Man braucht kein Wirtschaftsforscher zu sein, um zu erkennen, dass Digitalisierung und Rationalisierung den demografischen Wandels nicht kompensieren können: Obwohl zum Beispiel jedes neue Automodell mit deutlich weniger Personaleinsatz hergestellt wird als sein Vorgänger, sinkt die Arbeitslosigkeit seit Jahren anstatt zu steigen. Denn Jahr für Jahr gehen mehr Alte in Rente als Junge ihren ersten Job antreten.
Welche Folgen das langfristig hat und wie Politik und Wirtschaft mit diesen Folgen umgehen sollten, darüber wird seit mehr als einem halben Jahrhundert diskutiert. Aktuell beschäftigten sich das Darmstädter Wirtschaftsforschungsinstitut Wifor und die Wirtschaftsprüfer von PwC gemeinsam mit diesen Fragen.
3,5 Millionen Menschen weniger auf dem Arbeitsmarkt
Die Kernaussage findet bereits im Titel der Studie: "Demografischer Wandel: In Deutschland werden die Arbeitskräfte rar." Im Jahr 2030, so die Autoren, stehen dem Arbeitsmarkt rund 3,5 Millionen Menschen weniger zur Verfügung als heute. Nur etwa die Hälfte davon könne durch Produktivitätssteigerungen ausgeglichen werden. Deshalb mache es auch keinen Sinn, darauf zu setzen, dass es die Digitalisierung schon richten werde, stattdessen seien gezielte Eingriffe in den Arbeitsmarkt unvermeidlich.
Arbeitgeber suchen alle dieselben Leute
Glaubt man der Studie, dann gibt es nur in einer einzigen Branche einen Überschuss an Arbeitskräften: Transport und Logistik. Hier werden sehr viele einfache Tätigkeiten von Robotern übernommen werden. In allen anderen Branchen steht uns ein Mangel bevor.
"Arbeitgeber werden über alle Branchen hinweg um dieselben Qualifikationen werben", so PwC-Personalvorstand Petra Raspelt zu den Ergebnissen. "Gefragt sind Akademiker, Spezialisten der Informations- und Kommunikationstechnologie und Absolventen der MINT-Fächer."
Und nicht nur die Branchen, auch die Ausbildungsarten konkurrieren immer mehr miteinander, weil, so die Studie, "gehobeneFachkräfte in noch höherem Maße fehlen werden als Akademiker." Deshalb raten PwC und Wifor auch von einer weiteren Akademisierung ab, plädieren stattdessen für die Stärkung des typisch deutschen dualen Systems, also der parallel schulischen und betrieblichen Ausbildung.
Darüber hinaus - so die Empfehlung - sollten Unternehmen generell ihre Personalpolitik als zentrale strategische Aufgabe betrachten. Es komme in Zukunft mehr denn je darauf an, marktgerechte Vergütungs- und Anreizsysteme, aber auch Kompetenzmanagement, Nachfolgeplanung und Talentförderung systematisch im Personalwesen einzusetzen, weil es - abgesehen vom sich abzeichnenden Mangel - grundsätzlich risikoreicher, schwieriger und teurer sei, neue Leute zu suchen, als vorhandene enger an sich zu binden.
IT-Weiterbildung unverzichtbar
Zitat: "Insbesondere Top-Talente halten nach transparenten, strategischen Management-Maßnahmen Ausschau und verlassen das Unternehmen, wenn anderswo erfolgversprechende Alternativen angeboten werden. Der Wettbewerb um diese Mitarbeiter wird sich angesichts der Entwicklung extrem verschärfen."
Für ein wichtiges Instrument, um trotz aufkommendem Mangel ausreichend qualifizierte Mitarbeiter zu haben, halten PwC und Wifor auch die betriebliche Altersvorsorge. Dies umso mehr, "je weniger aussichtsreich sich die staatlichen Rentenbezüge angesichts der demografischen Entwicklung gestalten."
Sinnvoll ist nach Ansicht der Studienautoren hier ein Zuschuss des Arbeitgebers bei gleichzeitiger Eigenbeteiligung des Arbeitnehmers.
Kein Weg führe auch an der systematischen IT-Weiterqualifizierung der Mitarbeiter vorbei. Besonders Berufe, die durch eine geringere Qualifizierung geprägt sind, werden weiterhin in hohem Maße automatisiert, die menschliche Arbeitskraft zunehmend überflüssig. Durch gezielte Personalentwicklungsprogramme und Weiterbildungen könnten Mitarbeiter auf zukünftige Anforderungen vorbereitet werden. "Somit lassen sich Überschüsse im Bereich der Geringqualifizierten unter Umständen nutzen, um Engpässe an anderer Stelle abzufedern."
Politik muss sich einmischen
Auch für die Politik haben Wifor und PwC Empfehlungen beziehungsweise Forderungen parat. Ein generelles Anheben des Renteneintrittsalters halten sie nicht für ein Allheilmittel gegen demografischen Probleme. Für sinnvoller betrachtet die Studie da schon eine "zielgerichtete, gesteuerte Zuwanderungspolitik und die entsprechende Integration am Arbeitsmarkt."
Darüber hinaus sollte die Vereinbarkeit von Familie und Beruf weiter verbessert werden, um erstens die Erwerbsbeteiligung von Frauen stärken und zweites dem generell immer mehr aufkommenden Wunsch nach individueller Gestaltung des Arbeitslebens Rechnung tragen zu können.
Auch die Politik solle sich stärker als bisher bei betrieblicher Altersvorsorge engagieren, weil die gesetzliche Rente langfristig keinesfalls ausreiche. Denkbar sei ein verstärkter steuerlicher Anreiz für Unternehmen in Verbindung mit einem einfachen staatlichen Zuschusssystem für Mitarbeiter, dass die Motivation zur Vorsorge erhöht und den Reiz, vorzeitig in Rente zu gehen, zugleich senkt.
Resümee: Vorhersagen sind schwierig …
Dass Deutschland ein Überalterungsproblem hat, daran zweifelt niemand. Wie sich das aber auswirkt, wie viele Arbeitskräfte genau fehlen werden und welche, das bleibt Spekulation. Und spekulativ ist auch die von PwC und Wifor prognostizierte Lücke von 3,5 bis 4 Millionen Angestellten. Weil es in dieser Gleichung viel zu viele Unbekannte gibt, die sich auf das Ergebnis auswirken: Frauenerwerbsquote, genaues Renteneintrittsalter, Rationalisierungstempo, Akademikerquote, Anzahl und Qualifikation von Zuwanderern etc.
Wie unzuverlässig solche Prognosen sind, zeigte sich zum Beispiel im Jahr 2000, als das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle (IWH) vorhersagte, bis zum Jahr 2020 werde die Arbeitslosigkeit deutlich steigen. Bekanntlich ist die Quote schon heute, im Jahr 2016, aber nicht höher, sondern nur noch etwa halb so hoch wie 2000.
Andere Experten gingen damals von ganz anderen Szenarien aus. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zum Beispiel sagte für 2020 einen deutlichen Arbeitskräftemangel voraus.
Wie lautet doch gleich das etwas abgenutzte Bonmot: Vorhersagen sind schwierig, vor allem wenn es um die Zukunft geht.