Deutschland 2030

Fachkräftemangel trotz Digitalisierung

19.09.2016 von Christoph Lixenfeld
Laut einer Studie von PwC und Wifor steht ein dramatischer Fachkräftemangel bevor. Es werden mehr gehobene Fachkräfte als Akademiker fehlen. Wie Wirtschaft und Politik reagieren sollten.
  • Demografischer Wandel wird nicht durch Produktivitätssteigerung kompensiert
  • Die duale Ausbildung sollte gefördert werden
  • Unternehmen müssen Personalpolitik als strategische Aufgabe begreifen
  • An systematischer IT-Weiterbildung führt kein Weg vorbei

Man braucht kein Wirtschaftsforscher zu sein, um zu erkennen, dass Digitalisierung und Rationalisierung den demografischen Wandels nicht kompensieren können: Obwohl zum Beispiel jedes neue Automodell mit deutlich weniger Personaleinsatz hergestellt wird als sein Vorgänger, sinkt die Arbeitslosigkeit seit Jahren anstatt zu steigen. Denn Jahr für Jahr gehen mehr Alte in Rente als Junge ihren ersten Job antreten.

Die Horrorvision jedes Personalers: leere Büros wegen Fachkräftemangels.
Foto: Goran Bogicevic - Fotolia.com

Welche Folgen das langfristig hat und wie Politik und Wirtschaft mit diesen Folgen umgehen sollten, darüber wird seit mehr als einem halben Jahrhundert diskutiert. Aktuell beschäftigten sich das Darmstädter Wirtschaftsforschungsinstitut Wifor und die Wirtschaftsprüfer von PwC gemeinsam mit diesen Fragen.

3,5 Millionen Menschen weniger auf dem Arbeitsmarkt

Die Kernaussage findet bereits im Titel der Studie: "Demografischer Wandel: In Deutschland werden die Arbeitskräfte rar." Im Jahr 2030, so die Autoren, stehen dem Arbeitsmarkt rund 3,5 Millionen Menschen weniger zur Verfügung als heute. Nur etwa die Hälfte davon könne durch Produktivitätssteigerungen ausgeglichen werden. Deshalb mache es auch keinen Sinn, darauf zu setzen, dass es die Digitalisierung schon richten werde, stattdessen seien gezielte Eingriffe in den Arbeitsmarkt unvermeidlich.

Durch gezielte Weiterbildung können auch Ältere länger fit bleiben für den Job.
Foto: auremar - shutterstock.com

Arbeitgeber suchen alle dieselben Leute

Glaubt man der Studie, dann gibt es nur in einer einzigen Branche einen Überschuss an Arbeitskräften: Transport und Logistik. Hier werden sehr viele einfache Tätigkeiten von Robotern übernommen werden. In allen anderen Branchen steht uns ein Mangel bevor.

"Arbeitgeber werden über alle Branchen hinweg um dieselben Qualifikationen werben", so PwC-Personalvorstand Petra Raspelt zu den Ergebnissen. "Gefragt sind Akademiker, Spezialisten der Informations- und Kommunikationstechnologie und Absolventen der MINT-Fächer."

Und nicht nur die Branchen, auch die Ausbildungsarten konkurrieren immer mehr miteinander, weil, so die Studie, "gehobeneFachkräfte in noch höherem Maße fehlen werden als Akademiker." Deshalb raten PwC und Wifor auch von einer weiteren Akademisierung ab, plädieren stattdessen für die Stärkung des typisch deutschen dualen Systems, also der parallel schulischen und betrieblichen Ausbildung.

Die Studienautoren raten nicht zur weiteren Akademisierung, sondern zur Stärkung der dualen Ausbildung.
Foto: Extra Computer

Darüber hinaus - so die Empfehlung - sollten Unternehmen generell ihre Personalpolitik als zentrale strategische Aufgabe betrachten. Es komme in Zukunft mehr denn je darauf an, marktgerechte Vergütungs- und Anreizsysteme, aber auch Kompetenzmanagement, Nachfolgeplanung und Talentförderung systematisch im Personalwesen einzusetzen, weil es - abgesehen vom sich abzeichnenden Mangel - grundsätzlich risikoreicher, schwieriger und teurer sei, neue Leute zu suchen, als vorhandene enger an sich zu binden.

IT-Weiterbildung unverzichtbar

Zitat: "Insbesondere Top-Talente halten nach transparenten, strategischen Management-Maßnahmen Ausschau und verlassen das Unternehmen, wenn anderswo erfolgversprechende Alternativen angeboten werden. Der Wettbewerb um diese Mitarbeiter wird sich angesichts der Entwicklung extrem verschärfen."

Für ein wichtiges Instrument, um trotz aufkommendem Mangel ausreichend qualifizierte Mitarbeiter zu haben, halten PwC und Wifor auch die betriebliche Altersvorsorge. Dies umso mehr, "je weniger aussichtsreich sich die staatlichen Rentenbezüge angesichts der demografischen Entwicklung gestalten."

Was Digitalisierung für Mitarbeiter bedeutet
Was ändert sich durch die Digitalisierung für die Mitarbeiter?
Antworten suchten diese IT-Chefs in einer Diskussion mit COMPUTERWOCHE-Redakteuren. Unser Bild zeigt von links: Hans Königes (CW), Edgar Kirchmann von Transearch, Dieter Loewe von NTT Data, Daniel Krauss von Flixbus, Axel Kummer von Metafinanz, Frank Engelhardt von Salesforce.com, Jürgen Renfer von der KUVB und Alexandra Mesmer (CW).
Axel Kummer, Metafinanz
„Wir müssen neu denken, ausgehend von den Geschäftsprozessen und den Endkunden. Dafür setzen wir auf kreative Köpfe, die auch aus anderen Branchen als der IT kommen.“
Daniel Krauss, Flixbus
„Unsere größte Herausforderung ist es, mit permanentem Change und der damit einhergehenden Unsicherheit zurechtzukommen.“
Dieter Loewe, NTT DATA
„Wir brauchen eine Arbeitskultur, in der Mitarbeiter ein Privatleben haben dürfen und nicht immer erreichbar sind.“
Edgar Kirchmann, Transearch
„Wer ­Digitalisierung ernst nimmt, braucht mehr als einen neuen Posten wie den Chief Digital Officer. Topmanagement wie Führungskräfte müssen das Thema ­treiben und vorleben.“
Jürgen Renfer, KVUB
„Digitale Veränderungen sind derart disruptiv, dass wohl niemand genau weiß, wo die Reise ­endet. Der CIO ist als Lotse gefordert.“
Frank Engelhardt, Salesforce.com
„Es motiviert die Mitarbeiter, wenn sie eine reelle oder auch gefühlte Autonomie ­haben.“
Gezielte Zuwanderung, so die Autoren der Studie, nützt uns am Ende mehr als ein weiter hinausgeschobenes Renteneintrittsalter.
Foto: Rawpixel.com - shutterstock.com

Sinnvoll ist nach Ansicht der Studienautoren hier ein Zuschuss des Arbeitgebers bei gleichzeitiger Eigenbeteiligung des Arbeitnehmers.

Kein Weg führe auch an der systematischen IT-Weiterqualifizierung der Mitarbeiter vorbei. Besonders Berufe, die durch eine geringere Qualifizierung geprägt sind, werden weiterhin in hohem Maße automatisiert, die menschliche Arbeitskraft zunehmend überflüssig. Durch gezielte Personalentwicklungsprogramme und Weiterbildungen könnten Mitarbeiter auf zukünftige Anforderungen vorbereitet werden. "Somit lassen sich Überschüsse im Bereich der Geringqualifizierten unter Umständen nutzen, um Engpässe an anderer Stelle abzufedern."

Politik muss sich einmischen

Auch für die Politik haben Wifor und PwC Empfehlungen beziehungsweise Forderungen parat. Ein generelles Anheben des Renteneintrittsalters halten sie nicht für ein Allheilmittel gegen demografischen Probleme. Für sinnvoller betrachtet die Studie da schon eine "zielgerichtete, gesteuerte Zuwanderungspolitik und die entsprechende Integration am Arbeitsmarkt."

Darüber hinaus sollte die Vereinbarkeit von Familie und Beruf weiter verbessert werden, um erstens die Erwerbsbeteiligung von Frauen stärken und zweites dem generell immer mehr aufkommenden Wunsch nach individueller Gestaltung des Arbeitslebens Rechnung tragen zu können.

Auch die Politik solle sich stärker als bisher bei betrieblicher Altersvorsorge engagieren, weil die gesetzliche Rente langfristig keinesfalls ausreiche. Denkbar sei ein verstärkter steuerlicher Anreiz für Unternehmen in Verbindung mit einem einfachen staatlichen Zuschusssystem für Mitarbeiter, dass die Motivation zur Vorsorge erhöht und den Reiz, vorzeitig in Rente zu gehen, zugleich senkt.

Resümee: Vorhersagen sind schwierig …

Dass Deutschland ein Überalterungsproblem hat, daran zweifelt niemand. Wie sich das aber auswirkt, wie viele Arbeitskräfte genau fehlen werden und welche, das bleibt Spekulation. Und spekulativ ist auch die von PwC und Wifor prognostizierte Lücke von 3,5 bis 4 Millionen Angestellten. Weil es in dieser Gleichung viel zu viele Unbekannte gibt, die sich auf das Ergebnis auswirken: Frauenerwerbsquote, genaues Renteneintrittsalter, Rationalisierungstempo, Akademikerquote, Anzahl und Qualifikation von Zuwanderern etc.

Wie unzuverlässig solche Prognosen sind, zeigte sich zum Beispiel im Jahr 2000, als das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle (IWH) vorhersagte, bis zum Jahr 2020 werde die Arbeitslosigkeit deutlich steigen. Bekanntlich ist die Quote schon heute, im Jahr 2016, aber nicht höher, sondern nur noch etwa halb so hoch wie 2000.

Andere Experten gingen damals von ganz anderen Szenarien aus. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zum Beispiel sagte für 2020 einen deutlichen Arbeitskräftemangel voraus.

Wie lautet doch gleich das etwas abgenutzte Bonmot: Vorhersagen sind schwierig, vor allem wenn es um die Zukunft geht.

Flüchtlinge als Hoffnungsträger gegen den IT-Fachkräftemangel
Hoffungsträger gegen den Fachkräftemangel
Können Flüchtlinge – insbesondere aus Syrien – den Fachkräftemangel in der deutschen IT abmildern? Daten dazu gibt es kaum, aber einzelne Erfahrungen. Drei Stimmen.
Erdal Ahlatci, MovingImage24
Erdal Ahlatci ist COO beim Videoservices-Spezialisten MovingImage24. In seinem Team arbeiten eine Israelin, ein Marokkaner und ein Flüchtling aus Syrien mit den anderen Kollegen zusammen. Seine These: Der hohe Bildungsstand und die gemeinsamen Ziele verbinden die Kollegen.
Stephan Pfisterer, Bitkom
Stephan Pfisterer, Arbeitsmarktexperte des Bitkom, kann das Potenzial der Flüchtlinge derzeit noch nicht einschätzen. „Wegen des Massenandrangs ist es selbst für Ausländerbehörden und Jobcenter schwer, einen Überblick über die Qualifikationen der Flüchtlinge zu bekommen“, sagt er.
Luuk Houtepen, Sthree
Luuk Houtepen ist Head of Business Development DACH beim Personaldienstleister Sthree. Er weiß von bayerischen Unternehmen, die händeringend einen IT-Spezialisten suchten und den geeigneten Kandidaten nicht wollten - dieser kam aus Hamburg.
Dünne Datenlage
Der „MINT-Herbstreport 2015 – Regionale Herausforderungen und Chancen der Zuwanderung“ vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln verbreitet wenig Optimismus. Erste Auswertungen zur Qualifikation der aktuellen Flüchtlinge aus den Krisen- und Kriegsgebieten zeigen, „dass diese noch einmal deutlich geringere Qualifikationen aufweisen und dass mehr als 71 Prozent weder eine Ausbildung noch ein Studium absolviert haben“.