Lilium

Ein Startup geht in die Luft

17.01.2020 von Horst Ellermann
Peter Seidel baut Flugtaxis. Nach 20 Jahren bei BMW hat der IT-Manager den CIO-Job beim Flugzeugbauer Lilium übernommen. Ausgang ungewiss. Warum tut er sich das an?
Der Lilium Jet ist ein elektrisch angetriebenes, senkrecht startendes Luftfahrzeug des deutschen Herstellers Lilium.
Foto: Lilium

Das Startup Lilium aus Weßling bei München baut Senkrechtstarter mit Batteriebetrieb. Drohnen mit Batteriebetrieb kennt man - allerdings tragen sie höchstens eine Kamera. Nur der "Volocopter" aus Karlsruhe und ähnliche "Drones" hieven auch Personen in die Höhe, kommen aber selbst in ihren schicksten Zukunftsszenarien nicht weiter als 30 Kilometer. Hubschrauber mit Verbrennungsmotor können weiter, sind aber laut. Senkrechtstarter können noch weiter, sind aber richtig laut. Beim Abheben eines herkömmlichen Senkrechtstarters fliegen allen Anwesenden in 500 Meter Umkreis erst mal die Ohren weg. Und genau diese Technik soll jetzt die Mobilität unserer Innenstädte revolutionieren?

Fünf Personen passen in die kleine Kapsel mit den vier Stummelflügeln und den 36 sogenannten Engines. Alle in Weßling reden vom Jet, aber bei diesen Engines wird kein Kerosin beigemischt, verdichtet und verbrannt. Die Tragflügel sehen aus wie Schweizer Käse, dessen Löcher jemand mit Lüftern aus alten PCs gestopft hat. Die Engines pusten Luft zunächst nach unten und dann - nach dem Abheben - nach hinten, so wie Senkrechtstarter das eben tun. Das mache nicht mehr Lärm als ein Föhn, heißt es aus dem Marketing. Die Ingenieure arbeiten emsig daran, den Geräuschpegel weiter zu senken. Gemessen hat ihn allerdings noch keine Genehmigungsstelle. Dafür ist es noch zu früh.

Angetrieben werden die Engines von Lithium-Batterien, die 300 Kilometer weit tragen sollen. Die Website von Lilium ist voll von Szenarien, die das Zielpublikum in New York, London, Shanghai oder eben auch München jubeln lassen: In zehn Minuten aus der Innenstadt zum Flughafen oder gleich in einer Stunde nach Frankfurt - beides scheint möglich. Drohnenbauer sind schon froh, wenn sie bis zum nächsten Flughafen kommen. Andere Flugzeugpioniere setzen bei solchen Reichweiten eher auf Wasserstoff, etablierte Anbieter natürlich auf Kerosin.

Technik ist nicht das Problem

Zweifel gibt es jede Menge: So muss einer der fünf Insassen den Piloten machen, das verlangt das deutsche Flugrecht. Obwohl der Lilium Jet autonom fliegen könnte, darf er das nicht. Im deutschen Luftraum muss immer noch ein Mensch darüber wachen, ob die Technik auch wirklich funktioniert - insbesondere, wenn andere Menschen an Bord sind. Der Jet soll aber auch gar nicht allein fliegen. Die Bereitschaft, ohne Piloten zu fliegen, sei bei den Fluggästen eh noch nicht vorhanden. Darin sind sich die Verantwortlichen bei Lilium - wie auch bei den anderen deutschen Flugzeugpionieren - einig. Fazit: Noch nicht genehmigte Technik trifft auf nicht vorhandene Infrastruktur und nicht sicher gegebene Akzeptanz bei den Usern.

Peter Seidel ist CIO bei Lilium: "Bei BMW haben wir uns ja auch bemüht, so etwas wie Startup-Islands zu kreieren."
Foto: Lilium

Genau hier fühlt sich Peter Seidel wohl. Der ehemalige BMW-Manager hat sein warmes Nest verlassen und ist seit dem 1. Oktober Chief Information Officer bei Lilium. Bei nur fünf IT-Mitarbeitern und insgesamt nur 300 Kollegen ist der Titel CIO vielleicht etwas hoch gegriffen - aber Lilium will wachsen. Noch immer ganz euphorisch steuert Seidel seinen ersten selbstgekauften BMW über den Flugplatz Oberpfaffenhofen bei München. Die Ampel am Rollfeld steht auf Grün. Gerade landet kein Flieger. Eigentlich landet hier fast nie ein Flieger. Seidel kreuzt das Rollfeld mit Tempo 30 und parkt vorm alten Dornier-Gebäude, das Lilium schon fast vollständig belegt hat. "Schauen Sie mal da", sagt der ITler: "Die nächsten zwei Hallen für die Produktion sind fast fertig. Und hier in der ersten Halle ist unsere Entwicklung. Da parkt unser Vogel."

Weichen auf Wachstum gestellt

Noch ist der Hangar zu groß. Es gibt erst einen Prototypen vom Jet und für den würde eine Doppelgarage schon reichen. Aber bei Lillium ist eben alles auf Wachstum ausgerichtet. Irgendwann soll hier nicht nur entwickelt, sondern auch in Serie produziert werden. Ein zweiter Flieger sei schon im Bau, sagt Seidel. Nur sehen darf man ihn noch nicht. Im firmeneigenen Museum parken ein paar Modelle von Erstlingswerken aus Balsaholz. Angeblich hätte der Jet bei diesem feinen Föhnwetter zu einem Testflug abheben sollen. Doch der Hangar bleibt zu. Es gibt ein Video vom Jungfernflug am 4. Mai 2019.

Seidel präsentiert erst mal die Kantine. Morgens, mittags und abends essen hier die Mitarbeiter umsonst. Dauernd verfügbar ist Müsli mit Soja-, Hafer- oder Biomilch, fettarm, fettreich, eben genauso divers wie die ganze Belegschaft. Eine Weltkarte am Eingang zeigt, wo die Mitarbeiter herkommen. Auf keinem Kontinent fehlt ein Fähnchen, selbst Länder wie der Tschad sind beflaggt. Seidel ist besonders stolz auf die vielen Fähnchen in Kalifornien: "Die aus dem Silicon Valley müssten ja nicht hier sein, wenn es hier nicht spannend wäre."

Drei Aufgaben warten auf den CIO, angelehnt an die drei großen Bereiche des Unternehmens: Entwicklung, Produktion und "Betreiben der Airline". Warten sei aber das falsche Wort, sagt Seidel. Die üblichen 100 Tage für Neulinge, um ein Konzept vorzustellen, gebe es nicht: "Bei der Geschwindigkeit hier sind das eher höchstens zehn." Der Grund: Finanzierungsrunde A und B sind mit 100 Millionen Euro längst geregelt. C werde deutlich größer und sei auch schon so gut wie in trockenen Tüchern, sagt Seidel. Die fünf Kapitalgeber Tencent, Atomico, LGT, Obivious und Freigeist wollen fliegen.

Entwicklung braucht Highend-IT

Um ein Flugobjekt - angetrieben von 36 Lüftern - wackelfrei in der Luft stehen zu lassen, testen die Entwickler ziemlich viel. Zwei High-Performance-Cluster rechnen derzeit, wie der Jet sanft schwebt und nicht schaukelt. Die Cluster stehen schon in externen Rechenzentren. Seidel ist aber noch unglücklich mit der internen Schatten-IT, die vor seiner Zeit gewachsen ist. Der IT-Mann zeigt sich unnachgiebig: "Ich will hier nicht ein Stück Hardware im Haus haben."

Der CIO will bei Lilium keine Kisten schubsen, obwohl in der Entwicklung von Anfang an "Digital Twins" entstehen sollen - der Bedarf an Rechnern also besonders groß ist. Seidel spricht lieber von "Digital Shadow", meint aber das Gleiche: Alles, was einmal physisch entsteht, braucht ein digitales Abbild. Die Analysten von Gartner predigen dieses Vorgehen beständig den Großunternehmen, die mit ihren Legacy-Systemen zu kämpfen haben. Bei Lilium sieht Seidel eine große Chance, die IT-Architektur von Anfang an zukunftsweisend auszulegen. "Zum Beispiel können wir ein Konzept wie den digitalen Zwilling gleich End to End implementieren oder wir können uns die Frage stellen, für welche Stammdaten das ERP beziehungsweise das PLM das führende System sein wird."

Beim Enterprise Resource Planning (ERP) wäre Marktführer SAP die gängige Lösung - jedenfalls wählen die meisten Großunternehmen diesen Weg, auch weil sie nichts anderes kennen. Seidel kann hingegen noch unabhängig über eine Zielarchitektur entscheiden. Product-Lifecycle-Management (PLM) als dominantes System hat für ihn auch seinen Charme. Die Entwickler nutzen schon fleißig Siemens Teamcenter. "Siemens ist zwar sperrig im Umgang, beim 'Closed Loop' aber am besten", findet Seidel.

100 MES-Anbieter auf der Longlist

In der Fertigung wird das Thema IT-Architektur gerade richtig virulent: "Linien- oder Inselfertigung - im Augenblick können wir uns noch beides vorstellen", sagt Seidel. Das hat dann natürlich Auswirkungen auf die IT. Welches Manufacturing Executing System (MES) ist das Beste für einen Hersteller von Flugzeugen, die die Welt so noch nicht gesehen hat? "Rund hundert MES-Anbieter stehen auf der Longlist", so Seidel: "Da wird ja wohl einer dabei sein." Im Augenblick läuft ein Pilotversuch mit Siemens. "Teamcenter wird als PLM bleiben", verrät Seidel jetzt schon. Aber wie viel Gewicht die Lösung bekommt, hängt von einer zweiten großen Architekturentscheidung ab.

Ganz akut muss der CIO entscheiden, ob und wie viel SAP er einkauft. Auch hier: Für insgesamt 300 Mitarbeiter SAP einzurichten, ist natürlich maßlos übertrieben. Aber Lilium will ja wachsen. Also wird für die Zukunft eingekauft, unabhängig von der unbeantworteten Frage, wie sehr und wie gut SAP mit seiner Lösung "Leonardo" in die Produktion hineinreichen wird. Und zu welchen Konditionen. Bekannt ist, dass die Walldorfer nicht günstiger werden, sobald ein Kunde angebissen hat. Für Seidel steht immerhin schon fest: "Eigenentwicklung kommt in diesem Gebiet auf keinen Fall in Frage."

Auf dem Weg zur Airline

Noch ist Lilium ja keine Fluggesellschaft. Aber fest steht für das Startup, dass der Jet nicht gebaut wird, um ihn an reiche Eigentümer zu verkaufen. Privatflieger hält man bei Lilium für ein Auslaufmodell. Shareconomy ist das Schlagwort. Die Vision lautet so: Einen Platz im Flieger zieht sich der Passagier bei Bedarf über eine App. An Sammelstart- und Landeplätzen treffen sich dann vier Mitflieger für maximal eine Stunde, um maximal 300 Kilometer zurückzulegen. Viel mehr als ein Taxi soll der Spaß nicht kosten - wobei der Taxameter bei Kilometer 300 natürlich schon glüht.

Für die IT heißt das zunächst: Hier muss eine App entstehen, die dem Endkunden sofort Lust auf mehr macht. Der Nukleus für die App-Entwicklung steht auch schon. In London hat Lilium die ersten Entwickler um sich geschart, um ein hippes, zeitgemäßes Tool zu schaffen. Seidel und die Unternehmens-IT sind daran zunächst genauso wenig beteiligt wie an der IT im Flieger. Die Schnittstelle zum Kunden hält man bei Lilium für ebenso entscheidend wie die autonomen Flugsysteme. Das soll niemand - kein CIO und schon gar kein CDO - nebenbei mitsteuern. Auf den CIO warten ja noch zwei größere Aufgaben.

Vernetzung und Sicherheit

Vernetzung und Sicherheit werden perspektivisch die zeitintensivsten Jobs für Seidel. Um die Flieger richtig auszulasten, müssen sie ständig vernetzt sein - ganz egal, wo sie sich gerade bewegen. Und die allergrößte Aufgabe für die Zukunft: Kein Hacker darf an die Steuerungssysteme der autonomen Flieger geraten. Bilder von einem autonom in den Graben gesteuerten Jeep kann vielleicht Google überleben. Für Lilium wären sie das Ende des Unternehmens.

Warum tut sich Seidel all diese Unsicherheiten an? "Ich hab ja noch rund 15 Jahre Arbeit vor mir", sagt der CIO. Bei BMW sei einigermaßen absehbar gewesen, was da auf ihn zugekommen wäre. Zuletzt war Seidel dort für die Werks-IT zuständig. Er lobt seinen alten Arbeitgeber immer noch in höchsten Tönen, will aber die Freiheit in einem Startup nicht mehr missen: "Bei BMW haben wir uns ja auch bemüht, so etwas wie Startup-Islands zu kreieren. Aber am Ende war es immer noch ein Konzern."