"Wir machen nicht jeden Hype mit", sagt Bettina Uhlich. Den von Gartner geprägten Begriff der Bimodal IT habe sie völlig ignoriert. "Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln, das ist nicht mein Ding", erklärt die promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin. "In unserem Veränderungsprozess gehen wir schrittweise vor, alles baut aufeinander auf." Wie das in der Praxis aussehen kann, zeigt sich an der Entwicklung des neuen Organisationsmodells für die Konzern-IT.
Als einer der größten Spezialchemiekonzerne entwickelt, produziert und vertreibt Evonik chemische Produkte und Lösungen für unterschiedliche Branchen in mehr als 100 Ländern. Mit 180 Standorten und rund 36.000 Mitarbeitern war der Konzern lange Zeit auch in Sachen IT dezentral aufgestellt. In den vergangenen Jahren hat sich das gründlich geändert.
Heute agiert eine zentrale IT-Organisation als weltweit verantwortlicher Lieferant von IT-Lösungen. Bei Evonik spricht man von "ONE IT-Organisation". Dahinter steckt nicht nur eine organisatorische, sondern auch eine technische Konsolidierung auf verschiedenen Ebenen. So arbeitet das Unternehmen nur noch mit einer SAP-Instanz ("ONE ERP") und hat ein einheitliches Daten- und Prozessmodell entwickelt.
Mit der Digitalisierung und vielen neuen technischen Themen stieg der Veränderungsdruck an vielen Stellen im Konzern, berichtet die CIO. "Also haben wir uns gefragt, ob wir dafür richtig aufgestellt sind." Vor allem zwei Fragen trieben die Wirtschaftsinformatikerin und ihr Management-Team um: "Wie werden wir vom Business besser verstanden?", und: "Warum sind wir in der IT eigentlich ganz anders organisiert als in den operativen Geschäftseinheiten?" Auch die IT entwickle schließlich Produkte und beliefere Kunden. So entstand die Idee einer "Product-oriented Organization" mit mehreren Produktlinien. "Im Prinzip haben wir das klassische Modell unseres Unternehmens auf die IT abgebildet", erklärt die IT-Chefin das Vorgehen.
Was in der Theorie sofort einleuchtet, gestaltete sich in der praktischen Umsetzung als komplexes Unterfangen. Denn die Evonik-IT war bis dato entlang typischer IT-Funktionen "klassisch" aufgestellt. Uhlich: "Es gab keine End-to-End-Verantwortung für IT-Services, sondern funktionale Silos und zentral verwaltete Budgets."
Um sich dem Zielmodell anzunähern, setzte die CIO auf verschiedenen Ebenen an. Im ersten Schritt definierte sie mit ihrem Team fünf "Product Lines" für die Evonik-IT: Digital Workplace, Market Engagement, Smart Administration, Smart Production und Enterprise Analytics. Zum Bereich Market Engagement zählen etwa alle "Customer-facing Applications" und CRM-Systeme. In der Product Line Smart Administration geht es vor allem um Verwaltungsprozesse, beispielsweise im Einkauf und im Rechnungswesen. Smart Production stellt Applikationen wie SCM und Quality-Management sowie Labor-Management-Systeme bereit.
Spotify als Vorbild
Den Kern der Veränderung bildet eine agile Organisationsstruktur. Dabei spielen "Product Line Manager" eine zentrale Rolle. Sie verantworten den kompletten Lebenszyklus ihrer IT-Produktlinie, von der Entstehung über den laufenden Betrieb bis zum "End of Life". Im agilen Team des Product Line Managers agiert ein Product Group Manager als "Product Owner". Ihm zur Seite stehen ein Solution Architect, ein Delivery Manager und ein Product Controller.
Uhlich hat sich dabei vom Modell des schwedischen Streaming-Anbieters Spotify inspirieren lassen, das als gelungenes Beispiel für eine agile Organisation gilt. Dort agieren mehrere "Tribes", geführt von einem "Tribe Lead", der dem Product Line Manager in der Evonik-Welt entspricht. Die Arbeit an einzelnen Produkten oder Diensten erledigen "Squads"; Mitglieder aus verschiedenen Squad-Teams können wiederum in Form von "Guilds" auch produktlinienübergreifend in Projekten mitarbeiten.
Solche Begriffe verwendet Uhlich in der internen Kommunikation eher nicht: "Wir reden von Product Line Managern. Das versteht und akzeptiert jeder." Die Arbeitsweise der Teams ist indes stark an das Spotify-Modell angelehnt: Es gibt flexible "Output"-orientierte Teamstrukturen, Teammitglieder können in mehreren Projekten mitarbeiten; die Teams werden jeweils fallbezogen zusammengestellt.
Network over Hierarchy
Ein Motiv für das agile Organisationsmodell war auch die Sorge, "dass wir mit der Produktorientierung womöglich nur ein Silo durch ein anderes ersetzen", erläutert die IT-Chefin. Das Motto für die künftige Zusammenarbeit laute "Network over Hierarchy". Unterstützt werden die Product Lines zudem von mehreren cross-funktionalen Teams, die sich beispielsweise um das Performance-Management, Entwicklung, Digital Labs und das Enterprise-Data-Management kümmern. Nach gut eineinhalb Jahren Vorbereitungszeit stand die Aufbauorganisation für das neue Modell, am 1. Januar 2020 soll die produktorientierte IT komplett sein und an den Start gehen.
IT-Governance reloaded
Mit der Organisation verändert sich auch die IT-Governance. Uhlich gebraucht dafür ein anschauliches Bild: "Wenn alle Entscheidungen über IT-Projekte über meinen Schreibtisch laufen, bin ich selbst der Bottleneck. Also dezentralisiere ich Entscheidungsprozesse." Konkret bedeutet das: Bis zu einem Investitionsvolumen von 500.000 Euro entscheiden strategisch verantwortliche Prozess-Design-Teams selbständig, welche IT-Produkte entwickelt werden. Die Prozess-Design-Teams werden von fachverantwortlichen Topmanagern außerhalb der IT geführt.
Gemeinsam mit den IT-Product-Line-Managern werden so Projektentscheidungen für rund 95 Prozent der 300 bis 400 Projekte getroffen, die die Evonik-IT jährlich stemmt. Erst ab einem Volumen von 0,5 bis 10 Millionen Euro entscheidet das Gremium "IT ExCom", in dem neben Uhlich weitere Manager aus der IT sowie von der Demand-Seite vertreten sind. Überschreitet das Investitionsvolumen zehn Millionen Euro, muss der Vorstand die Entscheidung treffen.
Die Profit-and-Loss-Verantwortung für IT-Produkte wandert in diesem Konstrukt in die Product Lines, so Uhlich. Die Product Line Manager verantworten nicht nur den gesamten Lebenszyklus, sondern bilden auch die Schnittstelle zu den "Kunden", in der Regel also zu den Fachbereichen. Entsprechend hoch sind die Anforderungen an diese neue Rolle. Gefragt sind vor allem Leadership-Fähigkeiten und tiefe Kenntnisse der Konzernprozesse. Evonik schreibt die Stellen offen aus, ausgewiesene IT-Experten müssen die Product Line Manager nicht unbedingt sein.
Strategie NexGenIT
Den strategischen Rahmen bildet die weiterentwickelte IT-Strategie "NexGenIT". Sie besteht aus den drei Säulen NexGen Business Integration, NexGen Organization und NexGen Architecture. Hinter dem Begriff Business Integration stehe das Ziel, mehr Nähe zu den Fachbereichen herzustellen, erläutert die CIO. Dazu gehören beispielsweise neue digitale Geschäftsmodelle, IoT-Szenarien und DevOps-Strukturen, aber auch agile Projekte und Co-Working-Spaces. Uhlich: "Sowohl das Business als auch die IT müssen agile Methoden für die Entwicklung von Innovationen nutzen."
Das Organisationsmodell und die IT-Governance sind in der Säule NexGen Organization beschrieben. Unter dem Begriff NexGen Architecture fassen die Evonik-Strategen Themen der technischen Infrastruktur zusammen. Dabei geht es etwa um IT-Bebauungspläne im Rahmen einer Enterprise Architecture, aber auch um Cloud-Integration und die neue ERP-Plattform.
Zu den jüngeren Elementen gehört ein "hybrides Multi-Cloud-Modell". Das Ziel: Klassische IT-Management-Aufgaben, die bisher in Bereichen wie Server, Storage oder Datenbanken anfallen, sollen in hybride und Multi-Cloud-Betriebsumgebungen verlagert werden. Die Aufgaben werden damit anspruchsvoller. So stehen künftig beispielsweise Themen wie Service-Design und -Provisionierung auf der Agenda, der Aufbau eines Multi-Cloud-Integrations-Managements sowie Monitoring und Identity-Management-Systeme für die hybride IT.
Die Grundlagen für die neue IT-Strategie hat Uhlich, die ihre Karriere bei der Degussa AG im Bereich Finanz- und Rechnungswesen begann, schon vor einigen Jahren geschaffen. In drei Schritten gestaltete sie die IT des Chemieriesen um und errang damit beim Wettbewerb "CIO des Jahres 2016" den dritten Platz in der Kategorie Großunternehmen.
Die Managerin bewarb sich seinerzeit gleich mit drei Projekten: "PROVE" (Process & Value Excellence), "Transformation der IT" und "IT-Plattformen für Digitalisierung von Produkten, Prozessen, Produktion, People (D4P)". Im Rahmen von PROVE wurde etwa ein konzernweit einheitliches Prozess-Management aufgebaut. Zur Transformation der IT gehörte unter anderem das Standardisieren von Serviceprozessen in einer IT-Service-Management-Plattform.
S/4HANA in den Startlöchern
"Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht", sagt Uhlich selbstbewusst, wohl wissend, dass die To-do-Liste beispielsweise im SAP-Bereich noch lang ist. Im Programm "NexGen ERP" etwa laufen die Vorbereitungen für die Migration auf das neue Kernsystem S/4HANA auf Hochtouren. Zurzeit heiße die Devise "Back to Standard". Dahinter verbirgt sich vor allem der Rückbau eigenentwickelter Ergänzungen des bisherigen SAP-Systems.
Bis Mitte 2020 sollen alle Arbeiten erledigt sein, dann beginnt plangemäß die eigentliche Migration. Erst wenn diese geschafft ist, will sich Uhlich um die nächste Evolutionsstufe kümmern: das Ausloten der zahlreichen neuen "Opportunities", die SAP mit S/4HANA verspricht, darunter beispielsweise das Arbeiten mit Echtzeitdaten und neue SCM-Modelle. Gestartet werden soll S/4HANA zunächst im On-Premise-Betrieb, eine spätere Nutzung aus der Cloud kann sich Uhlich vorstellen.
Agil denken und handeln
Bei all den Umbauarbeiten spielten zusätzliche Fähigkeiten ("Skillset") und veränderte Einstellungen ("Mindset") der Mitarbeiter eine wichtige Rolle, betont die CIO: "Es reicht nicht, agil zu handeln, wir müssen auch agil denken." In der Praxis bedeute das etwa, selbstorganisierten Teams Kompetenzen zu übertragen und sie zu ermutigen, sich auch cross-funktionale Kenntnisse anzueignen.
In der Aus- und Weiterbildung setzt Uhlich auf Freiwilligkeit. Einen Aufruf, sich in der IT als "agiler Multiplier" zu beteiligen, ließ sie IT-intern international veröffentlichen, und war überrascht von der Resonanz: "Mehr als 100 interne Kandidaten haben sich gemeldet, so viele hatten wir nicht erwartet."
Auf dem Weg zu einer wirklich agilen Arbeitskultur sei indes noch viel zu tun, so Uhlich. Das betreffe nicht nur die IT-, sondern auch Betriebs- und Support-Funktionen. Um das "Buy-in" aller Beteiligten sicherzustellen, holte sie eine dedizierte Change-Managerin in ihr Team. Hinzu kam eine Kommunikationsexpertin: "Die sorgt zum Beispiel dafür, dass IT-Produkte in unserem Produktkatalog für alle verständlich beschrieben sind."
Ausbruch aus dem Silo
Das Schwierigste im Change-Prozess sei es, die richtigen Leute zu finden, resümiert die IT-Chefin. Aber auch der nächste Schritt habe es in sich: "Agilität ist ja erstmal eine Philosophie, die es zu vermitteln gilt." Das jahrelang antrainierte Arbeiten im Silo sei nur schwer aus den Köpfen zu bekommen. Uhlich: "Man muss die neu definierten Rollen innerhalb und außerhalb der IT dazu bringen, zusammenzuarbeiten - das ist ein dickes Brett."