Dieter Geile hat es versucht: Drei indische SAP-Programmierer sollten gemeinsam mit deutschen Kollegen in der Göttinger Zentrale des Technologieunternehmens Sartorius AG die firmeninterne SAP-Landschaft umbauen. Das Resümee ist ernüchternd: "Obwohl es ausgebildete Programmierer sein sollten, mussten wir immense Anstrengungen aufbringen, um sie auf unser Niveau zu heben", sagt der 48-jährige CIO. Besonders negativ sei der völlig fehlende betriebswirtschaftliche Hintergrund aufgefallen.
Was leicht in einem Dilemma hätte enden können, erwies sich für Geile als positive Erfahrung. Denn die drei Asiaten waren bei der indischen Tochter Sartorius India aus Bangalore des international tätigen Biotechnologie-Zulieferers und Mechatronik-Herstellers angestellt, sodass keine teuren Konsequenzen aus dieser Erkenntnis zu ziehen waren - wie es bei einem Offshoring-Vertrag hätte sein können. Im Gegenteil: "Seitdem wissen wir, dass Offshoring in der jetzigen Situation für uns wohl nicht das Richtige ist", sagt Geile. Mit dieser Erkenntnis steht der Mann aus Göttingen nicht allein: Der Block der Offshoring-Kritiker wird immer größer.
Selbst Unternehmen, die Offshore-Projekte bereits abgewickelt haben, halten sich mit Negativurteilen nicht zurück - so etwa die Deka Bank Deutsche Girozentrale und die Lufthansa Cargo AG. Während Deka-Informatikdirektor Andreas Fichelscher von einer "anderen Art der Kommunikation" spricht, beklagt Ex-Lufthansa-CIO Ricardo Diaz Rohr, dass "es kein Feedback bei unsinnigen Vorgaben" gibt. Der IT-Dienstleister Lufthansa Systems, der mit diesem Thema bisher offensiv umging, möchte sich plötzlich "aus firmenpolitischen Gründen" nicht mehr öffentlich äußern. Für das DAX-30-Unternehmen Commerzbank AG gehört IT-Offshoring im großen Stil erst gar nicht zur Firmenstrategie; kleinere Pilotprojekte laufen im Nearshore-Bereich. Die Stimmung hat sich gewandelt.
Wie hoch die Zahl der gescheiterten Projekte allein in Deutschland ist, weiß niemand. Zu groß ist die Dunkelziffer. "Offshoring wird in sehr vielen Unternehmen begonnen, aber nicht wirklich durchgeführt", hat Dirk Buchta, Vizepräsident der Strategischen IT des Beratungsunternehmens A.T. Kearney in Düsseldorf, beobachtet. Und eine europaweite Studie der Unternehmensberatung McKinsey unter 250 Unternehmen aus dem Bankensektor kommt bereits bei Outsourcing-Projekten zu einem niederschmetternden Ergebnis: 58 Prozent der Anwender sind demnach enttäuscht über den Verlauf des Projektes - und hier fallen die größten Offshore-Sorgen bereits weg, nämlich Sprachschwierigkeiten und räumliche Distanz. Häufig wurden die Kosten nicht im erwarteten Umfang gesenkt, die Qualität blieb hinter den vereinbarten Zielen zurück oder die Termine wurden überschritten.
Kein Wunder also, dass fast jeder CIO Kollegen kennt, die in kleiner Runde, meist hinter vorgehaltener Hand, über schlechte Erfahrungen mit Offshoring berichten. Öffentlich präsentieren mögen sich nur die wenigsten - noch immer ist die Befürchtung groß, als erfolglos zu gelten.
Damit hat Geile keine Probleme. Schon 2002 hatte der CIO Kontakt mit indischen IT-Dienstleistern aufgenommen, um Preise zu vergleichen. Das Resultat gab ihm Recht: "Sie konnten ein anstehendes Projekt nicht günstiger anbieten, weil wir für die ausführlicheren Vorgabenbeschreibungen neue interne Mitarbeiter hätten anstellen müssen", sagt der Göttinger.
Jetzt weiß er: Für einen Programmierauftrag ist es unabdingbar, die Vorgaben für die Offshorer "in mundgerechte Programmierhappen" aufzubereiten. "Das wiederum geht nur, wenn die IT-Organisation entsprechend aufgestellt ist." Bei Sartorius ist das nicht so: Geiles Mitarbeiter sind überwiegend Business-orientiert und setzen auch grobe Vorgaben für ihren Funktionsbereich eigenständig um. "So sparen wir uns die Zwischenstufe der dezidierten Vorgabenbeschreibung", sagt Geile: "Die Arbeitsebene ist in mittelständischen Unternehmen wie Sartorius und bei entsprechendem Kostendruck ohnehin nicht oft anzutreffen." Für Offshoring-Projekte müsste diese Zwischenstufe eingeführt werden. "Die so entstehenden Kosten können wir mit unseren relativ kleinen Projekten nicht wieder reinholen", so der CIO.
Mini-Projekte lohnen sich nicht
"Diese Umstellungskosten der internen Prozesse werden von vielen Unternehmen unterschätzt", bestätigt Prinzipal Holger Röder von der Unternehmensberatung A. T. Kearney in Düsseldorf. "Die Transitionskosten sind besonders hoch, wenn ein Outsourcing-unerfahrenes Unternehmen Offshoring betreiben will", sagt er. Dadurch könnte die Einsparung beim ersten Projekt sogar wegfallen. Die größten Probleme entstehen nach Röders Ansicht durch die kulturellen Unterschiede.
Es drohen noch andere Fallstricke. "Miniprojekte mit 30 bis 40 Mitarbeitern oder Vertragslaufzeiten von unter drei Jahren rechnen sich fast nie", sagt Röder. "Das lohnt sich erst ab 50 Mitarbeitern." Häufig werden auch die Vertragsverhandlungen hinsichtlich Inhalt und Dauer unterschätzt. Zu diesen Besprechungen reisten bis zu 15-köpfige Delegationen aus Indien an, deren Teilnehmer alle etwas zur Diskussion beitragen wollten. "Oft scheitert ein Vertrag schon am gewöhnungsbedürftigen Englisch der Inder - man versteht sich einfach nicht", so Röder, der lieber verschweigt, wie es um das Englisch der Deutschen steht.
Weitere Knackpunkte: Übererwartungen an Kostenreduzierungen und die mangelnde Fähigkeit, Offshore-Ressourcen zu managen. "Hierfür ist ein erfahrener Projektleiter nötig. Offshore-Dienstleister müssen sehr eng an der Leine geführt werden." Besonders wichtig sei daher ein detailliertes Pflichtenheft, das in einer Form geführt werde, die der Dienstleister auch versteht.
Handelt es sich um ein großes Offshoring-Projekt, bei dem die Mitarbeiter des Kunden übernommen werden sollen, eröffnet sich ein neues Minenfeld. "Inder haben ein naives Bild vom deutschen Arbeitsrecht", hat Röder beobachtet: "Viele glauben, diese neuen Mitarbeiter nach sechs Monaten wieder entlassen zu können." Warnungen deutscher Human-Resources-Manager würden oft nicht ernst genommen.
Unkalkulierbares Risiko: Firmenchef
Ein Stolperstein ganz anderer Art befindet sich im eigenen Unternehmen - und zwar ganz oben: Immer wieder wird von CEOs oder Geschäftsführern berichtet, die von ihren IT-Managern Offshoring-Aktivitäten um jeden Preis fordern. Sei es der mittelständische Schraubenhersteller im Süddeutschen, dessen ITManager nach dem Auslagerungsprojekt seinen Hut nahm, oder der Finanzdienstleister in Nordrhein-Westfalen, der sich erst nach Scheitern des Offshore-Pilotprojekts von seinen Forderungen abbringen ließ. In beiden Fällen ließen sich die CEOs von der einfachen Rechnung blenden: "Offshore = Kostenersparnis".
Anders bei der Hannover Rück: Hier kam der Wunsch nach Auslagerung aus der Fachabteilung. "Wir wollten es einfach mal ausprobieren. Die Kostenreduzierungen klangen immer sehr viel versprechend", sagt Jürgen Petzold, Koordinator für E-Business beim weltweit viertgrößten Rückversicherer, der Hannover-Rückversicherungs AG. Die IT des Versicherers mit einem Prämienvolumen von rund elf Milliarden Euro ist Business-zentriert: Projekt- oder Veränderungswünsche werden auch aus den Fachabteilungen selbst an die 90-köpfige IT-Mannschaft gerichtet.
Während sich die IT-Abteilung unter CIO Hans Bodenstein mit der Umstellung von Kernsystemen auf SAP befasst, arbeitete Petzold an einem in sich geschlossenen E-Business-Projekt: Hierbei werden Teile der Geschäftsprozesse, wie Risikoplatzierungen, das Underwriting und die Administration, über das Internet abgewickelt. Im Rahmen eines geschlossenen Vergabeverfahrens für das Pilotprojekt TLO Online ("Total Loss Only") bat Petzold 16 Dienstleister um Angebote; mit sieben von ihnen hatte das Unternehmen bereits zusammen gearbeitet, sechs der unbekannten Dienstleister stammten aus dem Ausland.
Das Ergebnis überraschte Petzold nicht: "Der teuerste Anbieter verlangte knapp 700 000 Euro, anschließend folgten mehrere, die rund 250 000 Euro veranschlagten." Der günstigste forderte 70 000 Euro - und kam aus Indien. Nachdem dieser nicht nur wegen des niedrigen Preises den Zuschlag bekommen hatte und das Projekt bearbeitete, wurde dem 42-Jährigen schnell klar: "Einen Mercedes konnten wir für diesen Preis nicht bekommen. Wir wollten es schnell und günstig - und bekamen eine Quick-and-Dirty-Lösung."
Anforderungen, die für Petzold selbstverständlich und daher in der Spezifikation nicht ausdrücklich enthalten waren, mussten nachträglich eingepflegt und zusätzlich bezahlt werden. Die Kommunikation war äußerst schwierig. Zu den regelmäßigen Vor-Ort-Treffen in Hannover erschienen bis zu fünf indische Gesprächspartner, die offensichtlich die Hierarchien einhalten mussten. Scheinbar endlose Zusammenfassungen und Wiederholungen waren die zeitfressende Folge. "Ein mühsamer Prozess", so Petzold.
Traten während der Projektarbeit Probleme auf, erhielten die Niedersachsen keine oder verspätete Warnhinweise. Telefonate nach Indien endeten häufig in tiefem Rauschen, Rückfragen während des Gespräches wurden "manchmal scheinbar endlos vom Offshorer intern diskutiert, während wir am Ende der Leitung auf ein Ergebnis warteten". Zudem zeigte sich, dass der Dienstleister zwar Erfahrungen im Finanzbereich hatte, aber wenig Kenntnisse des Rückversicherungsgeschäftes. "Wir mussten lange und ausführlich wirtschaftliche Zusammenhänge erklären", erinnert sich der frühere IT-Berater Petzold.
"Klassische Negativerfahrungen"
Trotz aller Probleme läuft TLO nun - allerdings ohne die übliche Anbindung an die anderen IT-Systeme des Rückversicherers. Kunden und Anwender sind zufrieden. Dennoch hat sich Petzold für das neue Projekt PDA Online ("Property Damage Australia") für einen anderen Weg entschieden: "Wir arbeiten mit einem mittelständischen IT-Dienstleister aus Deutschland und einer deutschen Universität als Mediator zusammen und sind sehr zufrieden." Der auf Individualsysteme spezialisierte Partner sitze quasi nebenan, sei flexibel und habe das entsprechende Business-Know-how.
Petzolds IT-Kollege Hartmut Hencke - als Abteilungsleiter der Softwareentwicklung beratend mit dabei - sieht das Offshoring-Projekt gelassen: "Wir haben die klassischen Negativerfahrungen mit einem Offshore-Anbieter gemacht." Zum einen seien die Gesamtprojektkosten mit 150 000 Euro fast doppelt so hoch ausgefallen wie veranschlagt, was allerdings "immer noch relativ günstig" gewesen sei. Zum anderen hätten Kommunikations- und Mentalitätsprobleme die Zusammenarbeit deutlich erschwert.
Während Offshoring für Petzold zunächst tabu ist, bleibt Hencke offen: "Das ist ein Trend, dem man sich stellen muss", sagt der 39-Jährige. "Wenn sich bei uns erneut eine Fachabteilung für Offshoring entscheidet und wenn das Projekt passt, dann würde die IT das natürlich mittragen."
Ein ähnliches Resümee zieht auch Peter Kailing, Global Application Manager des Chemiekonzerns Basell in Wesseling bei Köln. Das 2000 von BASF und Shell durch die Fusion von drei Chemieherstellern gegründete Unternehmen, das weltweit an mehr als 20 Standorten produziert, fährt seit Beginn einen harten Sparkurs. Der hohe Kostendruck allein wäre für Kailing jedoch kein Grund, die IT an einen Offshorer zu geben: "An dieses Thema wollten wir auf keinen Fall aggressiv herangehen", sagt der 46-jährige IT-Manager.
Trotzdem sollten die Kosten durch eine Konsolidierung der Applikationen und Plattformen und ein entsprechendes Sourcing sinken. Also entschied sich Kailing für einen Kompromiss, der die favorisierte "Low-Risk-Strategie" und Kostensenkung gleichzeitig berücksichtigte: Zusammenarbeit mit globalen IT-Dienstleistern mit Off- und Nearshore-Kapazitäten.
Kailing wollte weltweit sieben ERP-Systeme, vier SAP-Versionen, sechs Rechenzentren bei fünf Providern, mehrere Datenbanken, Server und Betriebssysteme konsolidieren. Übrig blieben ein weltweites ERP-System, weltweite Standards für alle Server- Applikationen und Eigenentwicklungen, die Datenbanken Oracle und MS-SQL sowie Windows XP. Über allem gilt: So wenige Ausnahmen wie möglich.
Das einzige Rechenzentrum wurde ausgelagert, die Telekommunikationsstruktur an den Provider Electronic Service Center ESC aus Halle gegeben. Eine neu gebildete 15-köpfige Governance-Organisation steuert ESC. Der wiederum setzt Offshore-Ressourcen ein: "Unser Server-Support und der Support für E-MailAnwendungen kommen also aus Indien", so Kailing.
Nearshore-Aktivitäten betreibt der Polyolefin-Hersteller dagegen im Bereich ABAP-Programmierung. Die wurde bisher zentral koordiniert und lokal eingekauft. "Um Kapazitätsschwankungen auszugleichen, mussten teilweise Freelancer eingesetzt werden", beschreibt Kailing die Situation. Seit Februar 2004 existiert nun ein Service-Vertrag mit Capgemini, der für alle drei Zeitzonen gilt. Programmiert wird in der "ABAP-Factory" in Polen. "Dadurch sparen wir mehr als 50 Prozent unserer bisherigen Kosten ein", sagt Kailing.
Ein Drittel der Mitarbeiter onsite
Wichtig für den Basell-Mann: Der Vertrag wurde nach deutschem Recht abgeschlossen und beinhaltet ein Governance-Modell mit Steering-Committee. Zwei Programmierer von Basell und Capgemini steuern das Projekt, zwei Drittel der Programmierer arbeiten in Polen, ein Drittel ist onsite tätig. Detaillierte Servie-Level-Vereinbarungen regeln nun Reaktionszeiten, Prozesse und Reaktionszeiten für Kapazitätsänderungen.
Für den "Low-Risk"-Manager Kailing ist nach knapp zwölf Monaten Off- und Nearshore-Erfahrung klar: "Das ist eine sinnvolle Kompomente im Mix des ITService-Sourcing.
Bei gezieltem Einsatz kann man signifikant Geld sparen." Eine Sache sei allerdings extrem wichtig: "Nur gut designte und getunte Prozesse kann man mit gutem Erfolg in Off- oder Nearshore-Länder geben", resümiert Basell-Manager Kailing. "Ein schlechter Prozess wird auch dort weiterhin schlecht laufen - wenn auch vielleicht billiger.