Es war ein Beben, wie es selten vorkam in der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Am 18. September 2015 schickt die kalifornische Umweltbehörde CARB einen Brief an die US-Vertretungen des VW-Konzerns. Auf den ersten Blick wirkt das Schreiben technisch, relativ unscheinbar. Doch es tritt einen der größten internationalen Industrieskandale mit Ursprung in der Bundesrepublik los.
"VW muss sofort Gespräche anstoßen, um angemessene Korrekturmaßnahmen zu beschließen", fordert Annette Hebert, Leiterin der Abteilung zur Überwachung von Abgasvorschriften. Eine aufgedeckte "Nichteinhaltung" von Emissionsregeln bei Dieselautos der Deutschen solle so rasch wie möglich "richtiggestellt" werden. Die Aufseherin schließt ihre knapp dreiseitige Zuschrift - mit Durchschlägen an Kollegen der nationalen Umweltbehörde EPA - in einem zunächst noch recht versöhnlichen Ton: "Wir erwarten von VW volle Kooperation bei dieser Untersuchung, damit diese Angelegenheit zügig und sachgerecht angegangen werden kann."
Was dann binnen weniger Tage folgt, sprengt die Vorstellungskraft vieler - auch mächtiger Automanager, die sich lange für unangreifbar hielten. Volkswagen scheint auf dem Zenit: Milliardengewinne, über Jahre eine Jobmaschine, nur noch knapp hinter Toyota zweitgrößter Autokonzern der Welt, strotzend vor Selbstbewusstsein. Aber schon bald steht Europas größtes Unternehmen mit dem Rücken zur Wand.
Eine Betrugsstrategie mit dramatischen Folgen
Der jähe Absturz wird ausgelöst durch systematische Manipulationen von Schadstoffwerten, die man sogar nach zwischenzeitlichen Rückrufen in den USA zu vertuschen versuchte. Dabei war der Verdacht früh in der Welt. Nur bei Tests sorgt ein versteckter Software-Code dafür, dass giftige Stickoxide (NOx) so stark entfernt werden wie in den Papieren angegeben. Im Straßenbetrieb, wenn kein Prüfer hinschaut, blasen die Dieselwagen dagegen ein Vielfaches der Menge in die Luft.
"Während eines Treffens am 3. September 2015 gab VW gegenüber CARB und EPA zu, dass diese Fahrzeuge mit einem "defeat device" entwickelt und gefertigt wurden, das Teile des Abgaskontrollsystems umgehen sollte", so die Erkenntnisse der Behörden. Jedes "so ausgestattete Fahrzeug" verstoße gegen amerikanisches Bundes- und Landesrecht.
Großangelegter Betrug also, der drastische Konsequenzen für die gesamte Autobranche haben sollte. Auch wenn VW bis heute die einzige Firma ist, die von sich aus gezielte Täuschungen einräumte - wobei manch einer im Konzern das generelle Eingeständnis für verfrüht hielt und individuelle Schuldfragen noch immer die Justiz beschäftigen: Es war eine Zäsur für alle. Daimler, BMW, Opel, Fiat, Mitsubishi - sie und andere sahen sich Vorwürfen gegenüber, in der Schadstoffreinigung zumindest mit faulen Tricks und in rechtlichen Grauzonen zu arbeiten.
Zweiklassen-Entschädigung USA/Europa
Zum wachsenden Misstrauen kam ein als unwürdig empfundener Umgang mit den Kunden. Das Image des "sauberen Diesels", wie der Selbstzünder in den Vereinigten Staaten beworben wurde, war dahin. Während Volkswagen US-Verbraucher auf Druck der Justiz bald entschädigte und dort auch strafrechtlich gegen Verantwortliche vorgegangen wurde, dauerte das in Europa sehr lange. Und Hunderttausende Beschäftigte des inzwischen global umsatzstärksten Autokonzerns zeigten sich tief verunsichert.
Heute mögen Viele im Unternehmen davon am liebsten nichts mehr hören. Man habe seine Lektion gelernt, heißt es. Etliche sind genervt davon, das Thema - bei aller mutmaßlichen Verantwortung einer eingegrenzten Gruppe - immer wieder vorgesetzt zu bekommen. Die finanziellen Folgen halten indes auch fünf Jahre nach dem Auffliegen von "Dieselgate" an: Rund 32 Milliarden Euro an Rechtskosten hat der Skandal bei VW und Töchtern wie Audi, Porsche, Seat oder Skoda bisher verschlungen.
Ab dem 20. September 2015 geht es Schlag auf Schlag. Die Wolfsburger müssen nach mehreren internen Sitzungen und Rückkoppelungen mit den US-Behörden öffentlich "Manipulationen" an Dieselmotoren einräumen. Kurz darauf tritt der bis dato ebenso geachtete wie gefürchtete Chef Martin Winterkorn - qualitätsversessener "Mr. Volkswagen" - zurück. In seiner Abschiedserklärung ist er sichtlich angegriffen, übernimmt die Verantwortung, ist sich aber "keines Fehlverhaltens bewusst".
Spätes Erwachen, vergeudete Milliarden
Erste größere Summen werden zurückgestellt, auch wichtige Zulieferer beginnen zu bangen. Der Diesel scheint bei weltweit mindestens elf Millionen frisierten Abgassystemen wenigstens außerhalb Europas keine Zukunft zu haben. Rückrufe von Millionen Exemplaren mit älteren Antrieben bei VW, Audi, Skoda und Seat laufen nur schleppend an. Mit minus 1,6 Milliarden Euro steht 2015 für den bislang größten Verlust in der VW-Geschichte, eingebrockt vom Skandal-Motor EA 189.
Inzwischen haben sich die Verkäufe erholt, die Gewinne kehrten zurück - jedenfalls bis zur Corona-Krise. Doch das viele verbrannte Geld hätte man gut für den radikalen Umbau gebrauchen können, den sich VW auferlegt hat. Elektromobilität, Vernetzung, Automatisierung, Dienstleistungen sind die Schlagworte. Auf allen vier Feldern, die die neue Autowelt bestimmen, kam der Konzern erst recht spät in die Spur. Noch ist der US-Rivale Tesla teilweise meilenweit in Führung.
Dies könnte am Ende die "positive" Seite der Dieselkrise sein: Das schmutzige Erbe der falschen Abgaswerte bereitete letztlich auch den Boden für einen Neubeginn, sagen Branchenkenner. Wie viele Verbrenner lassen sich in Zeiten absetzen, in denen Klimadebatte und potenzielle Milliardenstrafen bei zu hohen Emissionen immer wichtiger werden, in denen weitere Fahrverbote drohen, in denen junge Leute das Auto nicht mehr als Statussymbol sehen? Für das Anpacken vernachlässigter Themen war "Dieselgate" der Beschleuniger - ein Katalysator im Wortsinn.
Neues Selbstvertrauen und "überehrgeizige Vorstände"
Nun geht der Blick nach vorn. In diesen Tagen startet VW den Verkauf des ID.3 - erstes Modell einer neu entwickelten, elektrischen Reihe, die den Konzern in die Zukunft führen soll. Mindestens 33 Milliarden Euro fließen bis 2024 in den Ausbau des E-Auto-Angebots. Für die Digitalisierung werden ebenfalls Milliarden mobilisiert. Obschon Geld allein nicht alle Schwächen und Verzögerungen bei komplexen Systemen ausgleichen kann, wie der holprige Anlauf des Golf 8 gerade zeigte.
Das Auftreten nach außen ist heute demonstrativ bescheidener. Profitgier und Selbstherrlichkeit kennzeichneten das "System Wolfsburg" lange für so manchen Beobachter. Einen Kulturwandel sollte bereits Winterkorns Nachfolger Matthias Müller in Angriff nehmen, mit eher durchwachsenem Erfolg. Der jetzige Chef Herbert Diess öffnet sich kommunikativ, immerhin gegenüber seinen Fans in den sozialen Netzwerken. Intern bleibt bisweilen jedoch einiges im Unreinen.
Viele Mitarbeiter waren von Diess' hochgesteckten Vorgaben irritiert, während sie sich mit dem Produktionsstress beim Kernmodell Golf allein gelassen fühlten. Betriebsratschef Bernd Osterloh schäumte: "Hier wollten überehrgeizige Vorstände zu schnell zu viel Technik in ein Fahrzeug stopfen." Im Aufsichtsrat kam es zwischen den beiden hart auf hart. Inzwischen wurden die Wogen - offiziell - geglättet.
An der juristischen Front kehrt zwar noch keine Ruhe ein. Doch manche Bereiche scheinen ansatzweise abgearbeitet. In den USA bekannte sich VW gegenüber der Regierung schuldig, einige Ermittlungen endeten sogar mit Haftstrafen für Manager. Die meisten Entschädigungen für Kunden, Händler und Behörden sind durch. Rund eine Viertelmillion Dieselfahrer bekamen auch hierzulande Schadenersatz, Einigungen mit 50 000 Einzelklägern werden in den nächsten Monaten erwartet.
Wird Winterkorn verurteilt oder nicht?
Anders sieht es in Deutschland bei der strafrechtlichen Aufarbeitung aus. Den Vorwurf der Marktmanipulation - hier: einer verspäteten Mitteilung der Diesel-Risiken an die Finanzwelt - konnten Diess sowie der bei Krisenbeginn amtierende Finanz- und heutige Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch formal aus der Welt schaffen, jedoch nur durch einen umstrittenen Deal mit der Staatsanwaltschaft Braunschweig. Über die gegen Winterkorn erhobene Anklage ist noch nicht entschieden.
Das weitaus größere Verfahren gegen den Ex-VW-Chef und vier weitere Führungskräfte soll dagegen bald anlaufen. Sie erwartet ein Prozess wegen gewerbs- und bandenmäßigen Betrugs mit vielen Tagen auf der Anklagebank. In den USA wurde gegen Winterkorn auch ein Haftbefehl erlassen. Davon unberührt sind die Gerichtsverfahren, in denen Anleger Schadenersatz von VW wegen Aktienkurs-Verlusten verlangen.
In Stuttgart gab es ebenso Ermittlungen. In München wird Ex-Audi-Chef Rupert Stadler und weiteren Angeklagten Betrug, Falschbeurkundung sowie strafbare Werbung zur Last gelegt. Wer wann was genau wusste über die Planung und Umsetzung, bleibt in vielen Punkten bis heute ungeklärt. Um den ominösen "Schadenstisch" am 27. Juli 2015, bei dem neben Winterkorn auch der damals neue VW-Markenchef Diess anwesend war, ranken sich allerlei Gerüchte und widersprüchliche Aussagen.
Nach der Krise ist vor der Krise
Eigene Verfahren in der Dieselaffäre in den USA will nun auch Daimler mit zwei Vergleichen in Milliardenhöhe beilegen. Ermittlungen laufen darüber hinaus bei Zulieferern wie Continental, der Konkurrent Bosch musste ein Bußgeld zahlen. Gegen BMW und Opel gibt es ebenfalls Dieselklagen von Kunden. Und auf europäischer Ebene bahnt sich ein Grundsatzstreit darüber an, ob Hersteller generell die Abgasreinigung innerhalb bestimmter Bereiche ("Temperaturfenster") drosseln dürfen.
Mit Corona und dem enormen Nachfrageausfall beherrscht nun eine ganz andere, womöglich noch gefährlichere Krise die Branche - ausgerechnet in einer Zeit, in der im schlimmsten Fall Hunderttausende Jobs schon wegen des Strukturwandels bedroht sind. Ob und wie gut es VW gelingen wird, sich in dieser Gemengelage mit den Diesel-Altlasten im Gepäck neu zu erfinden, werden wohl erst die nächsten Jahre zeigen. (dpa/ad)