Peter Kraus hat eine lange Reise hinter sich. Sie begann in riesigen Kellergewölben voller Mikrofilme mit Konstruktionszeichnungen und endete auf einer elektronischen Plattform, die nicht nur die Daten dieser Filme, sondern auch sonst absolut alles enthält, was die weltweit sieben Entwicklungszentren der ZF Friedrichshafen AG für die Konstruktion eines Bauteils benötigen. Einzigartig daran sind das Maß an Integration und damit die Möglichkeit, im Ozean von Daten minutenschnell das Richtige zu finden. Eine riskante Reise, wie CIO Kraus bestätigt: "Früher habe ich oft gesagt, dass ein IT-Manager zwei Dinge auf jeden Fall vermeiden soll: Erstens: zum Jahrtausendwechsel einen Job als CIO zu haben. Zweitens: dort Verantwortung zu tragen, wo gerade das komplette Stücklistenwesen reformiert wird."
Tabuthema Stücklisten
Kraus hat dann aber genau diese beiden Dinge überlebt. Er ist seit 15 Jahren CIO bei ZF und zählt damit zu den dienstältesten IT-Managern im Land. Selbst für einen so alten Hasen ist das Thema Stücklisten aufwendig und riskant - im Falle von ZF vor allem aufgrund der Komplexität der Produkte.
Das Unternehmen ist mit seinen etwa 60 000 Mitarbeitern einer der weltweit führenden Hersteller von Antriebs- und Fahrwerkstechnik. ZF baut Getriebe, Achsen, Schaltungen, Steuerungen für Pkw, Lkw, Züge, Land- und Baumaschinen, Schiffe oder Hubschrauber, außerdem Computertastaturen und andere Elektronikteile – und vieles mehr. Peter Kraus: "In so einem Industrieunternehmen hängt an den Stücklisten alles. Hier etwas grundsätzlich zu ändern ist ungefähr so, als würden Sie beim Menschen das Rückgrat austauschen."
Dass dieser Eingriff trotz der Risiken notwendig war, erkannte Kraus schon beim Amtsantritt als Konzern-CIO. "Unsere Product-Data-Management-Landschaft war extrem heterogen, host-basiert und dezentral. Versuchs- und Berechnungsdaten, Stücklisten, alles mussten sich die Mitarbeiter an verschiedenen Stellen zusammensuchen." ZF entschied sich damals für den Umstieg von CADAM auf die strategischen CAD-Sys-teme Pro/E von PTC sowie Catia von Dassault. Als Plattform zur Steuerung der Entwicklungsdaten fiel die Wahl 1995 auf die PDM-Software von Eigner & Partner, einer Lösung, die mittlerweile zu Oracle gehört.
Ziel war es, alle Produktdaten auf einer einzigen PDM-Plattform zu integrieren und zentral zur Verfügung zu stellen. Intern verkaufen und die notwendige Unterstützung dafür gewinnen ließ sich nur mit schrittweisem Vorgehen und mit Quick Wins, sagt Kraus. "Wenn mein Team und ich beim Start des Ganzen verkündet hätten, wir machen hier ein Zehn-Jahres-Projekt, dann hätte uns der Vorstand vermutlich hinausgeworfen." Welche Zeiträume er stattdessen kommuniziert hat, verrät er nicht.
Erstes Teilziel: Keller digitalisieren
Kraus konnte als ersten schnellen, zählbaren Erfolg vorweisen: das Auflösen der verschiedenen Mikrofilmlager. "Die Kollegen dort arbeiteten in mehreren Schichten. Jeder, der ältere Konstruktionszeichnungen benötigte, musste sich den Mikrofiche raussuchen und anschließend plotten lassen. Am nächsten Tag hatte er dann endlich, was er brauchte." Zweiter schneller Erfolg nach der Digitalisierung des analogen Kellers: das dezentrale Bereitstellen aller benötigten Fertigungsunterlagen inklusive der Zeichnungsdaten aus den Systemen Pro/E und Catia für den Herstellungsprozess.
Auf diese Weise entstand schrittweise eine Product-Lifecyle-Management-Plattform – mit der ursprünglichen PDM-Anwendung von Agile als Kern. Im Jahre 2000 schließlich fiel die Grundsatzentscheidung, dieses System zu einer kompletten Engineering-Plattform auszubauen, es für ausnahmslos alle strategischen Entwicklungen im Unternehmen zu nutzen. Mittlerweile wurden das gesamte Stücklistenwesen inklusive des Änderungswesens sowie die Anbindung an die SAP-Systeme realisiert. Die weltweit einheitliche, zentrale PDM-Plattform ermöglicht heute eine eindeutige Produktbeschreibung und ist damit die Basis für die Zusammenarbeit der Entwickler sowie für die Mitarbeiter in der Fertigung. 7500 Mitarbeiter greifen von sieben Entwicklungszentren aus auf das System zu. Alles, was irgendwo bei ZF schon mal entwickelt wurde, ist auffindbar, Doppelarbeiten werden vermieden. Außerdem konnte ZF 2008 die Host-Systeme zur Stücklistenverwaltung und zur Übergabe der Daten an das SAP-System ablösen.
Was sind die Voraussetzungen, damit solch ein Mammutprojekt gelingt? Peter Kraus: "Es müssen absolut alle mit im Boot sitzen, vor allem auch die Kaufleute im Unternehmen. Bei uns hat sich auch der Vorstand jahrelang und intensiv mit dem Thema beschäftigt." Fast alles, sagt Kraus, hängt bei einem solchen Vorhaben an der Kommunikation und am Miteinander. "Entscheidend war die Erkenntnis, dass es sich hier eigentlich nicht um ein IT-Thema handelt. Das Ganze war ein Change-Projekt erster Güte."
Der ZF-CIO Peter Kraus erläutert sein heimliches Projekt auf den Hamburger IT Strategietagen 2010 am 11. und 12. Februar. Jetzt anmelden |