Früher, als das Osmanische Reich allmählich verfiel, sprach man in Europa vom „kranken Mann am Bosporus“. Heute, im Sommer nach der südeuropäischen Schuldenkrise, scheint ganz Euro-Land krank zu sein, während am östlichen Rand des Kontinents ein junges Kraftzentrum entsteht. Die Lektüre der aktuellen Forrester-Erhebung zum weltweiten IT-Markt mit relativ bescheidenen Zahlen für das „alte Europa“ gibt solchen Gedanken jedenfalls Nahrung – zumindest auf den ersten Blick.
Analyst Andrew Bartels berichtet als Autor der Studie von furiosen Zahlen aus den USA auch im kommenden Jahr und von positiven Entwicklungen überall sonst auf der Welt – außer in hiesigen Gefilden. Die singulären Schuldensorgen bescherten West- und Mitteleuropa die niedrigste in US-Dollar gemessene Wachstumsrate, schreibt Bartels.
In Zahlen heißt das, Währungsschwankungen miteingerechnet: in diesem Jahr ein Zuwachs der IT-Ausgaben von Firmen und Regierungsorganisationen von bescheiden 2,2 Prozent gegenüber 9,9 Prozent in den USA oder 8,7 Prozent in Lateinamerika; 2011 in West- und Mitteleuropa 7,4 Prozent – zu vergleichen mit 8,1 Prozent in den USA und 13,2 Prozent in Lateinamerika.
Den europäischen IT-Anbietern empfiehlt Forrester da nachdrücklich, sich in Richtung der neuen Märkte in Osteuropa und im Mittleren Osten oder in die ebenfalls stärker wachsende Region Asien-Pazifik zu orientieren. Denn der Heimatmarkt gebe offenbar wenig her, und auf nordamerikanischem Terrain sei für Auswärtige schwer zu bestehen.
Ein genauerer Blick ins Zahlenmaterial von Forrester zeigt aber, dass es auch für den europäischen IT-Markt mitnichten nur Grund für düstere Gedanken gibt. Zwar läuft die Erholung von der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise in diesem Jahr nirgendwo so schleppend an wie in der Eurozone plus Großbritannien. Dafür war der Einbruch 2009 mit einem Minus von 4,8 Prozent auch weniger dramatisch als anderswo – in den USA beispielsweise rutschte der Markt um 7,9 Prozent ab.
Lokomotive USA zieht mächtig an
Im kommenden Jahr werden in West- und Mitteleuropa laut Forrester-Prognose 297 Milliarden Dollar für IT ausgegeben – mehr als 2008 und absolut betrachtet mehr als seit vielen Jahren. Die Wachstumsrate von 7,4 Prozent ist zwar im globalen Vergleich, der auch recht winzige Entwicklungsmärkte umfasst, gering. Auf lange Sicht betrachtet erweist sie sich als so hoch wie lange nicht mehr: 2006 und 2007 lag sie bei 5,3 und 5,9 Prozent.
Der Raum Asia Pacific glitt zwar recht schadlos durch die Krise und gibt in diesem Jahr 7,2 Prozent mehr für IT aus als 2008, hat angesichts schwacher IT-Wachstumsraten in den Jahren davor aber auch größeren Nachholbedarf.
Dass der US-amerikanische IT-Markt jetzt erst einmal davonzieht, kann man auch als Mutmacher interpretieren. Die Lokomotive für die Konjunktur im Markt sind zwar die Vereinigten Staaten – aber immerhin gibt es eine, die auch den Rest mitzieht. Die weltweiten IT-Ausgaben steigen laut Forrester von 1,367 Billionen Dollar in diesem Jahr auf 1,485 Billionen in 2011. Nach einem Rückgang um 5,6 Prozent im vergangenen Jahr bedeutet das Wachstumsraten von 7,3 und 8,6 Prozent, angetrieben von den USA mit von 564 auf 609 Milliarden Dollar steigenden Ausgaben für die IT.
Hinter diesem positiven Trend stehen nach Einschätzung von Bartels zwei Ursachen. Erstens erholt sich die US-Wirtschaft insgesamt rasant, das Bruttoinlandsprodukt legt im Verlauf des Jahres um mehr als 3,5 Prozent zu und wächst 2011 noch schneller. Zweitens sei ein neuer Technologie-Zyklus angebrochen. Smart Computing erweist sich demnach über Jahre hinweg als Treiber für hohe Investitionen in die IT.
Der Rest der Welt folgt diesem Pfad mit unterschiedlichem Tempo – und Europa bleibt unter anderem wegen der von Griechenland ausgehenden Schuldenkrise wohl am längsten auf der Bremse. „Auch die Unlust Deutschlands, als Motor für eine steigende Konsumentennachfrage zu dienen, trug zur geringen Geschwindigkeit der Genesung Europas bei“, kritisiert Bartels.
Größter Sprung beim Outsourcing
Angesichts eines gesamtwirtschaftlichen Wachstums von unter 3 Prozent sei der Zuwachs des IT-Marktes in West- und Mitteleuropa dann sogar „überraschend hoch“, konstatiert der Forrester-Analyst – gemessen in Euro liegt sie in diesem Jahr schon bei 4,1 Prozent. Der Grund dafür sei, dass die Unternehmen in Großbritannien und Skandinavien ähnlich investierten wie jene in den Vereinigten Staaten und dies schwerer wiege als rückläufige Tendenzen im gebeutelten Südeuropa.
Berechnet in Euro verläuft die Erholungskurve des Patienten europäische IT sowie erfreulicher als in der schon genannten Dollar-Rechnung. Dem Rückgang um 7,6 Prozent 2009 folgt schon in diesem Jahr ein Plus von 4,1 Prozent. Für 2011 sagt Forrester einen Zuwachs von 6,8 Prozent voraus. Demnach klettern die IT-Ausgaben in West- und Mitteleuropa von 280 Milliarden Euro 2009 über die Marke 292 Milliarden Euro in diesem Jahr auf 311 Milliarden in 2011.
Den größten Sprung gibt es beim IT-Outsourcing: von 3,2 Prozent auf 10,7 Prozent im kommenden Jahr. Der 2009 schwer eingebrochene Markt für Rechner und periphere Geräte (-13,1 Prozent) zeigt sich mit Plus 7,4 Prozent schon in diesem Jahr gut erholt. Diese Entwicklung flaut 2011 etwas ab (+6,6 Prozent). Für Software geben die west- und mitteleuropäischen Firmen und Regierungen im kommenden Jahr voraussichtlich 68 Milliarden Euro aus. Damit ist das Niveau des Jahres 2008 mit 67 Milliarden sogar übertroffen – nach Rückgängen auf 61 und 64 Milliarden 2009 und 2010.
Für die Studie „US And Global IT Market Outlook: Q2 2010“ analysierte Forrester Daten von 52 IT-Anbietern weltweit.