Das derzeit wohl heißeste Thema im Networking-Geschäft ist die Idee (oder Vision?) des Software Defined Networking (SDN). Wird SDN so umgesetzt, wie propagiert, könnte es die Branche gleich in zweifacher Hinsicht revolutionieren: Zum einen hat SDN das Zeug, wie damals VoIP in der TK-Welt, einige große etablierte Netz-Player vom Markt zu fegen, falls sie das gleiche Beharrungsvermögen an den Tag legen wie damals die TK-Ausrüster. Zum anderen werden die Corporate Networks nicht mehr viel mit heutigen Netzen gemeinsam haben, wenn SDN in den Unternehmen wirklich gelebt wird - für Netzwerker könnte SDN ähnliche Umwälzungen bedeuten, wie die Cloud in anderen IT-Bereichen.
Wir haben namhafte Hersteller aus verschiedenen IT-Marktsegmenten nach ihrer Einschätzung des Themas sowie ihrere SDN-Strategie befragt.
Wofür steht SDN?
SDN ist die Abkürzung für Software Defined Networking oder Software Defined Networks und bedeutet einen gravierenden Paradigmenwechsel im Networking. Im Vergleich zu herkömmlichen Netzwerk- und Switching-Architekturen weisen Software Defined Networks einige Besonderheiten auf. Die gravierendste ist die Trennung der Control Plane von der Data Plane beziehungsweise Forwarding Plane auf Layer 2 und 3 von Switches und Routern, also die Separierung von Kontroll- und Datenpfad.
Die Control Plane ist für die Konfiguration eines Switchs beziehungsweise Routers zuständig, außerdem für das Programmieren der Pfade, über die Daten transportiert werden. Bei SDN wird die Control Plane gewissermaßen aus Switches und Routern extrahiert und in ein separates System verlagert - den SDN-Controller. Damit steht in der Theorie einer Virtualisierung des Netzes nichts mehr im Wege.
Was bringt SDN für den Anwender?
Thorsten Leyh, Director Datacenter Business Development bei Alcatel-Lucent Enterprise: In modernen Rechenzentren sind Beweglichkeit und ein hohes Maß an Automatisierung gefragt, um die Bereitstellung von Applikationen zu optimieren. Voraussetzung dafür ist eine von Ende-zu-Ende durchgängig koordinierte, virtuelle Infrastruktur. Das ist die Aufgabe von "Software Defined Networking" (SDN). Damit bringen Unternehmen Netzwerk und Applikationen zusammen!
Kay Wintrich, Leiter Borderless-Networks-Architektur bei Cisco: Der Ansatz Software Defined Networks ermöglicht die zentrale Steuerung aller Netzwerkkomponenten mit der Möglichkeit, Änderungen automatisieren zu können. Damit lassen sich Netzwerkresourcen besser virtualisieren und deutlich schneller an geänderte Lastsituationen anpassen. Über definierte API’s in allen Netzwerkkomponenten besteht die Möglichkeit, aus Softwareanwendungen heraus selbst die benötigte Dienstqualität im Netzwerk zu beeinflussen. Das Netzwerk wird dadurch mehr anwendungszentrisch und flexibler für die unterschiedlichen Anforderungen vieler Applikationen.
Andreas Falkner, Sales Engineering Director EMEA, Dell Enterprise Solutions, Networking: Die Netzumgebungen in den Unternehmen wurden in den letzten Jahren immer komplexer und damit zum Teil auch fehleranfälliger. Hier setzt SDN mit dem Ziel an, die Komplexität zu reduzieren. Ein flexibles Modell mittels einer Abstraktionsebene sorgt für Unabhängigkeit von der darunterliegenden Hardware. Unternehmen können sich so schrittweise von proprietären Lösungen trennen, während gleichzeitig die CAPEX-Ausgaben und die Betriebskosten reduziert werden.
Axel Simon, Program Manager HP Networking: Der größte Vorteil, den SDN Anwendern bietet, liegt in der Automatisierung bei der Provisionierung von Netzwerken. Gegenüber der händischen Konfiguration spart dies viel Zeit und Aufwand. Gleichzeitig kann so die Fehlerquote gesenkt werden, was die Effizienz nochmals steigert. Das OpenFlow-Protokoll trennt Daten- und Steuerungsebene, so dass Datenströme nicht mehr an die Hardware-Konfiguration geknüpft sind. Das erlaubt zunehmend lösungsorientierte Funktionen von Netzwerken, die für Applikationen optimiert werden können.
Tom Schwaller, Linux IT Architect IBM System Networking: Der Anwender profitiert von flexibleren, besser ausgelasteten und in Cloud-Werkzeuge (etwa OpenStack) integrierbare virtualisierte Netzwerke. Längerfristig erhält er die Möglichkeit, Netzwerke anhand der Anforderungen von Anwendungen (beispielsweise mehr Backup-Performance für einzelne Mandanten) dynamisch erstellen zu können (Application Driven Networking). OpenFlow-basierte Netze können eine deutlich bessere Auslastung des Netzwerks erzielen und beheben die Probleme mit Spanning Trees und Netzwerk-Schleifen. Overlay-Netze ermöglichen die Live-Migration von virtuellen Maschinen über RZ-Grenzen hinweg. Beide Ansätze heben die VLAN-Beschränkungen auf und mehrere Millionen Mandanten sind möglich.
Mike Marcellin, Senior Vice President Platform Systems Division, Juniper Networks: Ziel ist es, Netzwerke einfacher, flexibler und kosteneffizienter zu gestalten, ohne die Geschäftsanforderungen zu vernachlässigen. Mit Hilfe von SDN sind die Betreiber in der Lage, Netzinfrastrukturen zu errichten, die einfach und flexibel in der Handhabung und Verwaltung sind. Durch eine einheitliche Steuerungsebene sowie Netzwerk- und Service-Virtualisierung können Netzwerkdienste konsolidiert werden, ohne Leistung oder Funktionalität einzubüßen. Flache und flexible Netzwerke erlauben den Anwendern zudem, neue Dienste und Applikationen schneller zu entwickeln und zur Verfügung zu stellen.
Frank Kölmel, Senior Director für die Region EMEA-EAST bei Brocade: Heutige Netze sind schwer zu skalieren, zeit- sowie ressourcenintensiv und unterstützen oftmals keine flexiblen Anwendungen. Software-Defined Networking ist ein innovatives Konzept mit dessen Hilfe Unternehmen ihr Netz effizienter gestalten und verwalten können. Hard- und Software werden logisch voneinander getrennt, so dass Switche und Router nicht länger das Netzwerk steuern. Das Netzwerk wird virtualisiert und kann von jedem Standort aus bearbeitet werden. Somit ermöglicht SDN mehr Zugangskontrolle und unternehmerische Transparenz - nach innen sowie nach außen. Dies gibt IT-Administratoren die Möglichkeit Netzprobleme viel zielgerichteter und ortsunabhängiger anzugehen und zu beheben.
Ab wann sollte sich ein Entscheider mit dem Thema SDN beschäftigen?
Thorsten Leyh, Alcatel-Lucent: Jetzt! Denn die Virtualisierungseffekte in einem Rechenzentrum lassen sich nur dann vollständig nutzen, wenn auch das Netzwerk mit einbezogen wird. Lediglich die vollständige Integration der Netzkomponenten bringt die von den Hypervisor-Herstellern versprochene Flexibilität, Stabilität und die damit verbundene Hochverfügbarkeit. Ein wichtiges Element sind dabei standardisierte Schnittstellen zwischen Applikationen und Netzwerk, um die Kluft zwischen den bislang isoliert agierenden Welten zu überbrücken. SDN kann diese Brücken bauen.
Kay Wintrich, Cisco: IT-Entscheider sollten sich schon heute mit SDN auseinandersetzen. Denn jedes größere Unternehmen benötigt individuelle Infrastrukturlösungen, um im Wettbewerb erfolgreich zu bestehen. Daher sollten sie in den kommenden Jahren eine Programmierebene einführen, damit sie Protokolle, Routing-Anweisungen, Richtlinien oder Analysen flexibel ändern können. Und bei einer größeren Nutzungsrate dürften schnell Entwicklungs-Tools mit einfacher nutzbaren grafischen Oberflächen bereitstehen.
Andreas Falkner, Dell: Mit der Implementierung von OpenFlow im aktuellen Betriebssystem unserer Switches haben wir die Machbarkeit von SDN belegt. Einige Kunden setzen SDN- Installationen bereits im Private-Cloud-Umfeld ein. In den nächsten Monaten werden vor allem im akademischen Umfeld und bei Cloud-Providern vermehrt SDN-Lösungen installiert. Auch die ‚Early Adopter‘ unter den Enterprise-Unternehmen werden noch in diesem Jahr erste SDN-Implementierungen realisieren. Deshalb sollten sich Anwender bereits heute mit der SDN-Technologie vertraut machen.
Axel Simon, HP Networking: Angesichts der großen Vorteile, die SDN Anwendern bietet, empfehle ich IT-Entscheidern, sich möglichst bald damit zu beschäftigen - falls nicht schon geschehen. Bei HP ist SDN bereits seit 2007 als Teil unserer Converged Infrastructure ein Thema. Die meisten unserer Netzwerk-Switch-Serien sind mittlerweile OpenFlow-kompatibel. Zudem haben wir im Oktober ein neues Channel-Programm speziell für SDN aufgelegt, das Partnern noch mehr Expertise in SDN-Architekturen und -Produkten an die Hand gibt
Tom Schwaller, IBM: 2013 ist das Jahr für Proof of Concepts. Firmen, die an die Grenzen heutiger Netz-Technologie stoßen, sollten die vorhandenen SDN-Technologien evaluieren. Und IT-Entscheider, sie sich heute mit Cloud-Themen befassen, müssen sich auch mit dem Thema SDN auseinandersetzen. Overlay-Netze werden durch die Integration in Standard-Virtualisierungslösungen in den nächsten zwei Jahren omnipräsent sein. Eine frühzeitige Beschäftigung mit dem Thema ist deshalb sinnvoll.
Mike Marcellin, Juniper Networks: SDN sorgt für eine große Veränderung innerhalb der Netzwerkbranche. Wir sind überzeugt, dass die Auswirkungen von SDN signifikant sein werden. Außerdem glauben wir, dass es noch etwas Zeit braucht, bis der Einfluss von SDN vollständig sichtbar wird. Die meisten unserer Kunden entdecken bereits heute neue Möglichkeiten und testen neuartige Technologien.
Frank Kölmel, Brocade: Software-Defined Networking ist keine Zukunftsmusik. Diese Musik spielt schon längst in den heutigen Netzwerken. Zunächst war es ein Modewort - heute ist SDN ein ernst zu nehmendes Konzept, das eine Lösung für praktische Probleme darstellt. "5 vor 12" ist es vielleicht noch nicht ganz, allerdings werden sich Lösungen wie "Big Data" oder "Virtual Data Center" nur mit SDN Technologien effizient implementieren und managen lassen. Die Devise für IT-Entscheider sollte deshalb lauten: Vorausschauend handeln, technologische Herausforderungen berücksichtigen und kluge Investitionen tätigen. (Computerwoche)