Eine aktuelle Studie von Softselect verzeichnet wenig Bewegung im Cloud-ERP-Markt. Die Untersuchung von 176 ERP-Lösungen kommt zu dem Ergebnis, dass seit drei Jahren das Angebot an Cloud-fähigen ERP-Lösungen bei knapp 50 Prozent stagniert. Gründe dafür seien Skepsis in Bezug auf die Datensicherheit und Angst, sich von Providern abhängig zu machen. Ist ERP aus der Cloud also tot, bevor es überhaupt richtig an Fahrt aufgenommen hat?
"Bei sehr kleinen Unternehmen, die keine IT-Infrastruktur mit eigenem Personal dafür haben, ist Cloud-ERP auf dem Vormarsch, hier wird es in der nächsten Zeit eine substanzielle Ausweitung in der Nutzung geben", meint Dr. Karsten Sontow, Vorstand des ERP-Beratungshauses Trovarit AG. Auch für kleinere Unternehmen, für die keine große Logistikabwicklung und Integration wichtig ist, passten die Mietlösungen.
Oliver Giering von der Experton Group rechnet damit, dass "der aktuelle Zeitpunkt vielerorts zu einem Wechsel der Software führen wird, da ERP-Lösungen im Durchschnitt einen Lebenszyklus von etwa zehn bis fünfzehn Jahren haben und die meisten Anwendungen um das Jahr 2000 bezogen wurden". Es besteht eine gute Wahrscheinlichkeit, dass Cloud-ERP im Evaluationsprozess mit auf die Liste kommt, denn aus Kostengründen können sich die wenigsten Unternehmen leisten, ganz über diese Option hinwegzugehen.
Nicht jeder verzichtet auf individuelle Prozesse
Sontow ist sich jedoch sicher: Der traditionelle deutsche "Ingenieursmittelstand", der sich heute noch zurückhält, wird sich auch morgen noch zurückhalten, insbesondere, wenn es um Public-Cloud-Lösungen geht. "Dabei gibt es zwei Beweggründe, die nicht ohne weiteres wegzudiskutieren sind: Cloud-ERP lässt sich vor allem für Multi-Tenant-Umgebungen kaum an individuelle Prozesse anpassen und sich nur bedingt in andere On-Premise-Lösungen zum Beispiel in der Produktion integrieren", erklärt der ERP-Experte.
Unternehmen wie abas oder proAlpha, die in diesem Kundensegment zuhause sind, müssten sich also nur sehr begrenzt Sorgen machen, wenn sie keine Cloud-Lösung anbieten. Das sei auf mittlere Sicht nicht existenzgefährdend. Erst kürzlich hatte ERP-Hersteller abas eine Kundenumfrage unter 611 mittelständischen Industrieunternehmen mit 50 bis 2000 Mitarbeitern veröffentlicht: Demnach geben 64 Prozent der deutschen Unternehmen an, kein Cloud-basiertes ERP-System zu brauchen, nur 3 Prozent der Teilnehmer stuften eine solche Lösung als ein "Must have" ein.
Kampf gegen Komplexität
Ein Umstand könnte den Cloud-Lösungen jedoch auch bei größeren Unternehmen Aufwind bescheren, meint Sontow: "Bei diesen Unternehmen ist die Komplexität von ERP-Installationen angesichts der Anzahl der Software-Nutzer, angebundener Standorte und unterschiedlichsten Landesspezifikationen oft schon sehr hoch". Roll-outs auf weitere Standorte, zum Beispiel wenn Zulieferer den Herstellern in andere Länder folgen, würden durch die strukturelle Komplexität in erheblichem Maße erschwert. "Hier dreht sich das Thema und man ist eher bereit, für eine schnelle und beherrschbare Lösung Abstriche im Hinblick auf eine optimale Prozessunterstützung und die dafür notwendige Anpassbarkeit hinzunehmen", konstatiert Karsten Sontow. Die Sourcing-Entscheidung werde dann dominiert durch die Skalierbarkeit, überall in der Welt schnell ein Prozesstemplate einführen zu können.
Aus der Praxis: Uhle Gerüstbau
Die 83 Mitarbeiter starke Uhle Gerüstbau GmbH hat seit Januar 2011 SAP Business byDesign im Einsatz. "Wir wollten alle Papierbelege so dokumentieren, dass sie nicht verloren gehen können. Statt für ein DMS haben wir uns dann jedoch für die Cloud-ERP-Lösung entschieden, auf der jetzt unsere Buchhaltung läuft", erinnert sich Geschäftsführer Peter Uhle. Daneben ist ein Abrechnungsprogramm im Einsatz, das speziell für den Gerüstbau konzipiert ist und ebenfalls in der Cloud betrieben wird. Standard-ERP-Lösungen könnten die spezifischen Anforderungen Uhle zufolge nicht abdecken. Über Schnittstellen findet der Datenaustausch zwischen der Branchenlösung und Business byDesign statt.
"Besonders positiv ist für uns, dass wir jetzt das ganze Bestellwesen für unsere acht deutschlandweiten Niederlassungen über die Cloud-ERP-Lösung machen können, das war ursprünglich gar nicht geplant", erzählt Uhle. Die Niederlassungen lösen Bestellungen aus, die zeitnah direkt im System freigegeben werden. "Jeder Mitarbeiter kann auf die Buchhaltung zugreifen, sieht den Stand der Bestellung und ob bereits bezahlt wurde. Früher musste dazu extra in der Zentrale angerufen werden", berichtet er. Seit Anfang 2014 werden in der Zentrale alle Dokumente mittels Barcode eingescannt und in der Cloud gespeichert, auch hier haben alle Niederlassungen Zugriff.
Nicht nur mit dem Preis ist der Gerüstbau-Unternehmer zufrieden. "Immer zum Jahresende müssen andere Kollegen die neuesten Steuerdaten und Updates aufspielen. Da können wir uns entspannt zurücklehnen, weil wir immer die aktuellste Version haben". Die Möglichkeit, vom Homeoffice aus zu arbeiten kam dem Unternehmen zugute, als zwei Buchhalterinnen nach ihrer Schwangerschaft in Teilzeit von zuhause aus weiterarbeiten konnten.
Mehr Sicherheit als inhouse
Und die klassischen Ängste um die Daten? Sorgen um die Datensicherheit habe er sich nicht gemacht, das sei bei der Branche und Firmengröße kein Problem, so Uhle. "Ich hätte eher Sorge, dass vor Ort per Stick Daten vom Server abgegriffen werden", sagt der Geschäftsführer. Keine unberechtigte Sorge: Dem kürzlich veröffentlichten "2015 Cyber Security Intelligence Index" von IBM zufolge kommen rund die Hälfte aller Cyberangriffe auf Unternehmen aus den eigenen Reihen. Auch dass die Datensicherung nicht mehr im Haus gemacht werden muss, beruhigt Uhle.
Doch es gibt auch Nachteile: "Die Buchungszeiten dauern einfach länger. Viele Belege nacheinander abzuarbeiten geht in lokalen Systemen deutlich schneller", so der Geschäftsführer. Per Standleitung ist die Zentrale mit dem SAP-Rechenzentrum in St. Leon-Rot verbunden, die Niederlassungen kommunizieren über normale Internetverbindungen.
Als größte Hürde für Cloud-ERP sieht Uhle allgemein die mangelhafte Qualität von Internetverbindungen im ländlichen Raum. "Bei den Niederlassungen merken wir selbst in den Industriegebieten, wie schlecht die Internetversorgung anbieterübergreifend ist. In manchen Gebieten ist es fast unmöglich, eine stabile Verbindung zu bekommen", stellt Uhle fest.
Aus der Praxis: Miasa
Beim Safran-Spezialisten Miasa stieß das Hin-und-Herschicken von Excel-Listen an seine Grenzen. "Wir brauchten eine Lösung, um die Warenbewegungen im Lager bei Stuttgart aus der Berliner Zentrale besser verfolgen zu können", erzählt Michael Sabet, Geschäftsführer der zehn Mitarbeiter zählenden Miasa GmbH. Die Berliner bekamen den Tipp, sich Cloud-ERP-Lösungen anzuschauen und wurden bei Sage mit der Warenwirtschaftslösung Office Online fündig.
Kunden und Lieferanten müssen nur einmal angelegt werden, Angebote, Lieferscheine und Rechnungen werden jetzt vom System generiert. "Heute ist es deutlich einfacher, wir haben allerdings eine Weile gebraucht, bis es funktioniert hat. Der Kundensupport von Sage hat uns dabei über drei Monate hinweg intensiv unterstützt", berichtet Sabet. Da nur wenig Zeit im operativen Geschäft und keine Vorerfahrung in Sachen ERP vorhanden waren, brauchte die Einführung mit der Gestaltung aller Belege ihre Zeit.
Zwar geht es bei den Safran-Spezialisten nicht um sehr sicherheitssensible Ware, ein deutsches Rechenzentrum und sichere SSL-Verbindungen waren dem Unternehmen jedoch wichtig. "Wir waren aufgrund der langen Einführung am Anfang ambivalent, ob es eine gute Entscheidung war. Im Rückblick gesehen war es allerdings ganz wichtig, denn wenn das Unternehmen wächst, verliert man ohne ein ERP-System komplett den Überblick", meint Sabet. Und warum sind deutsche Unternehmen so zögerlich, wenn es um Cloud-ERP geht? "Es ist vorher nicht klar, ob sich ein ERP-System rentiert, deshalb sind vielleicht insbesondere kleine und oder stark wachsende Unternehmen viel offener gegenüber einer Cloud-Lösung ohne Investitionsbedarf", vermutet der Miasa-Geschäftsführer.
Was sagen die Anbieter?
ScopeVisio berichtet von einer Verdopplung der Lizenzzahlen in den letzten beiden Jahren auf derzeit über 1000 Cloud-Kunden. Insbesondere sei festzustellen, dass pro Kunde mehr Lizenzen erworben werden. Besonders stark sei die Nachfrage im Dienstleistungssektor, insbesondere im Bereich ITK, Medien und Agenturen sowie Unternehmensberatungen.
Die Anwenderzahlen von myfactory sind nach Angaben des Anbieters von 2011 bis 2014 um 60 Prozent gestiegen. Während sich 2013 nur 46 Prozent der myfactory-Kunden für Public- oder Private-Cloud-Produkte entschieden haben, waren es 2014 schon über 60 Prozent. myfactory sieht deshalb das klassische Lizenzmodell auf dem Rückzug zugunsten der Cloud-Modelle.
"Ab einer Unternehmensgröße von circa 50 Mitarbeitern nehmen die Vorbehalte gegen Cloud-basierte ERP-Lösungen zu und decken sich teilweise mit den Ergebnissen von Softselect", sagt Nadeem Ahmad, Director Marketing & Sales bei Softwarehersteller weclapp. Immerhin 63 Prozent der Kunden sind Unternehmen mit bis zu neun Mitarbeitern. In den letzten zwei Jahren lag das Kundenwachstum bei über 100 Prozent, Grund zum Klagen sieht man also nicht. In der Softselect-Studie kam weclapp übrigens nicht vor.
Sage verzeichnet mit dem Cloud-Produkt Sage One weltweit eine knappe Verdoppelung der Anwenderunternehmen auf jetzt 115.000 Anwender im Vergleich zum 1. Halbjahr des letzten Geschäftsjahres (59.000). In Deutschland wuchs dem Anbieter zufolge die Zahl der Neukunden mit Cloud-basierten Lösungen um 82 Prozent im ersten Halbjahr 2014/2015 und damit stärker als im gesamten letzten Geschäftsjahr. Derzeit setzen demnach 12.100 deutsche Kunden Cloud-Produkte ein, im Vorjahreszeitraum waren es 9500 Kunden.
Fazit
Insbesondere für kleinere Unternehmen ist Cloud-ERP nach wie vor eine ernstzunehmende Alternative. Die traditionellen ERP-Anbieter adressieren eine andere Klientel als die Cloud-orientierten Hersteller, sie haben oft noch kein Cloud-Angebot im Programm und die Kunden machen hier kaum Druck. Die Zahlen der Cloud-Anbieter hingegen zeigen, dass in ihrem Markt - vor allem im Dienstleistungssektor - immer mehr Unternehmen bereit sind, auf Cloud-ERP zu setzen.