Machtlosigkeit ist das Schlimmste, was CIOs passieren kann. Die IT-Leiter in der Norddeutschen Affinerie (NA) erfuhren von EDV-Käufen oder neuen Projekten der Konzerngesellschaften nicht selten erst dann, wenn der Vorstand die Verträge schon unterschrieben hatte. Mitte 2003 gab der Konzernvorstand schließlich die Strategie vor, das Inseldenken zu überwinden und den "Wir-sind-ein-Konzern"-Gedanken zu leben. Doch die Abteilungen und Tochtergesellschaften entschieden meist autonom.
Neben dem Konzerngedanken kamen auf die beiden IT-Leiter Marit Conrath und Jörg Meyer zwei weitere strategische Ziele hinzu. Zum einen sollten die einzelnen Gesellschaften ihrer Bedeutung für den Konzern nach an die NA angebunden werden.
Zum anderen hatte die IT 20 Prozent ihres Budget einzusparen - sprich 1,2 Millionen Euro. Dazu mussten die beiden IT-Leiter die SAP-Systeme und die Infrastruktur standardisieren und konsolidieren, was nur durch eine enge Zusammenarbeit mit allen Gesellschaften und somit nur über den ausgegebenen Konzerngedanken zu verwirklichen war.
Um konzernweite Projekte umzusetzen, bedurfte es intensiver Gespräche. Deswegen reisten Conrath und Meyer regelmäßig in die Werke, um nicht nur die räumlichen Distanzen abzubauen, sondern auch um sich mit den Verantwortlichen und Mitarbeitern zu auszutauschen und Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Denn bisher empfingen die Gesellschaften Besuch aus der Zentrale mit zwiespältigen Gefühlen, erinnert sich Conrath: "Die Töchter dachten oft: Wenn die aus Hamburg kommen, nehmen sie uns alles weg."
IT folgt konsequent der Geschäftsstrategie
Bei den ERP-Systemen ging die NA daran, die SAP-Lösungen einzelner Gesellschaften anzubinden. Die IT-Strategie richtete sich dabei eng an der Unternehmensstrategie aus: Je wichtiger eine Tochtergesellschaft für die NA war, desto stärker sollten die IT-Systeme angebunden und integriert werden.
So produzieren die Hüttenwerke Kayser (Lünen in Westfalen) wie die Norddeutsche Affinerie Kupfer und haben deshalb eine sehr hohe strategische Bedeutung für den Konzern. Aus diesem Grund verschmolzen die Hüttenwerke geschäftlich zu 100 Prozent mit der NA. Zugleich bedeutete dies für die IT eine komplette Migration des ERP-Systems auf das NA-System.
Im August 2003 begannen Conrath und Meyer damit, innerhalb von sechs Wochen die Geschäftsprozesse der einzelnen Gesellschaften zu durchleuchten und eine Applikationsstrategie zu entwickeln. Conrath und Meyer fragten bei ihrer langen Roadshow durch die Gesellschaften nicht nur nach Key-Usern und ProzessOwnern. Zugleich machten sie den Beteiligten auch immer klar, dass sie immer die zentrale IT fragen mussten, wenn sie ein IT-Projekt anstoßen wollten.
Doch Besuche alleine reichten den Tochtergesellschaften nicht, wenn sie etwas durchsetzen wollten. Bisher entschieden die Firmen des Hamburger Kupferproduzenten in den meisten Fragen autark. Mit der - meist zu späten - Kritik an den Entscheidungen fing sich die Konzern-IT höchstens den Ruf des Blockierers ein. Um mit starkem Rückgrat aufzutreten, bedurfte es erst einschneidender organisatorischer Änderungen.
Vorstandschef stärkt IT den Rücken
So machte der Vorstandsvorsitzende Werner Marnette als Erstes die IT zur Chefsache. Seitdem berichten Conrath und Meyer direkt an ihn. "Das Ansehen der IT stieg, als Mitarbeiter, Fachabteilungen und die Gesellschaften merkten, dass IT und Vorstand an einem Strang ziehen", stellt Conrath fest. Früher drangen die IT-Leiter in der NA lediglich bis zum Finanzbereichsleiter vor. "Jetzt wissen alle, dass die IT kein Anhängsel der Finanzabteilung mehr ist, sondern eine Steuerungsfunktion im Konzern übernommen hat."
Beim Bedeutungswandel der IT half den IT-Leitern auch die Fürsprache auf oberster Ebene von Basycon-Berater Till Oppermann. Er hatte schon vor vielen Jahren in einem Projekt mit dem Vorstandsvorsitzenden zusammengearbeitet. Zu den organisatorischen Änderungen gehörte auch, dass der IT-Leiter der NA sowie der Hüttenwerke Kayser den Konzern verlassen mussten. So kappte die NA eine Berichtsebene und machte Conrath zur Leiterin ERP und Meyer zum Leiter Infrastruktur. Einer allein hätte die Integration nicht schaffen können, denn Conrath wie Meyer verbrachten ein bis zwei Tage pro Woche bei den Töchtern. Conrath nennt noch einen weiteren Vorteil: "Bei internen Verhandlungen tritt man zu zweit stärker gegenüber hartnäckigen Widerständlern auf."
Lehren aus gescheitertem Projekt
Denn daran scheiterte vor einigen Jahren beispielsweise ein ERP-Projekt. Damals sollte die NA mit dem Wechsel von SAP R2 auf R3 das ERP-System mit dem System der Hüttenwerke Kayser zusammenlegen. Weil sich beide Seiten nicht zusammenraufen konnten, wurde der Plan wegen hohen Zeitdrucks, schlechter Projektvorbereitungen und davonrennender Kosten wieder ad acta gelegt. Durch die Globalisierung geriet die Affinerie inzwischen immer stärker unter Handlungszwang: Wettbewerber können überall in der Welt Kupfer produzieren und verarbeiten - und das zu deutlich geringeren Kosten. Conrath erklärt den Unterschied zu heute: "Beim ersten Anlauf war nur der Wunsch da. Erst als der Marktdruck schließlich zu hoch war, entschied der Vorstand das Zusammengehen von SAP-Systemen und Werken."
Bei den Hüttenwerken Kayser diskutierten die Hamburger IT-Leiter immer wieder über die Prozesse. "Den Fachbereichen fehlt häufig die Abstraktion, wie sich auf Papier Gemaltes in der Realität darstellt", berichtet Conrath aus ihren Erfahrungen. Auch waren immer alle Teamplayer im Projekt vertreten, sodass nur das besprochen wurde, was auch realistisch umsetzbar war. Darüber hinaus mussten sie Sprachprobleme überwinden: "Beide Seiten meinten das Gleiche, gebrauchten aber ein anderes Vokabular. Jetzt verstehen wir uns alle als ein Team, das war lange Zeit nicht so."
Widerstand gab es auf vielen Ebenen. Deswegen nahmen sich Conrath und Meyer beim Kupfer-Recycling-Unternehmen Cablo (Fehrbellin in Brandenburg) mehrere Wochen Zeit für Gespräche, um die SAP-Prozesse zu erklären. Bis dahin arbeitete Cablo noch ohne SAP. Anschließend führte es eine klassische Projektorganisation mit Projektteams, Lenkungsausschuss und Key-Usern ein - begleitet von weiteren ständigen Besuchen. Heute äußern Cablo-Mitarbeiter nur noch gelegentlich marginale Kritik wie etwa am Aussehen von Formularen, die Prozessoptimierung an sich steht nicht mehr in der Diskussion.
Schwere Gewöhnung an Einzelverrechnung
Nie versiegender Gesprächsstoff bietet dagegen die Verrechnung von IT-Services. So gewöhnen sich die Hüttenwerke Kayser immer noch schwer daran, dass die Kostenstellen ihre IT-Leistungen bezahlen müssen. Früher wurden alle IT-Kosten auf alle Kostenstellen gleichmäßig verteilt. Weil IT-Kosten als Eh’-da-Kosten mitliefen, fühlte sich auch niemand für die IT-Ausgaben verantwortlich. Heute müssen alle Abteilungen beispielsweise den Nutzen eines Change-Requests schriftlich begründen. "Wenn darin keine wirtschaftliche Erklärung steht, geht der Antrag zurück", erläutert Conrath. Nebeneffekt: "Durch dieses Vorgehen wird die IT transparent, weil wir belegen können, was wir den ganzen Tag machen."
Die Verrechnung auf Produktpreise schaffte noch mehr Offenheit: Zum einen zahlen die Kostenstellen nun realistische und faire Preise statt Konzern-Solidaritätspreise. Zum anderen muss die IT an jede Leistung ein Preisschild hängen und begründen, wie sie auf den Preis kommt und was sie dafür bietet. Einzelverrechnungen dienen zudem als gutes Steuerungsmittel, um alle bei der Standardisierung mit ins Boot zu holen: Je stärker standardisiert ein Produkt ist, desto weniger müssen die Kostenstellen dafür bezahlen.
Verständnisprobleme im Vorstand
Bei den Kosten, beispielsweise für die SAP-Konsolidierung, traten Verständnisprobleme auch im Vorstand auf. Bei den Hüttenwerken ging der Vorstand von der Vorstellung aus, das SAP doch Standard sei und damit in allen Werken gleich aussehe und folglich einfach und billig zu migrieren und konsolidieren sei. Theoretisch hatte der Vorstand zwar Recht, doch in der Praxis existieren allein durch unterschiedliche Sachkonten und zig Hundert Sonderentwicklungen immer grundverschiedene Systeme.
Um solche Probleme zeitnah zu lösen und am besten gar nicht erst aufkommen zu lassen, hatten Conrath und Meyer alle zwei bis vier Wochen einen Fixtermin beim Vorstandsvorsitzenden. Dort stellten sie auf maximal drei bis vier Folien vor, an was sie arbeiten, warum sie es machen und weshalb es gut für das Unternehmen ist. "Weil der Vorstand sehr stark involviert war, ist für ihn die Black Box IT transparenter geworden", sagt Meyer.
Auch trommeln Conrath und Meyer jetzt stärker in eigener Sache. Das Motto: Tue Gutes und sprich darüber, schaffe Gelegenheiten wie Treffen, Mails und Firmenzeitung, um über Erfolge zu berichten. Das Ziel: "Wir wollen weg von der reagierenden IT hin zur IT als agierender Partner und Berater", fasst Meyer die Ziele zusammen.
Inzwischen hat die IT die geforderten 20 Prozent gespart und sich von einer Kostenstelle zum wichtigen strategischen Mittel entwickelt - auch wenn noch nicht alles glatt läuft. Gelegentlich kommt es noch vor, dass drei Anbieter bei einer Tochter waren, bevor Conrath und Meyer informiert wurden. Doch inzwischen ist es nicht mehr so, dass sie zu spät erst nach einer Vorstandsunterschrift davon erfahren. Die beiden arbeiten weiter daran, die letzten Entscheidungsinseln in den Konzern einzugemeinden.