Work-Life-Balance

Ein Plädoyer für den Feierabend

23.10.2013 von Ferdinand Knauß
Glücklich ist, wer sich im Beruf selbst verwirklichen kann. Alle anderen Menschen brauchen die Trennung von Arbeit und Leben. Und Arbeitgeber müssen das akzeptieren.

Thomas Vašek ist sicher ein glücklicher Mensch. Und er lässt die Welt an diesem Glück teilhaben: "Ich liebe meine Arbeit", lautet der erste Satz seines aktuellen Buches. Es heißt "Work-Life-Bullshit" und die These steht im Untertitel: "Warum die Trennung von Arbeit und Leben in die Irre führt."

In diesem Werk teilt uns Vašek, der als Chefredakteur eines Philosophiemagazins seinen Lebensunterhalt verdient, nicht ganz uneitel mit, dass er "gar nicht viel anderes tue" als zu arbeiten und "dennoch weder krank, noch erschöpft" sei und daher das "Gejammer über die Zumutungen der Arbeit" nicht mehr hören könne.

Sind die vielen arbeitsbedingt psychisch Kranken also nur Hypochonder und Jammerlappen? Führt das Bedürfnis nach Freizeit und nach der Trennung von Arbeit und Leben tatsächlich in die Irre? Ist das Geheimnis des Glücks, die Arbeit ganz einfach zum Lebensinhalt zu machen?

Zunächst einmal muss man fragen, was "Arbeit" ist. Der Philosoph Vašek gibt darauf keine befriedigende Antwort. Er scheint nicht zu merken, dass das, was er pausenlos tut, kaum mit demselben Arbeitsbegriff zu fassen ist wie das, was eine Kassiererin oder ein Bankkaufmann tut. Und daher ist sein Buch mit 275 Seiten trotz aller aufgehäuften Gelehrsamkeit selbst ziemlicher Bullshit.

Der amerikanische Soziologe Richard Florida hat sehr schön beschrieben, wie Künstler, Musiker, Wissenschaftler, Autoren - also Leute wie Vasek - sich nie zwingen lassen und dennoch fast immer mit Kunst, Musik oder Wissenschaft befasst sind, ohne das als Mühsal zu empfinden. Wie sich "Arbeit" und Spiel bei ihnen verwischen, weil sie viel Zeit für intensive Konzentration in Einsamkeit brauchen. Und dazwischen Phasen, in denen sie scheinbar nichts tun, während in ihren Köpfen neue Werke heranreifen. Ein Controller würde das, was Vašek oder Florida tun, nicht "Arbeit" nennen. Und er hätte damit Recht.

Wer seine leidenschaftlichen Interessen ausleben und davon leben kann, und das noch weitgehend selbstverantwortlich und ungebunden, der wird nie ausbrennen. Der hat selbstverständlich auch kein Bedürfnis nach Grenzen für seinen Beruf. Natürlich ist so ein Mensch immun gegen Burnout und andere arbeitsbedingte Krankheiten. Thomas Vašek und Richard Florida können auf die Work-Life-Balance pfeifen, weil für sie Lebensinhalt und Erwerbstätigkeit identisch sind. Happy few!

Arbeit ist etwas anderes. Etymologisch kommt das Wort vom lateinischen "arvum", dem Ackerland, und im Mittelhochdeutschen war es gleichbedeutend mit Mühsal. Der Philosoph Otfried Höffe definiert Arbeit als "Tätigkeit des Menschen in Abhängigkeit von Natur und natürlicher Bedürftigkeit zum Zweck der Lebensunterhaltung und -verbesserung." Oder wie es in der Bibel heißt: "Im Schweiße Deines Angesichts sollst du dein Brot verdienen."

Glück ist nicht der Daseinszweck von Unternehmen

Karriere-Berater und wichtigtuerische Sachbuchautoren wollen uns nun einreden, dass wir nicht schwitzen müssen. Dass für jeden Menschen irgendwo der Traumjob wartet, eine Karriere, die die totale Erfüllung bedeutet. Sie stellen uns dann gerne Menschen vor, die sich erfolgreich selbständig gemacht haben. "Hört auf zu arbeiten" von Anja Förster und Peter Kreutz ist so ein Buch.

Natürlich sollte jeder Mensch mit kreativen Ambitionen versuchen, sie auszuleben. Und jedem Menschen ist zu wünschen, dass er mit seinen Interessen und Leidenschaften seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Aber die Selbstverwirklichungsapostel blenden aus, dass sehr viele Menschen mit diesem Ziel scheitern, oder von vornherein gar keine Chance haben, es zu erreichen. Wenn Förster und Kreutz den Leser auffordern, dass zu tun, "was Ihnen viel mehr entspricht, nämlich das, was Sie tun würden, wenn Sie die Haltung eines Künstlers einnehmen würden!", dann unterstellen sie, dass es für dieses Tun auch eine ökonomische Umsetzung gibt. Schön wär's. Aber nicht jeder hat das Glück des Thomas Vašek.

Auch viele Angehörige der von Richard Florida besungenen "kreativen Klasse" können nicht von ihrer Kreativität leben. Ich kenne eine Schriftstellerin, sogar eine recht erfolgreiche. Sie hat zwölf Romane bei angesehenen Verlagen veröffentlicht, mehrere Preise gewonnen. Und doch musste sie lange Jahre als Lehrerin arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Schriftstellerei war und ist für sie keine Arbeit, es ist ihr Leben. Die Arbeit als Lehrerin war nicht ihr Leben. Und gerade darum hat sie immer dafür gesorgt, dass diese begrenzt blieb, um Zeit fürs Schreiben frei zu halten.

Der Daseinszweck von Wirtschaftsunternehmen ist nicht das vollkommene Glück ihrer Angestellten, sondern finanzieller Gewinn durch die Produktion von rentablen Waren oder Dienstleistungen. Auch wenn uns mancher Buchautor das Gegenteil einredet. Will man wirklich dem Produktmanager, dem Monteur am Fließband, der Sachbearbeiterin empfehlen, sie sollen entweder ihre Arbeit zum Lebensinhalt erklären oder damit aufhören und "die Haltung eines Künstlers einnehmen"?

Die meisten Menschen müssen sich wohl oder übel damit zufrieden geben, einen Beruf auszuüben, der möglichst angemessene Bezahlung und soziales Ansehen einbringt. Einen Beruf, in dem sie sich einigermaßen wohlfühlen, weil sie ihn für einigermaßen sinnvoll halten und ihre Begabungen einigermaßen anwenden können.

"Dead Man Working"

Ihr Lebensglück aber finden die meisten Menschen nicht in der Tätigkeit, mit der sie ihren Lebensunterhalt verdienen (müssen). Sonst wären die Fußballstadien nicht so voll. Sport und andere Hobbies sind mentale Fluchten für Menschen, die das Glück außerhalb der Arbeit suchen (müssen). Diese Menschen haben ein verständliches Bedürfnis nach einem vor ökonomischen Zwängen geschützten Rückzugsraum, nach einem Leben jenseits der Arbeit, das sie selbstbestimmt ihren Interessen und Leidenschaften widmen können, ohne dauernd mit einem Anruf der Chefin rechnen zu müssen.

Nur die wenigen Glücklichen, die vollkommen in ihrem Beruf aufgehen, werden dazu neigen, die Grenzen zwischen Arbeit und Leben aufzulösen. Wenn aber diese Entgrenzung von außen aufgezwungen wird, dann ist das Ergebnis der "Dead Man Working", den Carl Cederström und Peter Fleming in ihrem gleichnamigen Buch beschreiben: Ein Mensch, der das "Gefühl des Nicht-Lebens" bekommt. Ein Mensch, der seinen Job nicht mehr nur ausübt, sondern wider seine Natur gezwungen ist, dieser Job zu sein. Ein unglücklicher, erschöpfter, vielleicht sogar kranker Mensch. Und kein produktiver Arbeitnehmer.

Bei der Rheinbahn in Düsseldorf hat man das begriffen. Auf Werbeplakaten präsentiert die städtische Verkehrsgesellschaft ihre Mitarbeiter nicht bei der Arbeit, sondern bei ihren Hobbies. Ein Handballtorwart ist da zu sehen, eine Trommlerin, ein Langstreckenläufer im Neandertal und ein Mann, der seine Freizeit am liebsten im Indianerkostüm verbringt. Die Botschaft der Kampagne: Wir wissen, dass die Firma einen Anspruch auf die Arbeitskraft ihrer Beschäftigten hat, aber nicht auf den ganzen Menschen. Das dürfte bei Arbeitnehmern sehr viel besser ankommen als Teambuilding-Events oder ein Betriebsfest in der schönsten Feierabendzeit.

Die "Wertschätzung", von der Personalmanager neuerdings so viel reden, zeigt sich nicht durch den Kickertisch im Pausenraum, sondern im Respekt für das Bedürfnis nach einem Leben jenseits der Erwerbsarbeit.

Quelle: Wirtschaftswoche