Schlampig ausgefüllte Überweisungsfelder nehmen bei der Commerzbank den elektronischen Weg nach Prag. Kann der Scanner die Schrift nicht entziffern, wandern die kritischen Belegteile automatisch in das Bankcenter der tschechischen Hauptstadt. Dort bekommt ein Mitarbeiter am Bildschirm die unleserliche Handschrift vorgelegt. Er entscheidet dann, was der Kunde gemeint haben könnte. Die Mustererkennungssoftware unterstützt ihn mit einem Vorschlag, den der Prager Mitarbeiter oft einfach absegnen kann.
27 Millionen Belege im Jahr werden so der menschlichen Feldüberprüfung in Prag elektronisch zugeführt. Die meisten der 100 Mitarbeiter sind mit den Korrekturen beschäftigt, ein Teil ist für die IT zuständig. Kostenvorteile sind der Hauptgrund, warum die Commerzbank die Korrekturarbeiten ins Ausland verlagert hat. Etwa 50 Prozent spart das Bankinstitut bei diesem Prozessschritt, eingesparte Lohnkosten sind der Hauptfaktor.
Das Sourcing-Konzept, das die Commerzbank in Prag erfolgreich praktiziert, nennt sich „Captive Nearshoring“. „Nearshoring“, weil Unternehmensprozesse in nahe gelegene europäische Staaten ausgelagert werden und nicht wie beim Offshoring in ferne Länder wie Indien oder China. „Captive“, weil die Leistungserbringung durch eine Commerzbank-Einheit erfolgt und nicht durch externe Dienstleister.
Gute Gründe für Nearshoring
Frank Annuscheit, CIO bei der Commerzbank, hat gute Gründe für das selbst betriebene Nearshoring. „Wenn wir nach Indien oder China gegangen wären, hätte der mögliche zusätzliche Nutzen aus weiteren Einsparungen nicht im Verhältnis gestanden zu den Komplixitätskosten“, sagt Annuscheit. Kulturelle Hindernisse, Sprachbarrieren und die Zeitverschiebung hätten die Kostenvorteile in den fernen Ländern wieder zunichte gemacht.
Bei benachbarten Ländern des ehemaligen Ostblocks fallen die meisten dieser Nachteile weg. Zudem minimieren die konvergierenden Rechtssysteme der EU-Länder das Geschäftsrisiko, das in fernen Ländern vorhanden ist. Bei Tschechien kommt hinzu, dass dort deutschsprachiges Personal zur Verfügung steht und Personalkosten um 60 Prozent günstiger sind als in Deutschland.
In Eigenregie betrieben wurde das Nearshoring-Projekt, weil die Commerzbank das Know-how im Haus behalten wollte. Auch dass sich das Bankinstitut auf Standorte beschränkt, an denen es bereits eine lokale Präsenz hat, hat seine guten Gründe. „Wir müssen nicht bei Null anfangen und Kompetenz erst aufbauen“, erklärt Annuscheit. „In Prag verfügen wir über lokales Know-how, das wir nutzen können. Hier haben wir Mitarbeiter, die wissen, wie man in dem Land einen Arbeitsvertrag abschließt oder wie das Mietniveau beschaffen ist.“
Prozesshoheit bewahren
Wichtig ist der Commerzbank bei ihrer Nearshoring-Strategie, die Hoheit über den gesamten beleghaften Zahlungsverkehr zu bewahren. Nur jene Teile der hochgradig automatisierten Bankprozesse, die ohne Bruch verlagert werden können, kommen für Nearshoring in Frage. Zudem müssen sie hohe Personalkosten verursacht haben, damit sich Nearshoring lohnt.
„Nur dort, wo ein personalintensiver Teilschritt im Prozess ist, stellt Nearshoring ein adäquates Mittel dar, an die Quelle der Kosten heranzugehen“, erklärt Annuscheit. „In diesem Teilprozessschritt sind dann eben die Personalkosten der Kostentreiber und nicht die ITKosten.“ Damit das funktioniert, muss die IT workfloworientiert so umgebaut werden, dass es zu keinen Prozessbrüchen kommt. Ansonsten würde die Personalkosteneinsparung wieder aufgehoben werden.
Der beleghafte Zahlungsverkehr ist für Nearshoring prädestiniert: Der Prozess läuft weitgehend IT-gestützt ab. Menschliche Mitarbeiter werden nur eingeschaltet, wenn es um Teilprozesse geht, die nur ein Mensch ausführen kann – nämlich die finale Entscheidung, was derjenige, der das ausgefüllt hat, damit gemeint hat.
Zeitliche Schranke
Nearshoring in Prag ist für die Commerzbank nur der Anfang. Neben Tschechien sollen künftig auch polnische Niederlassungen stärker genutzt werden. Auch weitere Prozesse, die im Nearshoring-Verfahren outgesourced werden sollen, sind in Planung. „Im IT-Bereich haben wir erste Aufgaben wie bestimmte Softwareerstellungskomponenten nach Prag verlagert“, sagt der Commerzbank- CIO. „Nun sind wir gerade dabei, uns andere Prozesse wie die Kontoauszugsnacherstellung anzusehen.“
Dabei ist sich Annuscheit über das zeitliche Limit des Kostennutzens beim Nearshoring im Klaren. Durch die europäische Konvergenz gleichen sich die Lohnkosten in den nächsten Jahren zunehmend an; zudem werden die Raumkosten steigen. „Wir gehen davon aus, dass dieser Vorteil noch drei bis vier Jahre so groß ist, dass sich Nearshoring lohnt. Danach könnten wir den Prozess an einen anderen Standort verlagern“, sagt Annuscheit. Dabei hält er sich auch eine Änderung der Sourcing-Strategie offen. „Zum Einsteig haben wir uns für Captive Nearshoring entschieden. Das heißt aber nicht, dass wir das in Zukunft immer so machen müssen.“