"Wir finden keine Fachkräfte, niemand bewirbt sich bei uns und in fünf Jahren finden wir keinen IT-Experten mehr!" Für Sätze dieser Art hat Martin Gaedt kein Verständnis. Der Berater, Firmengründer und Autor stellt ein paar steile Thesen zum "Mythos Fachkräftemangel" auf - und schwimmt damit gegen den Strom. Wir haben nachgefragt.
CIO.de: Herr Gaedt, Sie behaupten, es gibt den Fachkräftemangel gar nicht. Eine gewagte These.
Martin Gaedt: Die Unternehmen sind selbst schuld, wenn sie niemanden finden. Punkt. Es gibt keinen Fachkräftemangel. Natürlich gibt es schwierige Rahmenbedingungen, das will ich gar nicht leugnen. Aber viele Firmen limitieren sich selbst völlig unnötig. Nur 15 Prozent aller Firmen in Deutschland sind bereit, einen englischsprachgien ITler einzustellen. Die Welt ist voller Fachkräfte. In meiner Firma arbeiten neben Deutschen auch ein Serbe, ein Rumäne und ein Nepalese in der Software-Entwicklung. Wenn ich von vornherein sage, dass ich nur deutschsprachige Kandidaten nehme, dann limitiere ich mich selbst. Die IT-Sprache ist ohnehin englisch! Und wer sagt, dass es dieses Limit gibt?
Aber Unternehmen haben Schwierigkeiten, überhaupt Bewerber für Stellen zu finden! Wie passt das zusammen?
Martin Gaedt: Wenn ein Unternehmen darüber jammert, dass es zu wenig Kunden hat, was raten Sie ihm? Er soll mehr Werbung machen! Aber wenn eine Firma sagt, sie finde keine Fachkräfte, dann halten es alle für ein strukturelles Problem. Dabei ist doch Recruiting nichts anders als Marketing und Vertrieb!
Was machen so viele Firmen denn falsch?
Martin Gaedt: Einerseits gibt es kaum Unternehmen, die außergewöhnliches Personalmarketing betreiben. Wenn ich zu den Chefs gehe, und sie frage, was sie im Recruiting anders machen als andere, gibt es nur ganz wenige, die fundierte Strategien haben. Andererseits verfahren viele Unternehmen, was das Recruiting angeht, immer noch so wie im letzten Jahrtausend. Sie geben Stellenanzeigen online und in Print auf. Was bitte ist daran neu? Wenn 80 Prozent der Firmen noch immer auf Stellenanzeigen setzen, kriegen sie auch keine Bewerbungen. Welcher hochqualifizierte ITler liest denn heute noch Anzeigen? Die werden von Headhuntern angerufen! Kein Wunder, dass so viele Firmen Schwierigkeiten haben, Stellen zu besetzen. So schlimm kann die Situation auf dem Arbeitsmarkt gar nicht sein.
Warum das denn?
Martin Gaedt: Wenn die Not so groß wäre, wären wir kreativer. Aber wir sind es nicht - also kann es mit dem Mangel nicht so weit her sein.
Wie sähe denn kreatives Recruiting aus?
Martin Gaedt: Ich gebe Ihnen ein Beispiel von einem echten Unternehmen. Statt einer Stellenanzeige suchte sich die Firma 20 Kandidaten. Denen schickt sie ein Handy, in dem nur eine einzige Nummer eingespeichert ist, mit einem Post-It darauf: "Rufen Sie Ihren zukünftigen Arbeitgeber an." Das ist Recruiting 2014!
Das ist aber alles ein riesiger Aufwand.
Martin Gaedt: Natürlich ist das keine Option für jedes Unternehmen, das ist klar. Aber es ist billiger als Stellenanzeigen und ein Headhunter. Wer hat gesagt, dass Recruiting einfach ist? Die Zeiten, in denen Firmen Stapel von Bewerbungen bekamen und welche ziehen konnten, die sind vorbei. Zum Glück! Bewerbersuche kostet Zeit und Geld.
Das kann sich nicht jedes Unternehmen leisten, gerade Mittelständler haben für so etwas kein Budget.
Martin Gaedt: Oft ist es doch so, dass das, was am besten funktioniert, simpel ist. Ich kenne ein Unternehmen, das für 3300 Euro eine Stellenanzeige geschaltet hat - und null Bewerbungen bekam. Es schaltete die Anzeige noch einmal, wieder gab es keine Bewerbungen. Und was passiert dann? Die Personalleiterin sagt, sie brauche noch mal 3300 Euro für eine weitere Stellenanzeige. Ich glaube, wenn ich Recruiting betreibe wie den Vertrieb, dann habe ich keinen Fachkräftemangel. Im Vertrieb muss ich investieren, persönlich vorbeigehen und hartnäckig sein. Das ist im Recruiting nicht anders.
Haben die Unternehmer dann Bewerber, vergraulen sie die wieder, wie sie in Ihrem Buch anprangern - was meinen Sie damit?
Martin Gaedt: Selbst Top-Bewerber oder händeringend gesuchte Ärzte werden von potenziellen Arbeitgebern vergrault, weil sie sie lang warten lassen oder ihnen rotzige und unpersönliche Standardantworten schicken. Noch ein Beispiel: Ein Kunde wollten einen bestimmten IT-Entwickler einstellen, er bekam einen Experten aus Kroatien vermittelt. Dem Kunden wurde gesagt, dass er sich sofort bei dem Kroaten melden solle - sonst sei der vom Markt. Was passiert? Nichts passiert. Sechs Wochen später ruft das Unternehmen beim Entwickler an und stellt fest, dass er schon bei einer anderen Firma angestellt ist. Zu lang gezögert! Fachkräfte darf man keine sechs Wochen warten lassen - sonst sind sie vom Markt. Da darf man sich nicht wundern, wenn langsame Firmen Stellen nicht besetzt bekommen. Viele Ingenieure und andere Akademiker gehen eben ins Ausland, weil sie hier nichts Attraktives finden oder unterbezahlt werden. Der "War for Talents" findet ja weltweit statt.
Selbst mit Absagen können Unternehmen noch Fachkräfte der Zukunft vertreiben, schreiben Sie. Aber Absage ist Absage, damit macht sich eine Firma einfach keine Freunde.
Martin Gaedt: Mit Absagen an gute Kandidaten verschwendet man nicht nur viel Geld und Zeit, sondern man riskiert auch einen schlechten Ruf. Vor allem, wenn sie völlig unpersönlich sind. Absagen müssen signalisieren: Lieber Bewerber, du bist mir etwas wert! Wartelisten bringen wenig, denn das bringt dem Kandidaten keine unmittelbare Vermittlung und meistens sind die Listen nach ein paar Wochen voller Karteileichen. Dabei gibt es gute Alternativen.
Was schlagen Sie vor?
Martin Gaedt: Talentpools mehrerer Unternehmen sind die Stellenbörse der Zukunft. Wenn sich Unternehmen zu einem Netzwerk zusammenschließen, könnte ein Drittel der Unternehmen die restlichen zwei Drittel mit Bewerbern versorgen - Recruiting in Kooperation ist so einfach. Hat man eine Stelle besetzt, sagt man Kandidat Zwei und Drei nicht ab, sondern empfiehlt sie im Talentpool. So kommen sie vielleicht bei einem anderen Unternehmen unter, das nicht lang nach guten Kandidaten suchen muss. Und alle sind glücklich.
Aber für das Unternehmen selbst ergibt sich doch daraus kein Vorteil.
Martin Gaedt: Weil die Firmen es nicht gewohnt sind und weil viele denken, es sei mehr Aufwand. Es herrscht immer noch der Gedanke vor: "Der geht zur Konkurrenz! Ich werde ihn doch da nicht hinschicken!" Ich sage dann immer: "Ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Wenn Sie ihn nicht einstellen, geht er ohnehin zur Konkurrenz!" Das zieht meistens. Man muss immer bedenken: Der Arbeitsmarkt ist dynamisch. Wenn ich jetzt drei perfekte Bewerbungen habe und empfehle Kandidaten weiter, dann kann es sein, dass ich einige Monate später, wenn ich selbst wieder eine offene Stelle habe, selbst eine Empfehlung bekomme. Empfehle ich niemanden weiter, verbaue ich mir selbst die Möglichkeit, auf den Pool zuzugreifen. Gleichzeitig werden sich die abgelehnten ihr Leben lang positiv an mich erinnern - und sich in vier oder fünf Jahren noch einmal bewerben.
Und die Kosten?
Martin Gaedt: Das empfehlende Unternehmen refinanziert sich seinen eigenen Aufwand. In unserer webbasierten Software cleverheads gibt es eine Empfehlungsprämie. Wer empfiehlt, bekommt für einen vermittelten ITler zwischen 2000 und 3700 Euro. Wer Bewerber einstellt, zahlt 3900 bis 7400 Euro. Für einen Headhunter muss man mehr zahlen. Aber eine vergleichbare Dichte an qualifizierten Bewerbern komme ich nur in Kooperation mit anderen.
Wie sieht die Zukunft des Recruitings aus?
Martin Gaedt: Ich persönlich glaube, in fünf Jahren gibt es keine Stellenbörsen mehr. Sie machen keinem Spaß. Es wird alles über Netzwerke und Empfehlungen laufen und auch das Storytelling über die Unternehmenskultur wird ein wichtiger Teil davon sein. Das funktioniert: Eine Firma, die Turbinen herstellt, klagte darüber, dass Turbinen so unsexy seien und sie deswegen keine Bewerber bekämen. Dann taten sie etwas sehr schlaues: Sie engagierte zehn hervorragende Fotografen und stellten die Bilder auf einen Blog. Auf einmal bekamen sie jede Menge Bewerbungen. So sind sie aufgefallen. Ein ITler muss ständig dazu lernen, das ist im Recruting genauso. Aber viele Firmen nutzen keine Personalmarketinginstrumente. Da muss ich mich nicht wundern, wenn sie nicht mal Bewerber haben. Erst wenn das alles genutzt wird, dann kann man ernsthaft über Fachkräftemangel reden.