CIO.de: Haben Sie schon einen neuen Personalausweis beantragt?
Michael Pitsch: Nein, ich habe noch keinen beantragt.
CIO.de: Es gab ja doch einige Schwierigkeiten am Anfang. Wie würden Sie es einschätzen, wie der Ausweis bei uns gestartet ist?
Pitsch: Grundsätzlich muss man sagen: Es sind technische Großprojekte, und die haben immer mal wieder technische Schwierigkeiten. Ich glaube, dass die Einführung des neuen Personalausweises insgesamt sehr geglückt ist. Natürlich kann und sollte man über das eine oder andere kritisch diskutieren, etwa über die Sicherheit des neuen Ausweises. Wichtig ist vor allem: Wie kommt es beim Bürger an. Ich glaube, man muss weg von der technischen und hin zur fachlichen Einführung. Wie kommuniziere ich das, wie bringe ich es dem Bürger bei? Der kritische Punkt ist: Ist er genügend kommuniziert worden? Weiß der Bürger, was er vom neuen Ausweis erwarten kann, wie er seine Verwaltungsangelegenheiten schneller und bequemer erledigen kann? Wie viele Bürger wissen denn, wozu der neue Ausweis überhaupt da ist?
CIO.de: Die meisten kennen den E-Postbrief, aber nicht den neuen Ausweis.
Pitsch: Ja, die Deutsche Post als kommerzielles Unternehmen, die die Bürger als Kunden sieht, ist mit ihren Marketingmaßnahmen effektiver im Markt unterwegs als die öffentliche Verwaltung. Die Verwaltung hat in den letzten Jahren Riesen-Fortschritte gemacht, indem sie den Bürger von ihrer Denkweise in den Mittelpunkt ihres Verwaltungshandelns stellt. Aber, welche Prozesse sind denn letztlich wirklich so umgestellt worden, dass wir als Bürger viele Vorgänge elektronisch über das Internet erledigen können? Es ist zwar viel initiiert worden mit Bund Online 2005, Deutschland Online und der E-Government-Strategie 2015, die jüngst vorgestellt worden ist. Das heißt, wir sind insgesamt auf dem richtigen Weg. Aber mit der Umsetzung hapert es oft noch.
CIO.de: Mit dem neuen Ausweis kann man im Moment noch nichts anfangen. Keine der angekündigten Anwendungen funktioniert bisher. Wo ist da der Mehrwert?
Pitsch: Neuer Ausweis, Backbones, Breitbandzugang für alle, ich schmeiße das alles in den Topf „Infrastruktur". Das sind alles zwingend erforderliche Kanäle, die wir brauchen, um effizientere Dienste anbieten zu können. Nur, muss man auch mehr in Richtung Dienste denken, bevor man die Infrastruktur fertig stellt. Schöne Autobahnen nützen einem nichts, wenn man keine Autos hat. Letzten Endes geht es auch darum, dass man alle Karten im öffentlichen Bereich - wie etwa die Gesundheitskarte und den Reisepass - integriert und zusammen betrachtet.
CIO.de: Die Versicherungen interessieren sich in Deutschland für den neuen Ausweis, die Banken nicht. Die Banken waren im Ausland die Treiber. Ist das eine Schwierigkeit?
Pitsch: Das sehe ich nicht so. Es wird mehr Anwendungen geben, bei denen ein konkreter Nutzen für den Bürger vorhanden ist. Ich habe im letzten Jahr meinen Wagen angemeldet. Wenn ich die Möglichkeit hätte, mein Auto von zuhause aus elektronisch anzumelden, würde ich das machen. Wenn der Bürger so eine Anwendung hätte, würde er das sofort machen.
Wir brauchen eine klare Governance-Struktur und mehr Management-Kompetenz
CIO.de: Sie sind hoffnungsvoll, dass sich das bald entwickelt?
Pitsch: Ja. Die Frage ist halt, wie lange es dauert. In welchen Zyklen denken wir? Bis alle Bürger einen neuen Ausweis besitzen, kann es bis zu zehn Jahre dauern. Deshalb muss man Anreize schaffen, damit das früher passiert. Denn es geschieht nur, wenn der Bürger sieht: Diese Anwendungen oder diese Dienste verschaffen mir eine Erleichterung.
CIO.de: Glauben Sie denn, dass es diese Anwendungen bald geben wird?
Pitsch: Aber ja doch! Wenn wir über neue Verwaltung reden, sollten wir nicht nur über Infrastrukturmaßnahmen reden, sondern auch über bürgernahe Dienste. Über Services mit der entsprechenden Qualität, Transparenz und Effizienz. Es geht darum, wie die Verwaltung Freiräume schafft, um Kosten zu sparen oder um Handlungsspielräume zu gewinnen, um politische Ziele zu unterstützen.
CIO.de: Was könnte man besser machen, um diese Ziele zu erreichen?
Pitsch: Wir machen vieles gut in der strategischen Ausrichtung und in der Definition wie etwa der E-Government-Strategie 2005. Wir müssen aber auf eine operationale Ebene herunterkommen, also die Dinge angehen und umsetzen. Man muss den Willen haben, die Veränderungen wirklich herbeizuführen. Dazu braucht man eine klare Governance-Struktur, mit einem zentralen Verwaltungsmodernisierungs- oder Transformierungsausschuss, einem IT-Planungsrat als Umsetzer. Neben der Veränderungsbereitschaft braucht man auch die Managementqualifikation. Diese Managementkompetenz müsste in der Verwaltung verstärkt werden, hier gibt es aus meiner Sicht eine große Lücke.
CIO.de: Deutschland liegt ja immer weit hinten beim E-Government-Ranking. Was sagen Sie dazu?
Bürger- und Unternehmensbedürfnisse besser verstehen
Pitsch: Das liegt daran, dass wir zu wenige elektronische Angebote für den praktischen Alltagsbedarf haben, wo man im E-Government als Bürger oder Unternehmen Dinge abschließend erledigen kann. Da sind andere Länder weiter. Dafür führen wir oft eine typisch deutsche, solide Sicherheitsdebatte, und wir schaffen Infrastrukturen, die ihresgleichen suchen in Europa. Wir diskutieren vieles und probieren zu wenig Neues aus - das verlangsamt die Abläufe. Andererseits treffen wir dann aber oft die richtigen Entscheidungen, um Veränderungen auf einer vernünftigen Basis herbeizuführen.
CIO.de: Fehlt der Verwaltung die Begeisterung, fehlen die internetaffinen Politiker?
Pitsch: Die CIOs aus dem öffentlichen Bereich, die ich kenne, sind sehr kompetent. Sie verstehen nicht nur die Thematik, sondern treiben sie auch mit persönlicher Leidenschaft und Glaubwürdigkeit voran. Aber auf der politischen Ebene müssen wir mehr bewegen. Moderne Verwaltung durch IT ist heute kein politisches, kampagnenfähiges Thema. Damit gewinnt man keine Wahl. Das kann es werden, wenn man in einer verständlichen Sprache erklärt, warum bewährte Abläufe aus der Privatwirtschaft und innovative IT nicht nur Kosten senken, sondern bürgernahe und bessere Verwaltungsleistungen ermöglichen.
Politisch gewinnen kann man nur, wenn man den Bürgern beweisen kann, dass zum Beispiel der neue Ausweis den Bürgern das Leben leichter macht. Wenn die Übersetzung in das Alltagsleben fehlt, ist jede technisch revolutionäre und innovative Infrastrukturmaßnahme zum Scheitern verurteilt. Diesen Mehrwert muss man eben auch in einer politischen Sprache kommunizieren.
CIO.de: Wird die Diskussion in Deutschland also immer falsch geführt?
Pitsch: Der Mehrwert und der Nutzen müssen in den Vordergrund gestellt werden. Der Bürger muss immer im Mittelpunkt dessen stehen, was wir auf Verwaltungsseite tun. Es gilt, die tatsächlichen Bürger- und Unternehmensbedürfnisse zu verstehen und darauf die Dienste und Angebote konsequent auszurichten. Ein Beispiel: Die Behördenrufnummer D115 ist ein wunderbarer Fortschritt - wir dürfen es aber nicht auf der technischen Callcenter-Ebene mit Wissensdatenbanken belassen. Wir müssen es als Instrument sehen, um die Bürgerbedürfnisse zu begreifen. D115 vor allem als Wissensmanagement zu verstehen heißt zu fragen: „Wo tauchen die eigentlichen Probleme der Bürger auf?" und „Welche Leistungen sind völlig irrelevant?" oder die Frage „Braucht der Bürger überhaupt ein virtuelles Amt?" Es wird vieles auf Grund von abstrakter Beratung entworfen, aber vieles ist zu wenig faktenbasiert.
CIO.de: Sie kritisieren Ihre eigene Branche?
Pitsch: In der Branche gibt es unterschiedliche Ansätze. Wir als Accenture positionieren uns ja anders als viele unserer Wettbewerber. Wir agieren nicht als Vertriebler, die ihre Produkte im Markt unterbringen wollen. Wir verstehen uns als ein produktunabhängiger, neutraler Partner der öffentlichen Hand. Wir wollen dazu beitragen, dass die öffentliche Verwaltung für ihre Kunden - also für Bürger und Unternehmen - das Richtige tut, um wettbewerbsfähig zu bleiben.
Viele Dienste brauchen Kunden gar nicht - andere fehlen
CIO.de: Ihre Kunden sind ja aber die Verwaltungen, nicht die Bürger.
Pitsch: Das sehe ich anders. Unsere eigentlichen Kunden sind die Kunden unserer Kunden, die Privatleute und Unternehmen als Empfänger von Verwaltungsdienstleistungen. Wenn dieser Gedanke im Mittelpunkt der öffentlichen Verwaltung steht, dann wird Verwaltung eine ganz andere Akzeptanz finden. Es könnten gleichzeitig viele andere Probleme gelöst werden. Weil man dann auf einmal Dienstleistungen anbietet, die für die Empfänger wirklich relevant sind.
Dann wird man feststellen, dass wir bestimmte Dienste gar nicht brauchen - Dienste, über die wir heute noch nicht nachgedacht haben, aber schon. Das ist der springende Punkt. Und das ist auch etwas, worüber Politiker öffentlich diskutieren sollten, um im politischen Wettbewerb bestehen zu können.