Enorm erscheinen die Potenziale der Digitalisierung in der Industrie - und so ist das Thema Industrie 4.0 hierzulande in aller Munde. Gleichwohl bestehen beträchtliche Zweifel, inwieweit die Betroffenen auf die damit verbundenen Veränderungen vorbereitet sind. "But are companies ready?", fragen die McKinsey-Berater Paul-Louis Caylar, Kedar Naik und Olivier Noterdaeme in einem Artikel auf der hauseigenen Homepage.
Nicht unbedingt, lautet die Antwort aus der Perspektive der Unternehmen. Genauso mau sieht es auf Seiten der betroffenen Arbeitnehmer aus, wie eine Studie der Unternehmensberatung ROC zeigt. "Die Wirtschaft befindet sich mitten in der vierten industriellen Revolution, aber das kümmert gerade einmal jeden zweiten Arbeitnehmer in der DACH-Region", fassen die Berater das Ergebnis zusammen.
Es fehlt an klaren Verantwortlichkeiten
Die McKinsey-Autoren unterfüttern ihren skeptischen Befund gleich mit zwei Studien aus ihrem Hause. Der in Januar veröffentlichte "Industry 4.0 Survey" basiert auf einer Befragung von mehr als 300 Experten aus Deutschland, Japan und den USA und zeigt, dass nur 16 Prozent der Fertigungsunternehmen über eine umfassende Industrie 4.0-Strategie verfügen. Klare Verantwortlichkeiten für die Implementierung einer solchen Strategie gibt es nur in jedem vierten Unternehmen.
Der MGI Industry Digitization Index des McKinsey Global Institute weist zwar Branchen wie Advanced Manufacturing und den Öl- und Gassektor als Digitalisierungsvorreiter aus. Demgegenüber befinden sich laut Index andere wie die Hersteller von Basisgütern sowie die Chemie- und Pharmazieunternehmen erst in einer Frühphase der Entwicklung.
Hälfte verfolgt Entwicklungen der Arbeitswelt 4.0
Für die ROC-Studie - wissenschaftlich begleitet von der Hochschule Furtwangen - wurden mehr als 2500 Arbeitnehmer in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Großbritannien befragt, davon mehr als 1000 aus der Bundesrepublik. Von diesen sagen jeweils knapp 50 Prozent, dass sie aktuelle Entwicklungen in Richtung "Arbeitswelt 4.0" aufmerksam verfolgen, dass sie durch mehr IT- und Kommunikationstechnologie sowie fortschreitende Automatisierung mittelfristig eine berufliche Verbesserung erwarten und dass sie den Führungskräften in ihrem Unternehmen ein Meistern dieser Herausforderung zutrauen.
Führungskräften nur wenig Kompetenz zugeschrieben
Nur 36 Prozent der Befragten aus Deutschland halten ihre Führungskräfte für absolut kompetent beim Thema Industrie 4.0. Im Ländervergleich äußern sich die Befragten aus Österreich und der Schweiz quasi zu allen Fragen einen Tick positiver als ihre deutschen Kollegen, die Antworten aus Großbritannien fallen durchweg deutlich schlechter respektive ahnungsloser aus.
"Unsere Studienergebnisse zeigen ein erschreckend hohes Desinteresse an der Arbeitswelt der Zukunft, dabei betrifft dieses Thema jeden Berufstätigen", kommentiert Oliver Back, Global COO der ROC Group die Resultate. "Leider haben viele Führungskräfte ihren Mitarbeitern bislang nicht ausreichend vermittelt, wie Digitalisierung und Automatisierung sie in ihren jeweiligen Aufgabenfeldern weiterbringen können."
"Neugier auf digitale Transformation wecken"
"Es gilt jetzt, die Neugier der Beschäftigten auf die digitale Transformation zu wecken", sagt Professor Armin Trost, Studiendekan an der Hochschule Furtwangen. "Sie sollten sich konkret vorstellen können, was die Arbeitswelt von morgen für ihren beruflichen Alltag bedeutet."
Beispiele BASF und Amazon Business
Neugierig machen auf die digitale Transformation in der Industrie kann der Beitrag von Caylar, Naik und Noterdaeme. Das McKinsey-Trio beschreibt an vielen konkreten Beispielen das Potenzial von Industrie 4.0. "Frühe Zeichen der digitalen Revolution sind bereits da", schreiben sie. Bemerkenswert sei etwa, dass über die im April 2015 gestartete B2B-E-Commerce-Plattform Amazon Business binnen eines Jahres mehr als eine Milliarde US-Dollar umgesetzt wurde. BASF habe als erster Chemiekonzern Produkte direkt über die Plattform Alibaba verkauft.
Industrie 4.0: 8 Treiber der Entwicklung
Entscheidender Treiber für Industrie 4.0 sind aus McKinsey-Sicht die sinkenden Kosten - zum Beispiel bei den neuen Prozess-Technologien. So seien die Kosten für 3-D-Druck zwischen 1990 und 2014 um 60 Prozent gesunken, jene für Industrie-Roboter zwischen 2000 und 2012 um jährlich 5 Prozent. Acht entscheidende Treiber für Industrie 4.0 stellt McKinsey in einem Digital Compass dar:
1. Ressourcen und Prozesse: Produktivitätssteigerungen von 3 bis 5 Prozent sind möglich, etwa durch Smart Energy oder Produktionsoptimierung in Echtzeit
2. Maschinenauslastung: Ausfallzeiten von Maschinen könnten um 30 bis 50 Prozent sinken - mit Hilfe etwa von Predictive Maintenance und Remote Monitoring/Remote Control
3. Arbeit: McKinsey hält in technischen Berufen Produktivitätssteigerungen um 45 bis 55 Prozent durch Automatisierung von Wissensarbeit für möglich; Beispiele dafür sind die Zusammenarbeit von Mensch und Roboter und Digital Performance Management
4. Lagerhaltung: Kostensenkungen um 20 bis 50 Prozent sind drin - dank 3-D-Druck und Echtzeit-Optimierung der Lieferkette
5. Qualität: Ausgabensenkungen um 10 bis 20 Prozent sind möglich durch statistische und fortgeschrittene Prozesskontrollen sowie digitales Qualitätsmanagement
6. Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage: Datengetriebene Nachfrageprognosen und datengetriebenes Design-to-Value erhöhen die Genauigkeit von Vorhersagen um mindestens 85 Prozent
7. Time-to-Market: Unternehmen können 20 bis 50 Prozent schneller am Markt sein, ermöglicht unter anderem durch beschleunigte Experimente und Simulationen und simultanes Engineering
8. Wartung und Reparatur: potenzielle Kostensenkungen um 10 bis 40 Prozent, etwa durch vorausschauende Wartung und Wartung aus der Ferne
Industrie 4.0: 5 Empfehlungen von McKinsey
McKinsey lotet also die Chancen durch Industrie 4.0 aus, ohne wie eingangs erwähnt die Zurückhaltung vieler Anwender auszublenden. Für Firmen, die bei der Digitalisierung vorne dran sein wollen, haben die Berater fünf Empfehlungen parat:
1. Priorisieren und Skalieren: Durch strukturierte Schätzungen lassen sich der Appetit der Kunden und ihre Zahlungsbereitschaft gewichten. Einer Abwägung bedarf auch der potenzielle Nutzen einer Neuerung gegenüber möglichen Komplikationen bei der Implementierung. Zu fragen ist dabei nach dem Grad an Innovation und Störung. Wird Vorhandenes ersetzt oder erweitert? Oder gibt es einen radikalen Bruch? Zu definieren ist ferner die Skalierbarkeit - und zu bewerten ist, wie sich neue Lösungen in die vorhandene Struktur einfügen.
2. Ein Test-und Lern-Ansatz: McKinsey rät zu Agilität - mit klaren Worten. "Bei Investitionen in digitale Lösungen ist es entscheidend, die Mentalität eines Risikokapitalisten anzunehmen", schreiben die drei Berater. "Das bedeutet auch, rücksichtslos zu sein: Wenn eine Idee nicht trägt, muss sie sofort gekillt werden."
3. Neue Grundlagen aufbauen: Die Berater sprechen hierzu zwei Ebenen an. Ratsam ist demnach erstens der Aufbau einer IT-Infrastruktur mit zwei Geschwindigkeiten: ein schnelles und cloud-basiertes IT-System der nächsten Generation liegt über den sicheren und robusten Altsystemen. Zweitens benötigen Unternehmen auch das Personal für die Digitalisierung, insbesondere Daten- und Prozessexperten. Jobprofile seien zu überdenken, so McKinsey. Etwa dann, wenn Wartung nicht mehr nur Problemlösung, sondern Prognose möglicher Probleme bedeutet.
4. Daten als Wettbewerbsvorteil betrachten: Data Management benötigte eine klare Struktur und Governance. Außerdem sollte Cybersecurity auf der Agenda weit oben stehen. Und auch physische Ziele wie vernetzte Maschinen und Systeme sollten geschützt werden.
5. Funktionsübergreifende Arbeit: Digitalisierung bedeutet, dass über Abteilungsgrenzen hinweg zusammengearbeitet wird. Die Mitarbeiter müssen in die neue Arbeitswelt mitgenommen werden - und auch das Change Management sollte gründlich durchdacht sein.
"Das Potenzial der Digitalisierung in der Industrie ist massiv - nicht nur im Betrieb, sondern über alle Funktionen des Sektors hinweg", so Caylar, Naik und Noterdaeme. "Die Hebel, die aus der Sicht eines einzelnen Unternehmens den größten Unterschied machen, unterscheiden sich dabei: von E-Commerce über Automatisierung hin zu Advanced Analytics." Um von der Konkurrenz nicht abgehängt zu werden, sei das Engagement des Top-Managements für die Digitalisierung eine unbedingte Voraussetzung.