In fünf Minuten online den Stromanbieter wechseln - mit diesem Versprechen werben Vergleichsportale. Adresse und Bankverbindung angeben, und ein paar Klicks später ist für den Kunden alles erledigt. Doch für Stromanbieter und Netzbetreiber geht die Arbeit dann erst richtig los. Intensiv tauschen die Akteure nun Kundenstammdaten, technische Stammdaten und Bewegungsdaten aus. So rasen bei jedem Anbieterwechsel 30 bis 40 Mails automatisiert zwischen den Beteiligten hin und her. Außerdem werden die übermittelten Informationen kontrolliert und validiert. Am Ende dauert es dann vier Wochen, bis der Kunde seinen Strom vom neuen Anbieter bekommt.
Routine-Prozesse bringen keinen Business-Vorteil
Nicht nur Kunden ärgern sich über die Dauer, auch Stromanbietern und Netzbetreibern bringen diese langen Routineprozesse keinen geschäftlichen Vorteil. Im Gegenteil, hier werden viele Ressourcen ohne erkennbaren Nutzen gebunden. Das Geld könnten die Energieversorger sinnvoller in die Erzeugung von sauberem Strom und in neue Geschäftsfelder wie Elektromobilität und Smart City investieren.
Projekt | ETH@Energie |
Zeitrahmen: seit 2016 |
Zersplitterter und komplexer Energiemarkt
Kosten und Arbeitsaufwand für die Prozess- und IT-Organisationen sind hoch, denn nirgends in der Welt ist der Markt so zersplittert wie in Deutschland. Zurzeit tummeln sich rund 1.300 Energieversorger und 900 Netzbetreiber auf dem Markt. Sie müssen jeweils eine eigene IT-Infrastruktur betreiben, um die Prozesse mit den anderen Spielern abzubilden.
Früher lief das anders, da gab es in einer Region nur einen Netzbetreiber und einen Versorger, auf die der Kunde angewiesen war. Doch die Liberalisierung des Strommarkts im Jahr 1998 erlaubte den Konsumenten plötzlich den Wechsel zu anderen Anbietern. Hinzu kam 2011 nach dem Atomunglück im japanischen Fukushima die Energiewende, als von politischer Seite der Schwenk weg von der Atomkraft hin zu überwiegend erneuerbaren Energien eingeläutet wurde. Diese beiden Entwicklungen waren ein disruptiver Einschnitt.
Konsortium will Stromlieferantenwechsel radikal vereinfachen
Jetzt soll der Stromlieferantenwechsel radikal vereinfacht und das bisherige Austauschformat Edifact durch eine Blockchain-Lösung abgelöst werden. "Mit dem Anbieterwechsel haben wir es mit einem Prozess zu tun, der eine extrem wichtige Rolle im Energiebereich spielt", sagt André Mundo, Geschäftsleiter des Bereichs Distributed Ledger Technologies beim Dienstleister MaibornWolff. Nach seinen Ausführungen wäre es damit technisch machbar, den Wechselprozess von einem Monat auf einen Tag zu verkürzen.
Für dieses Projekt hatte sich vor zwei Jahren ein Konsortium zusammengetan, dem der Ökostromanbieter Lichtblick aus Hamburg, die Frankfurter Stadtwerke Mainova, der Mess- und Abrechnungsdienstleister Count+Care (Tochterunternehmen des Energieversorgers Entega), die N-Ergie (Stadtwerke Nürnberg) sowie der Netzbetreiber Berlin Brandenburg (NBB) angehören. Unterstützt wird es vom Software-Engineering- und Beratungshaus MaibornWolff. "Wir sind fasziniert und überzeugt davon, dass die Dezentralisierungs-Technologie Blockchain die Ziele der dezentralen Energiewende unterstützen wird", benennt Robin Mager, CIO von N-ergie, eine wichtige Motivation.
Die Stärken der Blockchain
Voruntersuchungen hatten ergeben, dass die Blockchain ihre besonderen Stärken ausspielt, wenn sie über Unternehmensgrenzen hinweg eingesetzt wird. In diesem Projekt soll die Technologie vertrauenswürdige Prozesse zwischen den unabhängigen Marktteilnehmern schaffen, wenn diese ihre Daten untereinander austauschen. "Unsere Überschrift lautet 'Blockchain ist Digital Trust'", sagt Mager. Ihren Mehrwert entfaltet die Blockchain-Technologie heute vor allem dann, wenn mehrere Partner übergreifende Prozesse abbilden wollen. Zwar ließe sich beispielsweise auch die interne Leistungsverrechnung mit einer Blockchain abbilden, doch klassische Technologien sind bei rein internen Prozessen häufig effizienter in der Umsetzung.
Die Energieversorger nennen ihr Projekt ETH@Energie, wobei ETH für die Blockchain-Technik Ethereum steht, auf der die neue Lösung aufbaut. Heute hält noch jeder Marktteilnehmer alle Daten zentral vor, so dass alle Stammdaten bei den Marktteilnehmern redundant vorliegen. Dabei müssen die Daten immer synchron gehalten und geprüft werden. "Mit unserem Projekt schaffen wir eine Validierung für alle Marktakteure, so dass dies nicht mehr jeder einzeln machen muss", schildert Mager. "Mit der Blockchain bekommen die Teilnehmer diese Kontrolle künftig 'out of the Box'."
Im Peer-to-Peer-Netzwerk der Blockchain stellen die Rechnerknoten alle notwendigen Lösungen dezentral bereit. Die Versorger, insbesondere die kleineren, müssen dann keine eigene Infrastruktur mehr betreiben. "Es würde locker reichen, wenn 30 Prozent der Teilnehmer einen Node bereitstellen", sagt Mundo.
Blockchain überwacht Datenschutz und Sicherheit
Eine große Herausforderung besteht darin, Datenschutz und Sicherheit auf den eingebundenen Rechnern zu gewährleisten. Ein Stromanbieter darf zum Beispiel nicht die Daten eines Wettbewerbers ausspähen und in Erfahrung bringen können, wie viele Kunden der gerade gewonnen oder verloren hat. Auch darf er nicht mitbekommen, mit wem der andere Anbieter außerdem kommuniziert. Da reicht es nicht aus, jedem Teilnehmer ein Pseudonym zu geben. Vielmehr muss ein ordnendes Register geschaffen werden, in dem alle Daten verschlüsselt vorliegen, so dass nicht jeder alle Daten sehen kann.
Hier übernimmt die Blockchain die Überwachungsfunktionen, weil sie die Prozessregeln nachvollziehbar und transparent in Softwarecode darstellt. "Code is Law, die Prozess- und Geschäftsregeln sind im Code hart programmiert", sagt Mager. Allerdings müsse man dafür ziemlich tief in die Blockchain-Technologie hinabsteigen. Wichtig sei in diesem Zusammenhang, dass es im Projekt immer nur um die Daten der B2B-Prozesse gehe. Die Vertragsdaten werden auch heute schon strikt getrennt von der Blockchain-Lösung in den ERP-Systemen verarbeitet.
Zweites MVP schon fertig
Als erstes Minimum Viable Product (MVP) entwickelten die Mitarbeiter des rund 15 Köpfe umfassenden virtuellen Projektteams 2017 einen sogenannten Validator, der im Teilprozess "Lieferbeginn" die bisherigen Edifact-Nachrichten jetzt mittels Blockchain-Technologien wie Smart Contracts und Orakel prüft. Das zweite MVP, das kürzlich fertiggestellt wurde, baut eine Konsortial-Blockchain zwischen allen Teilnehmern auf. Hier wird also ein Lieferantenwechsel komplett End-to-End über die Blockchain abgebildet.
Die Entwicklung der MVPs dauerte jeweils drei bis vier Monate. "Viele Fragen mussten vorher sehr kleinteilig beantwortet werden", sagt Mager. Mit dem zweiten MVP kann das Konsortium den Marktteilnehmern nun einen real umgesetzten Prozess auf der Blockchain zeigen. Damit will es jetzt auf Aufklärungstour gehen.
Gefährliches Halbwissen über Blockchain
Letztlich muss das Konsortium mit den MVPs noch die Bundesnetzagentur überzeugen, die alle Regeln und Prozesse festlegt. Nur wenn sie die Blockchain als gesetzkonform beurteilt und die Prozesse für nachvollziehbar erachtet, gelten sie auch als vertrauenswürdig.
Bedenken gegen die Blockchain-Technologie kommen auch aus Unternehmen der Energiewirtschaft, wo die Blockchain oft noch mit der Kryptowährung Bitcoin gleichgesetzt wird. Dann müssen die Projektmitglieder gegen Schlagzeilen kämpfen wie "Bitcoin verbraucht mehr Energie als ganz Dänemark", "Bitcoins verschwunden" und "Bitcoin gehackt".
"Es stimmt, Bitcoin zieht ziemlich viel Energie", sagt Mager. Aber daraus Rückschlüsse auf das Blockchain-Projekt zu ziehen, greife zu kurz. "Hier ist viel gefährliches Halbwissen im Umlauf", warnt der CIO. Die Bitcoin-Blockchain sei nur eine Technologie-Spielart von aktuell über 500 Blockchain-Varianten. "Der Energieverbrauch hängt vom Konsensmechanismus der jeweiligen Blockchain-Technologie ab.
Bei unserer Blockchain spielt der Stromverbrauch keine Rolle." Im Energiebereich handele es sich - im Gegensatz zu Bitcoin - um eine überschaubare Anzahl nicht anonymer Akteure, so dass relativ wenige Konsensmechanismen notwendig seien. Und für Datenschutz und Sicherheit diene die Bundesnetzagentur als Vertrauensanker.
Teilnehmer gehen mit ihrem Wissen über Blockchain in die Öffentlichkeit
Mit ihrem Projekt wollen die Konsortialpartner nicht nur ein branchenspezifisches Problem lösen, sondern auch die Blockchain-Technologie besser kennenlernen. Zudem liegt für sie eine große Motivation darin, mit dem weit verbreiteten Halbwissen aufzuräumen, das viele Unternehmen derzeit von Blockchain-Projekten abhält. Projektbeteiligte wie Robin Mager gehen deshalb nach draußen, um in Gesprächen und Vorträgen für die Blockchain-Technologie zu werben und sie fachlich und technisch zu erklären. "Wir wollen andere Unternehmen davon überzeugen, dass man die Chancen und Risiken von Blockchain wie bei jedem Technologieumstieg untersuchen kann und sollte", so Mager.
Laut Mundo hat jedes Unternehmen einen oder gleich mehrere sinnvolle Anwendungsfälle für Blockchain-Technologie. Die Frage sei nur, wann sich der Einstieg wirtschaftlich auszahle. "Blockchain eignet sich nicht nur für virtuelle Währungen. Wer so denkt, hat nur einen kleinen Teil der zahlreichen Anwendungsmöglichkeiten verstanden", sagt Mundo. Auch von der zunächst wenig zugänglichen Technologie sollten sich Unternehmen nicht abschrecken lassen. E-Mail und Online-Banking nutze auch jeder ganz selbstverständlich, ohne die Technologie genauer zu kennen.
Über Blockchain-Anwendungsfälle reden statt über die Technik
Robin Mager ist überzeugt, dass sich die Komplexitätsdebatte bald erledigt haben wird: "In 18 Monaten reden wir bei der Blockchain nicht mehr über die Technik, sondern über Anwendungsfälle." Er schließt nicht aus, dass sich die Blockchain des Projekts ETH@Energie als Branchenstandard für den Energiesektor durchsetzen wird.