Wenn Frank Keller, Sicherheitschef der Techniker Krankenkasse (TK) in Hamburg, am Wochenende Zeitung gelesen hat, kann das für seine Mannschaft viel Arbeit bedeuten. Zwei Artikel legt er an diesem Dienstag seinen zehn Kollegen von der Ermittlungsgruppe Abrechnungsbetrug auf den Tisch. In Berlin soll eine Krankenhausgesellschaft Hausärzten nicht erlaubte Provisionen zahlen. Und in Niedersachsen wird gegen eine Krankenhausapotheke ermittelt, die Medikamente aus billig eingekauften Großpackungen in kleinere Packungen umgefüllt, teuer weiter verkauft und so die Krankenkassen um 1,8 Millionen Euro geprellt hat. „Schaut mal, ob uns das was angeht“, weist er seine Leute an.
Die Wahrscheinlichkeit ist groß. Jeder zehnte gesetzlich Versicherte ist Kunde der TK. 145 Milliarden Euro werden dem Statistischen Bundesamt zufolge pro Jahr im deutschen Gesundheitswesen umgesetzt. Das Geflecht aus Leistungserbringern, Leistungsempfängern und Dienstleistern ist komplex und lädt zum Missbrauch geradezu ein. Rund eine Milliarde Euro gehen Jahr für Jahr dem Gesundheitswesen durch Betrügereien verloren, schätzt die Kassenärztliche Vereinigung.
Die TK setzt als erste Versicherung in Deutschland gezielt auf den IT-Einsatz, um Betrügern im Gesundheitsbereich den Kampf anzusagen. Ärzten, die für unnötig teure Rezepte Provisionen kassieren, Apothekern, die gepanschte Präparate verkaufen, Patienten, die Blankorezepte stehlen und selbst ausfüllen, Rettungsdiensten, die Sammel- als Einzelfahrten abrechnen, oder Trickser rund um geklaute oder verlorene Versicherungskarten. Sämtliche Fälle werden mit Hilfe von Analyseverfahren aus der Flut der Daten herausgefiltert, geprüft, und unter Umständen zur Anzeige gebracht.
Die scharfe Waffe Access
Eine scharfe Waffe ist dabei die Ermittlungsdatenbank der TK. Die Kasse hat sie auf der Basis von Microsofts Datenbanksystem Access entwickelt. In den elektronischen Akten sind neben Angaben über den einzelnen Abrechnungsfall auch Hinweise auf den Bearbeitungsstand des Vorgangs gespeichert. Wer hat bereits welche Verwaltungsschritte eingeleitet, welche Telefonate wurden in der Sache geführt, wie hoch sind die Kosten?
Die Datenbank strukturiert die Arbeit der 2002 gegründeten Ermittlungsgruppe, der Keller vorsteht. Um sie mit Fällen zu füttern, die die Ermittler dann abarbeiten, hat die TK innovative Suchroutinen entwickelt, die alle Transaktionen der Kasse kritisch unter die Lupe nehmen. Die erste ist die „Prüfroutine Leistungspflicht“ (PLP). Ihr Ansatz scheint banal, ist aber höchst effektiv: Sie prüft, ob derjenige, der eine Behandlung erstattet haben will, wirklich versichert ist.
Dies festzustellen ist angesichts der Zahl der Vorgänge, die die TK Jahr für Jahr abarbeitet, eine komplexe Aufgabe. Jedes Jahr erhält die Kasse 42 Millionen Abrechnungsfälle aus Arztpraxen, 30 Millionen Rezepte und 80 000 Heil- und Kostenpläne von Zahnärzten. Dazu kommen 1,2 Millionen Rechnungen von Orthopäden, 15 000 von Optikern und eine Million von Hebammen.
Möglichkeiten, im Abrechnungsdschungel mit fremden Karten zu tricksen, gibt es viele. Anders als EC-Karten lassen sich verlorene oder gestohlene Krankenversicherungskarten nicht sperren. Und den Ausweis muss niemand in einer Praxis vorzeigen, weil dies das Vertrauensverhältnis zum Patienten stört. Immer wieder reichen Betrüger fremde Chipkarten über den Tresen um an Rezepte zu kommen, die sie weiterverkaufen. „Ein Rezept funktioniert wie ein Verrechnungsscheck“, erklärt Frank Keller. Egal, ob Medikamente, Rollstühle oder Reha-Stunden verschrieben werden: Bis zu 4 000 Euro kann ein Rezept wert sein, das bei der TK in Rechnung gestellt wird. Wenn der Patient es zu einem Apotheker trägt, der in den Schwindel eingeweiht ist, stellt dieser die Medikamente in Rechnung. Das Geld teilen sich die Betrüger.
Um ihnen auf die Schliche zu kommen, setzt die TK auf Business-Intelligence-Software des Anbieters SAS, die auf IBM-Servern läuft. Im SAS Data Warehouse werden sämtliche Versicherungsdaten zusammengefasst: Informationen über die mehr als fünf Millionen Versicherten selbst, Krankenhaus- und Apothekendaten. Data-Mining-Technologien von SAS, die zunächst für Marketinganalysen angeschafft worden waren, hat Kellers Mannschaft beim Bau von Anwendungen wie PLP für ihre Zwecke massiv angepasst. Für die komplexen Fragen, die Keller an die Datenbank stellt, gibt es keine Lösungen von der Stange.
Mit Hilfe von Mustererkennungsverfahren filtert die PLP unter den Millionen Transaktionen Verdachtsfälle heraus. Alle Belege aus der Pharmazie werden beim „Apotheken-Hauptverfahren“ nach ähnlichen Methostrategie den untersucht. „Unsere Spezialität ist es, Auffälligkeitsraster zu erstellen“, sagt Keller. Ein Hinweis auf Kartenmissbrauch kann sein, wenn Arzt, Apotheker und Patient in unterschiedlichen Städten gemeldet sind. Auch die Durchschnittssummen aller erfassten Vorgänge geben wertvolle Hinweise. Wenn eine Hebamme etwa besonders viele komplizierte Geburten in Rechnung stellt oder ein Apotheker extrem häufig teure HIV- oder Hepatitis-C-Medikamente oder das bei Bodybuildern beliebte Wachstumspräparat Genotropin verschreibt, wird das System hellhörig. Je nach Rechnung werden zehn bis 15 Kriterien abgeprüft. „Unser Vorteil ist, dass Betrüger faul sind“, sagt Keller, der 17 Jahre beim Bundesgrenzschutz arbeitete. „Wenn sie mit einer Methode Erfolg haben, verwenden sie sie immer wieder.“
Versicherte alarmieren selbstständig
Die IT hilft der TK, Betrugsfälle zu erkennen, sie gerichtsfest aufzubereiten und im Idealfall Schadensersatz einzufordern. „Wegen der Verjährungsfristen ist der Faktor Zeit im Zivil- und im Strafrecht von enormer Bedeutung“, erklärt Frank Keller. „Zeit ist für uns im wahrsten Sinne des Wortes Geld.“ Keller und sein Team ergänzen deshalb die bestehenden Anwendungen ständig um neue Abfragemöglichkeiten, pflegen neue Tarife, Medikamentenpreise oder gesetzliche Regelungen ein. Die Versicherten selbst können zudem seit kurzem über die Online-Plattform TK-VIA eine Liste ihrer verschriebenen Arzneimittel einsehen und die TK alarmieren, wenn Unregelmäßigkeiten auffallen. Die Integration eines Verzeichnisses mit gestohlenen oder verlorenen Karten, die so genannte Verax-Liste, in die Arztsoftware der niedergelassenen Ärzte und Zahnärzte erschwert zudem seit Oktober 2004 Kartenbetrügern das Geschäft.
Bei den anderen 300 gesetzlichen Krankenkassen beobachtet man die Entwicklung dieser IT-Werkzeuge mit Interesse. Die TK ist Vorreiter, Keller ein gefragter Referent. Die Ärzte- und die Apothekerschaft sowie die Patientenverbände hingegen sehen seine Arbeit skeptischer. Ihnen gegenüber wird von Keller viel politisches Geschick verlangt, denn die TK will um jeden Preis den Eindruck vermeiden, dass ihre Kunden und Vertragspartner unter Generalverdacht stehen. Deshalb reagiert die TK bei Alarmmeldungen aus den Warnsystemen sensibel. Nur selten rufen die Ermittler als Erstes die Polizei an. „Wir wissen, dass jemand beruflich erledigt ist, wenn es eine Hausdurchsuchung gibt“, sagt Keller.
In der Regel recherchiert die TK zunächst im Alleingang: Ist die Hebamme etwa in einem auf Geburten spezialisierten Krankenhaus beschäftigt? Dann ist die statistische Häufung der Problemgeburten leicht zu erklären. Manchmal schreibt die TK aber auch Briefe und fordern Stellungnahmen ein. Von ihnen hängt es dann ab, wie es weitergeht. „Vor kurzem antwortete uns ein Patient auf eine Anfrage, dass er ganz bestimmt nicht in Hamburg bei Arzt war“, erinnert sich Keller. „Dafür war seiner Freundin beim Besuch der Stadt die Handtasche geklaut worden.“ In ihr hatte sich die Karte befunden. Schnell fand Keller über die Datenbank 40 ähnliche Fälle – und alarmierte die Polizei.
Ärzte- und Apothekerkomplott
Nach einigen Durchsuchungen war offensichtlich, dass zwei Ärzte und drei Apotheker mit einem Gaunerring zusammenarbeiteten, der gezielt Krankenkassenkarten gestohlen hatte. „Rezepte für Magen- und Schmerzmittel in unauffälligen Mengen wurden stapelweise in den Apotheken eingelesen und abgerechnet“, erklärt Keller. Gemeinsam hatten die Betrüger die Kassen um mehrere hunderttausend Euro erleichtert.
Bei den Staatsanwaltschaften kommt das dank der IT verständlich aufbereitete Material gut an. Und für die TK selbst rechnet sich die Investition in Ermittlungsteam und -software auch. „Man ermittelt natürlich aus wirtschaftlichem Interesse, nicht aus Altruismus“, weiß der Betrugsspezialist Alexander Badle von der Staatsanwaltschaft Frankfurt. Rund fünf Millionen Euro Schadensersatz konnte die Ermittlungsgruppe bislang eintreiben. „Und 30 Millionen Euro sparen wir im Jahr, weil wir bestimmte Leistungen nicht mehr bezahlen müssen“, sagt Frank Keller.