An die roten Zahlen einiger Anbieter auf dem Integrationsmarkt hat sich Simone Sinz schon längst gewöhnt. "Gut wäre allerdings, wenn sie klar machen könnten, dass es sie in ein paar Jahren auch noch gibt", sagt die Beraterin von Pierre Audoin Consultants (PAC) in München, die gerade ihre alljährliche Snapshot-Studie über den deutschen Enterprise-ApplicationIntegration-Markt abgeschlossen hat. Branchenkenner nennen als Übernahmekandidaten die EAI-Spezialisten Mercator und Vitria. Auch Tibco schreibt rote Zahlen, steht durch die hohe Beteiligung des Informationsspezialisten Reuters allerdings auf stabilen Beinen. Trotz allem soll sich der Umsatz des EAI-Markts in Deutschland nach PAC-Angaben von jetzt 230 Millionen Euro innerhalb der nächsten vier Jahre verfünffachen.
Den Grund für die enormen Wachstumsraten von bis zu 55 Prozent in den kommenden zwei Jahren sieht Massimo Pezzini, Analyst der Marktforschungsgruppe Gartner, darin, dass CIOs das Thema bereits seit sechs Jahren in den Top 5 ihrer Agenda stehen haben. Das werde sich so schnell auch nicht ändern. Jahrelang habe man versucht, die Vielfalt der Systeme und Anwendungen zu begrenzen, so Pezzini. Jetzt heiße es: Diversity is a fact. "Damit muss man sich abfinden und Konzepte entwickeln, mit denen Anwendungen intern wie auch zu Kunden und Partnern integriert werden können."
Die Unsicherheit und der ständig drohende Wandel im Anbietermarkt produzieren jedoch in den Köpfen der IT-Entscheider einen Sinneswandel: "Früher standen große strategische EAI-Projekte mit unüberschaubaren und sehr teuren Einzelschritten im Vordergrund", sagt Sinz von PAC. "Jetzt sind kleine Projekte mit schnellem RoI gefragt." Auch Pezzini ist sicher: "Niemand will mehr den Big Bang. Unternehmen konzentrieren sich auf kleine Bereiche wie Support- und Beschwerdeprozesse oder Lieferkettenintegration und bestimmen dafür einen RoI." Was viele übersehen: Komplexe EAI-Plattformen kosten nicht nur mindestens 200000 Euro, sie haben so viele Funktionen, dass sich eine Serviceabteilung darum kümmern muss.
Trotz des derzeit unsicheren Markts bewertet Pezzini die Entwicklung positiv. So machten Firmen bei Integrationsprojekten meist gute Erfahrungen. Gegenüber der herkömmlichen Punkt-zu-Punkt-Architektur, bei der sich die Verbindungslinien zwischen den Anwendungen zu "Spaghettiknoten" verklumpen können, geht er von einem 25 bis 43 Prozent geringeren Programmieraufwand an den Schnittstellen aus. Daraus resultierten bis zu 30 Prozent geringere Kosten für die Integration.
Voraussetzung: Es herrscht eine klare EAI-Strategie. Doch das ist nicht die Regel. Der Hildener Mischkonzern 3M, Hersteller der Post-it-Zettelchen, verabschiedet gerade erstmalig eine einheitliche Integrationsstrategie. "Mit Webmethods werden wir die internen Geschäftsprozesse effektiver machen und die IT-Kosten senken", so Michael Tuennessen, IT-Spezialist von 3M Deutschland.
Manche Unternehmen wie die Hypo-Vereinsbank können sich derzeit noch nicht einmal für ein Produkt entscheiden. Zwischen Plattformen von IBM (Websphere) und Seebeyond schwankt die bayerische Bank hin und her. "Das ist typisch für Großunternehmen", weiß Richard Nußdorfer, Betreiber des EAI-Forums im Internet und Kopf der Unternehmensberatung CSA Consulting in München. Der bislang für EAI zuständige Direktor der Bank, Hans-Gert Penzel, hatt seinen Arbeitgeber Ende September verlassen. "Sie werden sicher verstehen, wenn ich das nicht weiter kommentiere", so Penzel auf Anfrage.
Einheitliches Konzept für die Deutsche Bank
Bei der Deutschen Bank sind zahlreiche EAI-Anwendungen im Einsatz. "Hier sind fast alle Topten-Vendors vertreten", sagt Stefan Gröger, bis vor kurzem Head of IT-Architecture und nun für globale IT-Lösungen im Geschäftsbereich Private Wealth Management zuständig. Das Großreinemachen der Deutschen Bank, bedingt durch das Outsourcing der Rechenzentren an IBM, ist in Zentraleuropa gerade abgeschlossen; jetzt denkt das größte deutsche Geldhaus über eine EAI-Konsolidierung nach. "Ein einheitliches Konzept entsteht gerade", so Gröger. "Ziel ist, nur noch maximal zwei Plattformen im Einsatz zu haben." Ein Baukastensystem soll entstehen, aus dem sich alle Geschäftsbereiche bedienen können. Flexibilität und Austauschbarkeit sind gefordert. "So können alle Geschäftsbereiche über eine einzige Schnittstelle auf Handels- und Verbuchungssysteme zugreifen", erklärt Gröger.
Diese Zielsetzung trifft sich mit der Devise, die Gartner ausgibt. "Standardisieren auf einer Plattform" steht bei den Analysten ganz oben auf der Agenda. So entschied sich Michael Neff, CIO der Heidelberger Druckmaschinen, Anfang 2002, die Seebeyond-Plattform für alle internen und externen Systeme einzusetzen - als Teil der zehn Millionen Euro teuren E-IT-Architektur. Die globalen Internetprojekte E-Shop, E-Selfhelp und E-Procurement hat er auf Basis der Integrationsplattform in jeweils sechs Monaten abgeschlossen. "Der Erstellaufwand für Interfaces ist um etwa 30 Prozent zurückgegangen", so Neff.
"Die Erfahrung hat gezeigt, dass eine Integrationsplattform im Unternehmen oft eine schöne Illusion ist", sagt Pezzini. In der Praxis wären die Erfordernisse der Geschäftseinheiten entscheidend für die Auswahl der sehr unterschiedlichen Produkte. Ein Mix aus zwei bis drei Anbietern aus dem High-End-Bereich wie Seebeyond, Tibco oder Vitria und dem Low-End-Bereich wie Capeclear, Entirex oder Microsoft (mit Bizz-Talk) sei daher empfehlenswert.
Eine Matrix schafft Übersicht
Es gibt also nicht die eine Anwendung für alle; wichtig sind flexible Komponenten, die eine Gesamtlösung ergeben. Sigurd Helling, Leiter des Bereichs DotnetLösungen des Microsoft-nahen IT-Dienstleisters Avanade, spricht von einem "Feature War". Jeder Anbieter von Integrationslösungen werde in einer Matrix erfasst und bewertet. Da werde schnell klar, dass etwa Microsoft nicht zwingend mit Tibco im Wettbewerb stehe. Helling führt seinen Kunden vor Augen, wie Unternehmen über Microsofts Integrationswerkzeug Bizz-Talk dynamisch auf SAP zugreifen sollen und welche Adapter dort problemlos angebunden werden können.
Beim Essener Logistikkonzern Schenker ist die Anbindung der Kooperationspartner ebenso wichtig wie die der Systeme aus der Branche. "EAI steht für den Datenaustausch zwischen den Transport- und Logistiksystemen, als Drehscheibe für die Informations- und E-Business-Systeme und als Schnittstelle zu Kunden und Partnern", erläutert EAI-Manager Thomas Endries. Die gewachsenen EDI-Datenaustauschnetze müssen bei Entscheidungen berücksichtigt werden. Deshalb arbeite man derzeit nicht nur mit einer Plattform, sondern setzte auch auf An-gebote von Axway und IBM; zudem seien Teillösungen anderer Hersteller im Einsatz.
Ein Schritt in die richtige Richtung sei die Einrichtung eines Kompetenzzentrums für Integration, sagt Pezzini. Ziel: Die Mitarbeiter (je nach Größe des Unternehmens 5 bis 130) sollen gemeinsam ein Integrationsdesign schaffen, die Anforderungen für das System erarbeiten, die Technik auswählen und eine Art Lager für bereits entwickelte Integrationskomponenten aufbauen. "Bei einem Finanzdienstleister lassen sich so die laufenden Kosten für Integrationsprojekte um 68 Prozent drücken", verspricht Pezzini. Auch der Sportartikelhersteller Adidas und die Züricher Bank Credit Swiss haben inzwischen ein solches Zentrum errichtet.
Die Integrationsentwicklung hat damit bereits mehrere Stufen hinter sich. Die erste: durch Investitionen in ERP-Systeme die Komplexität der Anwendungen reduzieren. Hier wurden die wichtigsten Betriebsdaten erstmals in standardisierter Form abgelegt. Parallel dazu existierten zahlreiche Punkt-zu-Punkt-Verbindungen, die die Systeme und Anwendungen einzeln miteinander verbanden. "Die kosten schon mal bis zu 60000 Euro", sagt Rainer Zinow, der bei SAP für die Integration zuständig ist und die Integrationsplattform Netweaver vorantreibt (s. auch S. 20). Dann folgte Ende der 90er der Trend hin zu den Spezialisten, die mit eigenen Standards den Versuch unternahmen, die Vielzahl der Systeme und Anwendungen miteinander korrespondieren zu lassen: riesige, komplexe Integrationen also, "all to the box" genannt - ein Kasten, an den möglichst alle Systeme und Anwendungen andocken, um über eine Vermittlungsschicht miteinander zu arbeiten. Heute heißt es realistisch: Sämtliche Systeme, von Legacy-Systemen bis hin zu ".Net"-Architekturen, haben eine Lebensberechtigung; sie kommunizieren miteinander über offene Standards.
Generalisten wie Bea und Microsoft greifen immer stärker in den Markt ein. Auch der lange Zeit auf Abschottung gegenüber der Konkurrenz bedachte Softwareriese SAP versucht hier mitzuhalten. Und nicht nur das: Etwa 20 bis 30 Prozent der Marktanteile sollen die Walldorfer nach Analystenmeinung in den nächsten Jahren auf dem Integrationsmarkt gewinnen können. Und auch wenn SAP ähnlich wie die anderen Generalisten den EAI-Spezialisten unterlegen ist, stehen die Softwarekonzerne insgesamt sicherer im Markt. "Sie haben zwar noch nicht die ausgefeilte Technik der Spezialisten", sagt Gartner-Analyst Pezzini. "Doch sie haben ganz sicher den längeren Atem."
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