Welche Rolle spielt das Enterprise Architecture Management (EAM) in Zeiten rasanter Veränderungen durch die Digitalisierung?
Johannes Helbig: Die Enterprise-Architektur definiert zurzeit ihre Aufgaben neu und entwickelt sich weiter - im Grunde zu einer Disziplin für das Top-Management. Die Digitale Transformation ist im Zentrum der Wirtschaft angekommen, sie steht weit oben auf den Agenden der großen Organisationen, zu denen unsere Mitgliedsunternehmen gehören. Dabei hat sich der Fokus weiterentwickelt: Es geht nicht mehr so sehr um die Frage, wie man vergleichbar mit einem Start-up die verrückteste disruptive Idee findet, sondern um Management-Fähigkeiten: Wie gestalte ich Transformation im Großen und als Daueraufgabe. Das wird wettbewerbsentscheidend.
Wenn ich an EAM denke, stelle ich mir immer ein abgelegenes Büro vor, in dem die Wände von oben bis unten tapeziert sind mit Struktogrammen, Ablaufplänen und ähnlichem. Ist diese Vorstellung falsch? Wie sind Enterprise-Architekten organisatorisch eingebunden und wie arbeiten sie?
Johannes Helbig: Die Arbeitsweise der Architekten verändert sich gerade sehr stark: Hin zum Enablement, weg von der Governance. Gerade für große Unternehmen stellt die Digitale Transformation eine extreme Herausforderung dar. "Software is eating the world" - das ist tatsächlich so. Von den Fortune-500-Unternehmen des Jahres 2000 gehört heute die Hälfte nicht mehr dazu. Es geht um Geschwindigkeit. Digitalisierung polarisiert. Sie stärkt die Stärken und macht die Schwächen offensichtlicher. Es war schon immer teuer, Strukturfehler zu machen, aber heute werden sie viel ernster bestraft. The winner takes it all.
Um schnell zu sein, brauchen Unternehmen die richtige Struktur, und zwar eine sehr flexible, die es ihnen ermöglicht, sich viel schneller zu verändern. Nur so können sich große Konzerne ähnlich explorativ aufstellen wie Start-ups: schneller Markteintritt, schnelle Adaption an frühes Kunden-Feedback, kurze Iterationszyklen. Sie müssen Märkte bearbeiten, für die sie keinerlei Erfahrungswerte haben, Märkte, die teilweise ganz neu geschaffen werden.
Enterprise Architecture hat jetzt die Rolle, Strukturen dafür zu schaffen. Es geht hin zum Composable Enterprise, das seine Fähigkeiten schnell neu orchestrieren kann, um mit hoher Geschwindigkeit Produkte oder Services zu erzeugen, die der Markt nachfragt. Amazon ist ein gutes Beispiel. Die vielleicht wichtigste Maxime von Jeff Bezos ist, dass alle unternehmensinternen Services auch zu vermarktbaren Produkten zusammengesetzt und extern angeboten werden können. Amazon Web Services ist einmal aus internen Überkapazitäten entstanden.
In der Vergangenheit hat sich Enterprise Architecture darauf konzentriert, mit immer exakterer Planung Risiken einzudämmen. Aber der entscheidende Faktor für die Überlebensfähigkeit eines Unternehmens ist künftig nicht mehr Risikovermeidung, sondern Anpassungsfähigkeit. Aus Risk Management wird Management von Uncertainty.
Viele Unternehmen glauben, das Problem mit Innovation Labs lösen zu können. Halten Sie das für den richtigen Weg und wie funktioniert dann später die Integration der Innovation in das Unternehmen? Ist das auch eine Architekturfrage?
Johannes Helbig: Das ist ganz wesentlich eine Architekturfrage und zwar sowohl auf der technischen als auch auf der organisatorischen Seite. Die wichtigste Aufgabe dabei ist es, eine Kohärenz der Aktivitäten zu erzeugen. Viele Unternehmen leisten inzwischen gute Innovationsarbeit, aber es gelingt nur wenigen, diese Innovationen mit ihrem angestammten Kerngeschäft zu verbinden.
Es ist ein bisschen wie im Fußball: Bei der WM haben wir gerade erlebt was passiert, wenn Angriff und Abwehr komplett auseinanderfallen. Die entscheidende Herausforderung ist es, Durchgängigkeit zu erzeugen zwischen Angriff und Verteidigung, zwischen Innovation und Kerngeschäft. Das ist eine Architekturaufgabe.
Wie orchestrieren sich Unternehmen, die sich als cyber-physische Gesamtsysteme aufstellen? Fast alle großen Unternehmen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten von der horizontalen Taylorisierung verabschiedet und divisionalisiert in Richtung durchgehende, vertikale Verantwortung. Das setzt sich gerade auf tieferen Ebenen fort: In komplett produktzentrisch aufgestellte Teams, die autonom agieren, durchaus mit dem Risiko von Redundanzen. Die Mitarbeiter arbeiten vernetzt, genauso wie ihre digitalen Counterparts, die Software-Agenten. Hierarchie funktioniert nicht mehr, sie ist zu langsam. Das ist eine große Herausforderung, denn eine so starke Dezentralisierung macht die Governance ja nicht leichter, sondern anspruchsvoller.
Was bedeutet "Kohärenz der Aktivitäten herstellen" ganz konkret für den Enterprise-Architekten? Sucht er nach Synergien, nach Wiederverwendbarkeit? Bettet er die neuen Services in einen Geschäftsplan oder eine -architektur ein?
Johannes Helbig: Redundanzfreiheit und Stabilität stehen deutlich weniger im Vordergrund als Agilität, Anpassungsfähigkeit und Geschwindigkeit. Die Rolle der Architekten entwickelt sich gerade von einer zentralen Gatekeeper-Funktion zu einer beratenden Coaching- und Moderations-Rolle in den Produktteams. Sie sind nicht mehr die Hüter langfristiger Bebauungspläne, die den Status quo dokumentieren und als zentrale Controller an den Quality Gates die Compliance der Lösungen abstempeln.
Stattdessen arbeiten sie begleitend in den Teams, wertschöpfungs- und lösungsorientiert. Die Grenze zwischen Fachbereich und IT weicht in der Digitalisierung ebenso auf wie die Stufengrenzen im Software-Entwicklungsprozess, Stichwort DevOps. Zum ersten Mal steht die IT nicht mehr quer zu den Fachbereichen, sondern parallel.
Die Produktstruktur ist die Primärstruktur. Aber Vertikalisierung der Eigenverantwortung setzt höhere Autonomie voraus. Technisch geht man dazu in Richtung Microservices, die setzen im Grunde unser alte SOA-Prinzip (SOA= Service-oriented Architecture, Anm.d. Red.) der losen Kopplung auf immer kleinere Einheiten fort. Ich spreche deshalb manchmal auch von Mikro-Divisionalisierung. Die semantische Kohärenz kann man dabei inzwischen über Data-Grids automatisiert erzeugen lassen.
Organisatorisch bilden sich über den vertikalen Produktteams, den "Squats", wie sie zum Beispiel in der Spotify-Organisation genannt werden, matrix-ähnliche Zusatzstrukturen, die "Chapter". Sie stellen die Durchgängigkeit und inhaltliche Passung der agilen Einzelaktivitäten im Unternehmenskontext sicher. Enterprise Architecture wäre dort ein Chapter.
In Ihrem CBA Lab sind mit der Deutschen Bahn, Ergo, Bosch und anderen ganz klassische Unternehmen vertreten. Die sind nicht vergleichbar mit einer Spotify oder Amazon. Wie kommen diese im Kern konservativen Unternehmen von A nach B?
Johannes Helbig: Bei all unseren Mitgliedsunternehmen beobachten wir über die Branchen hinweg enorme Transformationsanstrengungen. Alle machen sich auf den Weg, viele stehen aber noch am Anfang. Mit der Digitalisierung ist Enterprise Architecture im Zentrum der strategischen Business-Transformation angekommen. Bei den Architekten herrscht positive Aufbruchstimmung, sie fühlen sich nachgefragt und sind an vorderster Front mit dabei.
Chefarchitekt muss im Grunde immer der CEO sein: Er gestaltet und orchestriert die Transformation. Jemand wie Volkmar Denner von Bosch beispielsweise nimmt diese Rolle ganz bewusst wahr. Er hat die Vision entwickelt: Bosch baut Konnektivität und richtet jetzt das gesamte Unternehmen darauf aus, durchdekliniert über Produkte, Prozesse, Organisation - alles.
In Unternehmen wird selten von Architektur geredet. Manager streben flexible Plattformen, Customer Centricity oder eine Data driven Company an. Architektur klingt dagegen immer ein bisschen nach Selbstbeschäftigung. Sehen Sie das Problem auch?
Johannes Helbig: Ja, das Wort Architektur ist etwas unglücklich gewählt, weil es eine statische Assoziation auslöst. Sie bringt die Aufgabe, nämlich das Managen von dynamischen Prozessen, nicht wirklich zum Ausdruck. Ein Wort wie Choreographie wäre dafür vielleicht passender. Aber die heutige Arbeit der Architekten hat sich massiv geändert, große Elfenbeintürme sind wirklich Vergangenheit.
Können Sie beschreiben, inwiefern Architekten in den Innovationsprozess involviert sind?
Johannes Helbig: Die Enterprise Architecture moderiert den Innovationsprozess an der Schnittstelle zur IT. Für die Unternehmen, die jetzt ihre alten Geschäftsmodelle verlieren, ersetzt sie die klassische Business-Strategie nicht in der Frage: Wer will ich sein, und was leiste ich für meine Kunden. Aber die Architektur-Verantwortlichen können die Verknüpfungen ermöglichen, die aus bestehenden Assets neue Leistungen werden lassen.
Im Data-driven Enterprise sind es die Architekten, die verstehen, welche Daten benötigt werden, welche Prozesse diese generieren und von wo man sie gegebenenfalls extern beziehen kann. Maschinelles Lernen braucht zum Beispiel unglaublich viele Trainingsdaten, um zu relevanten Mustern zu gelangen. Die kann ein Unternehmen unmöglich allein vorhalten. Und oft entsteht Business-Innovation auch bottom-up aus der Architektur heraus.
Nehmen wir das populäre Thema Blockchain: Distributed Ledger ist ein Strukturansatz, das Algorithmische daran ist absolut sekundär. Aus den abgeleiteten Eigenschaften dieser Struktur entstehen von der Basis her neue Geschäftsideen zum Beispiel für Finanztransaktionen ohne Mittelsmann. Das passiert nicht etwa top-down aus den Business-Anforderungen heraus. Eine solche Vorstellung ist Lehrbuch-Legende.
Wie werden die Architekturteams im Unternehmen organisiert - auch im Unterschied zum CIO-Office oder zum Chief Digital Officer (CDO)?
Johannes Helbig: Unternehmen stellen sich heute eindeutig in Richtung dezentraler, produktzentrischer Organisationen auf. Die Grenze zwischen Business und IT löst sich auf, auch für die Enterprise Architecture. IT ist kein Sekundärprozess mehr, in der Digitalisierung ist sie "name of the game". Wir werden einen Struktur- und Kompetenzwandel sehen. Jahrzehntelang hat man IT, auch mental, outgesourct. In Zukunft muss jeder Top-Manager IT verstehen und sie zumindest in dem Sinne managen können, dass er die Wirkzusammenhänge einschätzen und IT als strategisches Instrument einsetzen kann.
Entsprechend bin ich auch immer überrascht, wenn CDO und CIOs im Unternehmen getrennt aufgestellt werden. Die Daten im Data-driven Enterprise müssen von den Sensoren neuer Fertigungsprozesse und -Maschinen, neuer Plattformprodukte generiert werden, das betrifft die Primärprozesse. Architekten müssen das Gesamtsystem denken können. Dessen Grenzen werden gleichzeitig immer weiter nach außen gezogen.
Was ja die Architektur noch einmal wichtiger machen würde.
Johannes Helbig: Absolut. Der Scope ist viel größer geworden. Für heutige Produkte beginnt das System im Wohnzimmer der Kunden - Beispiel Alexa - und reicht bis tief hinein in die Supply-Chain der Lieferanten. Digitale Plattformen führen Produkte und Dienstleistungen zu neuen Serviceangeboten über Unternehmens- und Branchengrenzen hinweg zusammen. Enterprise Architecture betrifft nicht mehr nur das Unternehmen, sondern die Orchestrierung der gesamten Wertschöpfungskette über alle Grenzen hinweg. Deshalb haben wir uns auch in Cross-Business-Architecture Lab umbenannt.
Gleichzeitig dreht sich das Rad immer schneller. Höhere Drehzahl verbunden mit - um im Bild zu bleiben - mehr Masse außen durch die Dezentralisierung bedeutet größere Fliehkräfte. Enterprise Architecture muss das einfangen. Sie macht autonom agierende dezentrale Produktteams überhaupt erst möglich.
Zur Person:
Dr. Johannes Helbig ist Vorsitzender des Vorstands des Cross-Business-Architecture Lab (vormals SOA Lab). Zuvor bekleidete er verschiedene Funktionen im divisionalen Vorstand der Deutsche Post Brief, zuletzt die des Chief Innovation Officer. Er ist einer der Pioniere des Konzepts serviceorientierter Architekturen und war mehrfach Preisträger bei der Wahl zum CIO des Jahres.
Als Mitglied der Forschungsunion Wirtschaft und Wissenschaft hat er die Definition der Zukunftsprojekte I und II für die Hightech-Strategie der Bundesregierung ("Industrie 4.0" und "Smart Service Welt") maßgeblich mitgestaltet. Helbig ist Mitglied des Feldafinger Kreises zur Zukunft der ICT-Industrie, Co-Sprecher des Smart City Forums und unterstützt zahlreiche Organisationen als Unternehmensbeirat in der strategischen Gestaltung der Digitalen Transformation.
Hochkarätige EAM-Konferenz des CBA LAB
Am 26. und 27. September 2018 richtet das Cross-Business-Architecture Lab in Kooperation mit Inside Business die Konferenz "EAM - Richtungsgeber für die Digitale Transformation" im Maritim Hotel ProArte in Berlin aus.
Teilnehmer können von den Erfahrungen namhafter Digitalisierungsverantwortlicher, CIOs und Enterprise-Architekten profitieren. Klaus Vitt, IT-Beauftragter der Bundesregierung wird vortragen, außerdem sprechen die CIOs von Bosch Siemens Hausgeräte (BSH), Wacker Chemie, dem Münchner Flughafen und Alpiq über ihre EAM-Erfahrungen. Interessenten sind herzlich eingeladen, sich anzumelden unter: https://inside-business.org/eamdigital2018/anmeldung-2018