Diversity

Generation 50+ startet die dritte Karriere

14.03.2013 von Liane Borghardt
Als Senior-Experte nach Indien, zum berufsbegleitenden Zweitstudium an die Uni, vom Fließband an die Sprossenwand: Weil der Anteil älterer Mitarbeiter in den Unternehmen wächst, müssen Personaler neue Wege gehen, um die Arbeitskraft der Generation 50plus für ihre Unternehmen möglichst lange zu erhalten.

Temperaturen von bis zu 37 Grad Celsius, fast täglich heftige Monsunregen, auf den Straßen ein Höllenverkehr: Bangalore, mit mehr als acht Millionen Einwohnern Indiens drittgrößte Metropole, ist ein heißes Pflaster. Zwei Wochen schuftete Wilhelm Dieter im dortigen Bosch-Werk, in dem der schwäbische Technologiekonzern etwa Zündkerzen und Anlasser produziert, und tüftelte mit seinen indischen Kollegen an der Verbesserung der Produktionsabläufe. Ende Januar 2013 ist der nächste Einsatz schon fest eingeplant.

Dieter ist 65, war vier Jahrzehnte für Bosch als Prozessberater in den Bosch-Fabriken in der ganzen Welt unterwegs. Immer noch weiter arbeiten, obwohl er vor zwei Jahren offiziell pensioniert wurde? Eine Frage, die sich der Ingenieur nie gestellt hat.

"Jetzt hast du das so lange gemacht, und nun sollst du das alles zum Fenster rauswerfen?", fragte sich Dieter stattdessen und ließ sich in die Experten-Kartei der Bosch Management Support GmbH (BMS) aufnehmen. Das Konzept der Konzerntochter: Frühere Bosch-Beschäftigte vom Meister bis zum Manager springen ein, wenn es Engpässe gibt - ob bei der Qualitätssicherung einer neuen Produktionsstätte in China, dem Aufbau einer Personalabteilung in Vietnam oder eben der Optimierung von Produktionsabläufen in Indien. 13 Mal war allein Dieter seit seiner Pensionierung im Einsatz, darunter acht Mal in Indien und drei Mal in der Türkei.

Was erfolgreiche Unternehmen für ihre Mitarbeiter
26,4 Prozent bieten ...
... ihren Mitarbeitern an, ihre Führungskräfte zu analysieren.
37,1 Prozent analysieren ...
... Mitarbeiterpotenziale.
51,8 Prozent haben ...
... ein Qualitätsmanagement.
51,9 Prozent bilden ...
... innerbetriebliche Arbeitskreise.
53,5 Prozent fragen ...
... Mitarbeiterzufriedenheit regelmäßig ab.
54,0 Prozent ermöglichen ...
... eine hierarchieübergreifende Teilnahme an Vorstandssitzungen.
63,3 Prozent binden ...
... Mitarbeiter und helfen diesen bei der Weiterentwicklung.
65,4 Prozent vergüten ...
... leistungsorientiert.
66,2 Prozent unterstützen ...
... Arbeitszufriedenheit.
69,9 Prozent fördern ...
... Ideen von Mitarbeitern.
72,3 Prozent berücksichtigen Bedürfnisse von Familien
Befragt wurden 1853 Personalverantwortliche von erfolgreichen (gemessen an Umsatz und Beschäftigungsentwicklung 2007-2012) Unternehmen. (Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft Köln)

Von einer "dritten Karriere" spricht Alfred Odendahl, Geschäftsführer des konzerneigenen Beratungsunternehmens. Der 66-Jährige ist mit über 30 Jahren Betriebszugehörigkeit ebenfalls ein "alter Boschler". Statt sich zur Ruhe zu setzen, leitet er nun in Teilzeit zusammen mit einem Kollegen die BMS. Rund 1400 Senior-Berater im Alter zwischen 60 und 75 Jahren arbeiten hier mittlerweile, zuletzt unterstützten sie mit ihrer Expertise mehr als 900 Projekte im In- und Ausland.

Jugendwahn ist vorbei

Vor ein paar Jahren wäre ihr Berufsleben wohl längst beendet gewesen. Doch statt Mitarbeiter mit Ende 50 in Altersteilzeit oder Vorruhestand abzuschieben, gilt es, sie künftig bis zur Rente mit 67 oder darüber hinaus möglichst fit und motiviert zu halten. Der Jugendwahn ist in deutschen Personalabteilungen vorbei - einfach, weil es nicht genug Junge gibt. Galten bereits über 40-Jährige noch vor zehn Jahren auf dem Arbeitsmarkt als schwer vermittelbar, bleibt Unternehmen nun gar nichts anderes übrig, als auf die Älteren zurückzugreifen.

Versandhändler Otto beispielsweise holt seine Ruheständler zurück, um, so der Konzern, "Lücken in Arbeitsprozessen zu schließen". Auch ABB, Daimler oder VW setzen Ex-Mitarbeiter weiter ein - von komplexen Beratungsprojekten bis zur Werksführung.

60 Prozent der über 50-jährigen arbeiten

Die Fakten sprechen für sich: Im Jahr 2000 waren laut Eurostat nur 37 Prozent der 55- bis 64-Jährigen erwerbstätig. Inzwischen ist die Beschäftigungsquote der Älteren auf knapp 60 Prozent gestiegen. Und die Relation zwischen Alt und Jung verschiebt sich weiter. In acht Jahren wird jeder dritte Erwerbstätige über 50 Jahre alt sein.

So stellt sich die viel beschworene Vielfalt von Mitarbeitern mit verschiedenen Erfahrungshintergründen, neudeutsch Diversity, infolge des demografischen Wandels und des daraus resultierenden Fachkräftemangels von selbst ein. Was nach modischem Schlagwort klingt, ist "nicht nur in den PR-Abteilungen verankert, sondern längst in der Geschäftsführung angekommen", sagt Jutta Rump, Professorin für Personalmanagement und Organisationsentwicklung an der Hochschule Ludwigshafen.

Und zwar aus betriebswirtschaftlichem Kalkül. Nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft wird das Bruttoinlandsprodukt demografiebedingt ab dem Jahr 2020 jährlich um etwa 0,5 Prozent weniger wachsen. Andererseits ließe sich fast die Hälfte dieser Verluste ausgleichen, indem ältere Erwerbstätige länger im Arbeitsleben gehalten würden.

Allerorten stellen Unternehmen sich deshalb darauf ein. Legen neue Programme für Gesundheit und Weiterbildung älterer Mitarbeiter auf, variieren herkömmliche Karrierewege und Arbeitszeitmodelle mit Blick auf deren Bedürfnisse. Die Deutsche Bahn etwa setzt auf flexiblere Arbeitszeiten: Kollegen über 60, die jahrelang in Wechselschichten oder Nachtdienst gearbeitet haben, sollen ihre Einsatzzeit um 20 Prozent reduzieren können, bei teilweisem Lohnausgleich. Für Jüngere wiederum soll es mehr Anreize geben, sogenannte Langzeitkonten zu nutzen, um schon vor dem Renteneintritt kürzertreten zu können.

Gesundheitstest und Sport

Glasproduzent Schott begegnet dem Alterungsprozess unter anderem mit einem Gesundheitstest für Mitarbeiter über 45 Jahren; dank der Vorsorge sei der Krankenstand trotz gestiegenen Altersdurchschnitts gesunken. Beim Lübecker Marzipanhersteller Niederegger wiederum werden täglich mitten im Schichtbetrieb die Fließbänder abgeschaltet. Dann wird in der Werkshalle eine Viertelstunde kollektiv geturnt. Der Automobilhersteller Daimler schult Mitarbeiter in der Produktion ergonomisch und erprobt alternative Beschäftigungsmöglichkeiten, um die körperliche Belastung für Ältere zu reduzieren. Mitarbeiter aus der Montage beispielsweise können sich zum Anlagenwart ausbilden lassen.

Trotz dieser Bemühungen stehen Unternehmen, in denen die über 50-Jährigen überwiegen, vor einem weiteren Problem: Wenn dort im kommenden Jahrzehnt mehr als die Hälfte der Mitarbeiter in Rente geht, droht ein massiver Wissensabfluss. Dem gilt es bereits heute entgegenzuwirken. Denn über Jahre erworbene Expertise lässt sich weder in Datenbanken speichern, noch überträgt sie sich im Arbeitsalltag nebenbei.

Negative Stereotype abbauen

Auch den EDV-Dienstleister Datev in Nürnberg werden innerhalb der nächsten Jahre Hunderte Mitarbeiter verlassen, sagt Andreas Krause, der den Personal-Service leitet. Begleitet vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation, legte der Mittelständler deshalb das Pilotprojekt "Wissenstransfer beim Ausscheiden erfahrener Mitarbeiter und in altersgemischten Teams" auf.

An dem nahm auch Günther Sternberg teil. Kaum hatte der 49-Jährige seine Stelle als Abteilungsleiter angetreten, musste er sich auf Personalsuche machen. Fünf seiner 30 Mitarbeiter in der Abteilung Servertechnologien würden in den nächsten zwei Jahren ausscheiden, eröffnete ihm sein Chef. Nämlich zwei Führungskräfte sowie drei Fachberater für die Großrechner-Programmierung - nach bis zu 20 Jahren auf der jeweiligen Stelle und "alle mit höchsten Qualifikationen", sagt Sternberg.

Als Führungskraft begleitete Sternberg Tandems aus Vorgängern und Nachfolgern, füllte mit ihnen Fragebögen zu Aufgaben, Ansprechpartnern und Abläufen aus, entwickelte mit ihnen Zeitpläne für die schrittweise Übergabe. "Nur wenn der Vorgänger seinen Nachfolger akzeptiert, gibt er sein Wissen gerne an ihn weiter", sagt Sternberg. Das Ziel: eine Kultur zu schaffen, in der jüngere Mitarbeiter Respekt vor der Lebensleistung der älteren zeigen.

Doch wo Ältere in der Vergangenheit als Auslaufmodelle aufs Abstellgleis gedrängt wurden, vollzieht sich der erforderliche Kulturwandel nicht von heute auf morgen. Starrheit, Resignation, verringerte Lernbereitschaft: Das sind "negative Stereotype, die besonders jüngere Kollegen und Vorgesetzte älteren Mitarbeitern verlässlich zuschreiben", sagt der Organisationspsychologe Jürgen Wegge von der Technischen Universität Dresden.

Beim Chemieunternehmen BASF in Ludwigshafen versucht man, solche Vorurteile abzubauen. "Altersbilder, die wir im Kopf haben, werden thematisiert", sagt Gudrun Kolbe, die das Programm "Generations@Work" betreut. Glaubenssätze wie "Innovationen gelingen nur mit Jüngeren" würden mit Forschungsergebnissen kontrastiert und als Mythen entlarvt. Entgegen landläufiger Meinung nehmen auch Kreativität und Lernfähigkeit mit dem Alter nicht generell ab.

Zumindest nicht, wenn sie in der zweiten Hälfte des Berufslebens trainiert werden. Mit dem Programm "Bologna 40 plus" unterstützt etwa die Deutsche Telekom Mitarbeiter jenseits der 40, die ein berufsbegleitendes Studium absolvieren.

Alte Karriereformel hat sich überholt

Mit dem Wunsch, sich "noch einmal neu zu orientieren", schrieb René Zaremba sich vor einem Jahr an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen für den Master-Studiengang "Digital Pioneering" ein. Mit 15 Kommilitonen zwischen 23 und 53 Jahren befasst der 41-Jährige sich nun neben seinem Job als Senior-Projekt-Manager von Kundengeschäftsprozessen mit Entwicklung, Marketing und Finanzierung von digitalen Geschäftsmodellen. Den Mehrwert verschiedener Erfahrungshintergründe erlebt Zaremba ganz praktisch in den Studien-Seminaren.

"Jenseits der Euphorie der Jüngeren für die neuesten Trends und Web-Entwicklungen fragen die Älteren stärker nach der Kommerzialisierung", sagt Zaremba. Neben der persönlichen Horizonterweiterung erhofft der Betriebswirt sich durch das Studium "bessere Chancen, beruflich weiterzukommen". Denn Zaremba gehört zu der Generation, die mit 40 Jahren noch bis zu drei Jahrzehnte Berufsleben vor sich hat.

Die alte Karriereformel "mit spätestens Ende 30 Chef, bis zur Rente" hat sich damit überholt. Denn zum einem führt sie zu dem, was Personaler als "Blockade-Problem" bezeichnen: Anders als ihre Vorgänger wird die Generation der sogenannten Babyboomer nicht in den Vorruhestand gehen, sondern "bis zum bitteren Ende da sein", sagt Organisationsexpertin Rump. "Und die sitzen auf den interessanten Positionen, in die die Jungen auch wollen." Ein Dilemma, das nach alternativen Karrierewegen für die Älteren verlangt. Doch gerade mal elf Prozent von 4000 mittelständischen Unternehmen bieten bislang Laufbahnmodelle für Mitarbeiter in der Altersgruppe über 50 Jahren an, belegt eine Studie vom Marktforschungsinstitut TNS Infratest im Auftrag der Commerzbank.

Hinzu kommt ein gesellschaftlicher Wertewandel, auf den Arbeitgeber sich einstellen müssen. Nicht nur jüngere Mitarbeiter wünschen sich im Berufsleben zunehmend zeitliche Flexibilität und Selbstbestimmung. Das gilt besonders für ältere Beschäftigte, die sich nicht mehr in das enge Korsett des Tagesgeschäfts einpassen möchten.

Volker Barzyk definiert als Personalleiter des Geschäftsbereichs Industrieautomation und Antriebe beim Technologiekonzern ABB Karrierepfade für den Einstieg bis zum Rentenalter. Und die werden im Wettbewerb um Mitarbeiter immer differenzierter. "Vor zehn Jahren hatten wir vielleicht zwei, drei Teilzeitmodelle im Angebot. Heute haben wir Hunderte hinterlegt", sagt Barzyk. Sei es für Erziehungszeiten - oder aber für die in Zukunft noch wichtiger werdende Betreuung älterer Angehöriger. Überdies sollen erfahrene ABB-Manager von einer Führungs- auf eine Expertenposition wechseln können, ohne Gehaltseinbußen oder Statusverlust. "So honoriert man die Erfahrung und entlastet von Tätigkeiten, wo man Jüngeren eine Chance geben kann", sagt Barzyk.

Dass sich erfahrene wie lebenskluge Mitarbeiter besonders für eine Berater-Tätigkeit eignen, zeigen die Rentner von Bosch. "Die Senior-Experten müssen sich nicht mehr beweisen, sie unterstützen sachorientiert, ohne persönliche Karriere-Agenda", sagt BMS-Geschäftsführer Odendahl.

Für Heidi Stock, die Diversity-Beauftragte von Bosch, ist dies eines der besten Beispiele für generationenübergreifende Zusammenarbeit. "Wir könnten endlos Seminare anbieten", sagt die 43-Jährige, "aber viel wichtiger ist es, dass die Mitarbeiter selbst im Alltag erleben, wie wertschöpfend die Zusammenarbeit zwischen Alt und Jung ist."

13 Mal schon war Rentner Dieter in den vergangenen zwei Jahren für das Beratungsunternehmen im Einsatz, nur die Sommermonate hat sich der Hobby-Ruderer bisher freigehalten. Sonst ist er auch über seine Beratungseinsätze hinaus für die Kollegen "gerne per E-Mail erreichbar". Am meisten freut er sich über solche wie die eines chinesischen Werkleiters: "Herr Dieter, wann kommen Sie wieder?"

(Quelle: Wirtschaftswoche)