Stockenten haben sich längst daran gewöhnt, dass auf ihren Teichen auch Mandarin-Ducks paddeln. Derweil diskutieren Arbeitsmarktexperten wie eh und je über den Mangel an qualifizierten Experten für die Datenverarbeitung. "Die EDV-Branche selbst könnte durch On-the-Job-Ausbildung geeigneter Hochschulabsolventen anderer Fachrichtungen erheblich zum Schließen des Fachkräftemangels beitragen", hieß es in der "Computerwoche" - vor 34 Jahren, 1980, in dem Jahr, als Microsoft und IBM einen Vertrag über die Entwicklung von MS-DOS abschlossen. Und 2014? Das Jahr war gerade einmal neun Tage alt, da forderte der Branchenverband Bitkom wieder: "Hightech-Unternehmen brauchen Zuwanderung."
Die Wette
Der vermeintliche Fachkräftemangel hatte auch Ulrich Bäumer dazu veranlasst, mit dem CIO-Magazin im IT-Jahrbuch 2014 eine Wette einzugehen: "In zehn Jahren werden asiatische Dienstleister 15 Prozent der Wertschöpfung in deutschen Unternehmen erbringen", prognostizierte der Partner der internationalen Anwaltskanzlei Osborne Clarke. Obwohl ein bekanntes Problem, seien durchgreifende Lösungen für den Fachkräftemangel nicht in Sicht. Dies betreffe etwa die Ausbildung im Land, aber auch die Gewinnung von Fachkräften aus Nearshore- sowie Offshore-Regionen. Eine Folge der Entwicklung: die noch engere Einbindung asiatischer Dienstleister und der Aufbau eigener F&E-Abteilungen deutscher Unternehmen vor Ort in Asien. "Diese Einbindung wächst bis 2024 auf einen Anteil, der 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entspricht", schätzt Bäumer.
Recruiting in Deutschland schwierig
Bei einem deutschen BIP von 2736 Milliarden Euro im vergangenen Jahr würde sich ein Betrag von über 400 Milliarden Euro ergeben, der gemäß der Wette 2024 durch asiatische Dienstleister erbracht werden müsste. Nicht berücksichtigt ist dabei die Veränderung des BIP in dieser Zeitspanne. Laut Bitkom wird die gesamte IT-Branche in Deutschland 2014 auf ein Volumen von 76,8 Milliarden Euro kommen. Damit ist klar, dass die 15 Prozent nicht allein aus der IT stammen können. Das Erreichen der 400 Milliarden Euro hängt an allen Branchen. Entwicklungsingenieure anderer Fachgebiete müssen mitberücksichtigt werden.
Armin Trost ist sich sicher, dass Bäumer die Wette gewinnen wird: "Jedes Unternehmen hat Zielfunktionen, bei deren Besetzung es sich heute mit geeigneten Kandidaten sehr schwer tut", berichtet der Professor für HR-Management an der Hochschule Furtwangen, der zuvor für das weltweite Recruiting der SAP AG verantwortlich war. Zwar bekämen Firmen Bewerbungen von Ingenieuren und IT-Experten auf den Tisch, aber meist nicht in der gewünschten Breite oder mit der thematischen Spezialisierung: "Berater und Produkt-Manager sind womöglich noch verfügbar, aber spezialisierte Entwickler für Enterprise-Apps und SAP HANA sind selten." Daher werde Asien für deutsche Unternehmen immer wichtiger, sagt Trost, der beobachtet hat: "Zunehmend werden Entwicklungsleistungen ausgeschrieben und ausgelagert."
Fachkräftemangel ist nur ein Scheinriese
Gibt es den Fachkräftemangel tatsächlich? "Das ist ein Scheinriese", entgegnet Karl Brenke, Arbeitsmarktexperte am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Je näher man an das Problem rangeht, desto kleiner wird es. Stattdessen sollte die Frage dahingehend eingeschränkt werden, ob es einen Mangel an hoch qualifizierten Arbeitskräften gibt, die bereit sind, zu den angebotenen Löhnen zu arbeiten. "Bei der Beschäftigungsgruppe haben die Reallöhne zuletzt sogar abgenommen", argumentiert Brenke. Indizien dafür, dass es bei Ingenieuren und IT-Kräften ausgeprägte Knappheiten auf dem Arbeitsmarkt gibt, sieht DIW-Experte nicht. "Es ist ein Versuch, hoch qualifizierte Arbeitskräfte zu möglichst geringen Preisen zu bekommen."
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) aus Nürnberg ist die Forschungsstelle der Bundesagentur, und Anja Kettner leitet hier die IAB-Stellenerhebung. Laut ihren Untersuchungen verlaufen 41 Prozent der Stellenbesetzungen im IuK-Bereich schwierig, berichten die befragten Unternehmen. Das ist mehr als im Durchschnitt aller Wirtschaftsbereiche von 33 Prozent. "Aber es ist weniger als im Bereich Metallerzeugung, im Gastgewerbe und im Gesundheits- sowie Sozialwesen", schränkt Kettner ein. Zudem bedeute "offene Stelle" nicht, dass die Position nicht besetzt werden könne. "Man kann die offenen Stellen für die kommenden Jahre nicht linear fortschreiben", wie dies in der Wette geschehen sei. Kettners Bilanz: Bei Fachkräften gibt es einen Engpass und keinen Mangel.
Hausgemachte Probleme
Dass die Entwicklung oft hausgemacht ist - viele Anzeichen deuten darauf hin: "In den vergangenen Jahren beobachten wir in unseren Befragungen den klaren Trend, dass Unternehmen gerade für Ingenieure und IT-Fachkräfte immer mehr Stellen ausschreiben, bei denen längere Erfahrungen im jeweiligen Berufsfeld verlangt werden." Dieser Anteil belaufe sich inzwischen bei den Ingenieuren auf rund 70 Prozent. Mit gravierenden Folgen für Absolventen, die bei vielen interessanten Positionen noch vor dem Start aus dem Rennen genommen werden. "Berufseinsteiger haben es so eher schwerer, in die Bereiche IT und Engineering reinzukommen", berichtet Kettner. Um überhaupt berufliche Erfahrung nachweisen zu können, müssen Absolventen den Umweg über Werkverträge oder schlecht bezahlte Praktika wählen.
Auch Sebastian Braun sieht noch viel Potenzial im deutschen Arbeitsmarkt. Der Leiter des Forschungsbereichs Globalisierung und Wohlfahrtsstaat am Institut für Weltwirtschaft (IfW) der Universität Kiel argumentiert mit der allmählich steigenden Erwerbstätigenquote der Älteren sowie der Frauenerwerbstätigkeit, die in Ländern wie Schweden wesentlich höher ist als in Deutschland. "Da sind in erster Linie die Unternehmen gefordert", sagt Braun. Dabei verweist er auf eine IAB-Untersuchung, wonach derzeit nur sieben Prozent der Betriebe Ältere an Weiterbildungsmaßnahmen beteiligen. Besonders niedrig ist dieser Anteil bei kleinen und mittleren Betrieben. Und nur jede hundertste Firma hat spezifische Weiterbildungsangebote für Ältere.
Demographischer Wandel bis 2015
Derzeit sei die Wirtschaft in einer relativ komfortablen Situation bei der Versorgung mit Fachkräften, doch beschleichen Braun manchmal Zweifel, ob die drohenden Konsequenzen in den kommenden Jahren richtig abgeschätzt werden. "Der demografische Wandel kommt, und er kommt schnell." Bis 2025 kann die Zahl der Erwerbspersonen im ungünstigsten Fall um über zehn Prozent sinken. Unklar ist jedoch, inwieweit sich die Nachfrage der Entwicklung anpassen wird, etwa aufgrund steigender Löhne, geringerer Investitionen und zurückgehender Gründungen. Und was ist mit den Neuanfängern in den naturwissenschaftlichen Studiengängen, deren Zahl zuletzt deutlich gewachsen ist? IfW-Experte Braun will sich angesichts der Gemengelage mit einer Prognose lieber zurückhalten. "Ich glaube aber, dass die in der Wette heruntergespielten Lösungsansätze bei der Bewältigung des Problems im Mittelpunkt stehen sollten - auf die müssen wir uns konzentrieren."
Schließlich hat sich in den vergangenen Jahren auch gezeigt, dass Asien keine Antworten auf alle Fragen geben kann. Anfang 2013 schrieb der "Economist" vom "Coming home" amerikanischer Unternehmen, die Teile ihrer Produktion in die Heimat zurückholten. "Zum einen sind die Lohnunterschiede nicht mehr so groß wie früher, und die Schere wird sich weiter schließen", erläutert der IfW-Arbeitsmarktexperte. Zum anderen würden Unternehmen feststellen, dass ein lokaler Hightech-Cluster wie das Silicon Valley viele Vorteile mit sich bringt. Aber auch die Probleme des Outsourcings – Koordination und Kommunikation verschiedener Einheiten – treten immer deutlicher zutage. "Der Trend Richtung Asien schwächt sich ab", prognostiziert Braun.
"Es kann nicht alles nach Asien"
Auch DIW-Forscher Brenke kann derzeit keine eindeutige Tendenz erkennen, dass Vorleistungen etwa durch Entwicklungsingenieure zunehmend in Asien erbracht werden. "Der Wille ist zwar vorhanden, aber Sie können nicht jede Tätigkeit entkoppeln und nach außen geben." Schließlich seien die Nähe zur Zentrale sowie das persönliche Gespräch und die Gruppenarbeit entscheidende Kriterien für den Erfolg. Folglich hält der Arbeitsmarktexperte aus Berlin die Quote von 15 Prozent der Wertschöpfung durch asiatische Dienstleister für zu hoch gegriffen. Beziehe man hingegen die asiatische Leistung wie beim Outsourcing auf den Produktionswert, könne die Wette vielleicht aufgehen.
Statt nach Asien zu schauen, sollten Unternehmen also erst einmal die Hausaufgaben erledigen. "Personalpolitik wird immer mehr zum Kerngeschäft", argumentiert IAB-Forscherin Kettner. Das sei weitaus mehr als die Verwaltung von Personalakten, Einstellungen und Kündigungen mit standardisierten Antworten auf alle Fragen. Heutige Belegschaften haben vielfältige Interessen, die sich nicht mit einem Einheitsvertrag, einheitlicher Arbeitszeit und gleichen Arbeitsbedingungen befriedigen lassen. Junge Mitarbeiter, die sich voll in das Unternehmen einbringen wollen, Ältere mit dem Wunsch nach geregelten Arbeitszeiten, Familien auf der Suche nach Vereinbarkeit mit dem Beruf. Kettner: "Hoch qualifizierte Ingenieurinnen, die das Unternehmen wegen eines Kindes verlassen, tauchen nachher häufig in ganz anderen Berufsbereichen wieder auf." Dadurch verliert sich ein Großteil ihres Potenzials, in das bei der Ausbildung investiert wurde. "Es gibt nicht mehr die eine Personalpolitik für alle, sondern es muss gezielte Angebote für verschiedene Gruppen von Beschäftigten geben."
Hilfe bei Integration wichtig
Mit Praktikumsplätzen für Absolventen und dem Ruf nach Zuwanderung allein ist es nicht getan. Ausländische Fachkräfte und ihre Familien brauchen Unterstützung bei der Integration auch nach der regulären Arbeitszeit, eigene Mitarbeiter brauchen Flexibilität, Studierende brauchen eine engere Praxisbetreuung, um ihnen frühzeitig Erfahrungen mitzugeben. "Unternehmen können diese Aufgaben nicht auslagern und hoffen, das sich andere Institutionen darum kümmern", sagt Kettner. Im deutschen Arbeitsmarkt steckt ein großes Potenzial, das nicht umsonst zu haben ist. Allerdings gilt das auch für das Ticket nach Asien.
Die Wette - Bäumer sieht 15 Prozent der Leistung in Asien
"Ich wette, dass die Einbindung asiatischer Dienstleister bis 2024 auf einen Anteil wächst, der 15 Prozent des (deutschen) Bruttoinlandsprodukts entspricht.", schrieb Ulrich Bäumer von der Kanzlei Osborne Clarke ins CIO-Jahrbuch 2014. In der Wette geht es um hoch qualifizierte Fachkräfte, die der deutschen Wirtschaft heute schon fehlen würden, wobei sich das Problem in den kommenden Jahren durch den demografischen Wandel ausweitet. Dies betreffe sowohl IT-Fachkräfte als auch Ingenieure, schreibt Bäumer. Er kommt zu einem treffenden Schluss: "Es ist erstaunlich, dass die möglichen Lösungsansätze allesamt bekannt und diskutiert sind, jedoch in der Praxis wenig politischer oder unternehmerischer Wille zu erkennen ist, diese Lösungen umzusetzen. Trotz der offensichtlichen Dringlichkeit der Situation mahlen die Mühlen hier sehr langsam." Bäumer führt als mögliche Lösungen die verstärkte Ausbildung in Deutschland sowie den "Import" von Fachkräften aus dem europäischen Ausland oder aus Asien an. Allerdings sei keine der Varianten seiner Meinung nach geeignet, die Lücke zu schließen: Die deutsche Gesellschaft schrumpft, Europa hat ebenfalls nicht genügend Fachkräfte, und die Asiaten fühlen sich hier nicht wohl. Sein Fazit fällt somit eindeutig aus: Es geht nur mit Asien, und zwar vor Ort und gegebenenfalls über Partnerschaften. Doch auch im Fernen Osten gilt: "Partnerschaften bedürfen einer langfristigen Planung, des Abarbeitens verschiedener ‚Hausaufgaben‘‚ sowie eines Umdenkens im eigenen Unternehmen", schreibt der Wettpate, und er schließt mit der Aufforderung: "Dieser Veränderungsprozess sollte heute beginnen und alle Unternehmensbereiche umfassen." |
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Weitere Wetten finden Sie im CIO-Jahrbuch 2014 Jahrbuch 2014 - Neue Prognosen zur Zukunft der IT |