstaat". Aadhaar sei eine große Bedrohung sowohl individueller Freiheiten als auch der nationalen Sicherheit. Über die bevorstehenden Verhandlungen vor den Richtern des Obersten Gerichtshofs sagt er: "Ihre Entscheidung wird wohl eine der wichtigsten in der Geschichte des unabhängigen Indien sein."
Das hat nicht nur mit Fragen des Datenschutzes zu tun, sondern auch mit den Folgen der Verknüpfung von Aadhaar etwa mit dem Rentensystem - und eben mit dem System zur Ausgabe subventionierter Grundnahrungsmittel.
"Es gibt Leute, die ihre Essensrationen nicht mehr kaufen konnten, seit das biometrische System eingeführt wurde", erzählt Drèze, der zur Zeit Gastprofessor in Ranchi, der Hauptstadt von Jharkhand, ist und der Erhebungen in den Dörfern des Staates macht. Es habe auch Hungertode wegen Aadhaar-Problemen gegeben. Aktivisten haben mindestens vier solche Fälle im vergangenen halben Jahr dokumentiert; die Behörden bestreiten allerdings, dass die Opfer an Hunger gestorben seien.
Es treffe die Schwächsten, sagt Drèze - Alte mit abgenutzten Fingerkuppen; alleinlebende Witwen, die mit dem System nicht klarkommen; Arme, die sich eine Fahrt in die Stadt nicht leisten können, um ihre Lebensmittelkarten mit Aadhaar-Nummern verknüpfen zu lassen. "Also genau die, denen das System helfen soll."
In Nagri, einer Ansammlung von Dörfern nahe Ranchi, wird derzeit eine Änderung beim PDS getestet: Statt, dass die Bedürftigen den Reis zum eher symbolischen Preis von einer Rupie pro Kilo kaufen können, wird ihnen die Subvention monatlich überwiesen - sie bekommen also 31,60 Rupien pro Kilo Reis überwiesen und kaufen diesen dann für 32,60 Rupien das Kilo. "Ein absoluter Alptraum", meint Drèze.
Die Menschen müssen nun kilometerweit - häufig zu Fuß - zur Bank gehen und dort in Erfahrung bringen, ob das Geld angekommen ist. Oft ist das nicht der Fall oder sie kommen wegen der langen Schlangen nicht dran, so dass sie am nächsten Tag wiederkommen müssen. So geht den vielen hier lebenden Tagelöhnern dringend benötigter Lohn flöten. Ist das Geld da, müssen sie sich biometrisch ausweisen und dann in der Ausgabestelle das Prozedere wiederholen.
Vor dem Laden von Jolen Minz erzählt eine wartende Kundin, sie habe in den vier Monaten seit Beginn des Überweisungs-Experiments erst zweimal das monatliche Geld bekommen. Eine andere Frau: erst ein Mal. Eine dritte berichtet, sie bekomme zwar Geld, aber jeden Monat weniger. Dies sind keine seltenen Geschichten hier. Geld könnte auf dem Konto eines verstorbenen Ehemannes oder eines Betrügers gelandet sein - genau weiß es niemand. Ebenso wenig, bei wem man sich beschweren kann.
Im nahegelegenen Dorf Upardaha sitzt der dürre, 62-jährige Soma Oraon im Schatten vor seinem Haus. Er kann nicht mehr richtig laufen, seit er vor sechs Jahren von einem Mofa-Fahrer am linken Bein erfasst wurde. Das stundenlange Anstehen bei der Bank macht ihm zu schaffen, und dann muss er im Erfolgsfall auch noch einen 35-Kilo-Sack Reis von der Ausgabestelle nach Hause schleppen. Sollte er seinen Reis zwei Monate in Folge nicht kaufen, könnte ihm den Vorschriften zufolge die Lebensmittelkarte abgenommen werden.
Als Mittel zur Korruptionsbekämpfung untauglich
Erklärtes Ziel bei der Verknüpfung der Ausgabe subventionierter Lebensmittel mit Aadhaar sei es gewesen, die Korruption zu bekämpfen, erklärt Drèze. Diese habe es aber immer hauptsächlich bei den Händlern in den Ausgabestellen gegeben - daran ändere es nichts, dass sich nun die Empfänger biometrisch ausweisen müssen.
"Letztlich ist die Korruption nicht zurückgegangen, und Unannehmlichkeiten und Ausschlüsse haben zugenommen", sagt der Ökonom. Selbst in der Hauptstadt Neu Delhi gebe es viele Probleme mit dem System. "Wenn man es schon in Delhi nicht hinkriegt, warum geht man dann in eine Gegend wie Jharkhand, die am wenigsten darauf vorbereitet ist?", fragt er.
Die Regierung ignoriere die Probleme, die er und seine Forscher immer wieder dokumentierten, meint Drèze. Und sie interessiere sich für die betroffenen, armen Menschen nur dann, wenn gerade Wahlen anstünden. Als Antwort auf eine von ihm mit organisierte Demonstration der Bewohner von Nagri Ende Februar habe es nur leere Versprechen gegeben.
Dass Aadhaar trotz aller Probleme weiter ausgebaut und vorangetrieben wird, liegt für Drèze zum einen an blindem Glauben, das System könne Korruption beseitigen sowie Kosten einsparen. Zum anderen gebe es kommerzielle Interessen - etwa der Software- und Sicherheitsindustrien. "Außerdem: Wenn Aadhaar mit allem verknüpft wird, schafft das riesige Gelegenheiten, Daten auszuwerten." (dpa/ad)