Defizite bei Industrial AI

Hiesige Industrie droht bei KI abgehängt zu werden

02.04.2024 von Manfred Bremmer
Die Digitalisierung der Industrie schreitet weltweit voran, allerdings in unterschiedlichem Tempo. Besonders bei KI-basierten Lösungen hat die DACH-Region laut einer MHP-Studie Aufholbedarf.
Während die Digitalisierung der Industrie weltweit weiter Fahrt aufnimmt, gibt es bei Industrial AI deutliche regionale Unterschiede.
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Ähnlich wie allgemein die Digitalisierung den Wandel in Gesellschaft und Wirtschaft vorantreibt, läutet Industrie 4.0 eine neue Ära der intelligenten Produktion ein. Dabei werden Technologien wie das Internet der Dinge (IoT), künstliche Intelligenz (KI), Big Data und Cloud Computing kombiniert, um Aspekte wie Effizienz, Flexibilität und Qualität in der Produktion zu steigern.

Doch während sich Industrie 4.0 zu einem globalen Trend entwickelt hat, dem immer mehr Unternehmen folgen, gibt es nach wie vor regionale Unterschiede, was die Ansätze und Herausforderungen im Bezug auf Industrie 4.0 angeht.

Wie die Management- und IT-Beratung MHP im "Industrie 4.0-Barometer 2024" herausfand, hinken die Industrieunternehmen der DACH-Region (Deutschland, Österreich und Schweiz) in den meisten Digital-Disziplinen der Konkurrenz in China, den USA und Großbritannien hinterher.

KI-Potenzial erkannt - aber noch nicht genutzt

Besonders gilt das für künstliche Intelligenz, wo die Unternehmen zunehmend zu erkennen beginnen, dass KI-Technologien wie maschinelles Lernen und neuronale Netze nicht nur theoretisch interessant sind, sondern auch ein ungeahntes Potenzial für den praktischen Einsatz bieten. So setzen in China bereits 94 Prozent der befragten Unternehmen KI-basierte Lösungen in ihren Fertigungsprozessen ein. Das sind mehr als doppelt so viele Unternehmen wie in den USA, die mit 46 Prozent folgen. In Großbritannien gaben 29 Prozent der Befragten an, dass sie KI-basierte Lösungen einsetzen, während es in der DACH-Region nur 20 Prozent sind.

Trotz bekannter Potenziale kommen KI-basierte Lösungen in nur 20 Prozent der Industrieunternehmen der DACH-Region zum Einsatz.
Foto: MHP

Damit nicht genug, bewerteten die Teilnehmer aus der DACH-Region und Großbritannien auch den Erfolg ihrer Industrial-AI-Projekte schlechter als ihre Kollegen in den USA und China. So waren nur 26 Prozent der Teilnehmer aus der DACH-Region und 34 Prozent der Teilnehmer aus Großbritannien der Meinung, dass ihr Unternehmen seine KI-Projekte pünktlich abgeschlossen hat. In China hingegen waren 86 Prozent dieser Meinung, in den USA genau die Hälfte.

In den anderen Kategorien gab es ähnliche Ergebnisse: 89 Prozent der Teilnehmer aus China bestätigten, dass ihre KI-Projekte die Funktionalität lieferten, für die sie konzipiert worden waren (DACH: 30 Prozent), und 82 Prozent gaben an, dass die KI-Projekte innerhalb des Budgets abgeschlossen wurden (DACH: 28 Prozent).

Auch bei der Einschätzung des Reifegrads der KI in den Unternehmen gab es erhebliche Unterschiede zwischen den Regionen: Während Unternehmen in der DACH-Region und Großbritannien sich als eher durchschnittlich einstuften (Stufe 2), glauben Unternehmen in den USA, dass sie auf dem Weg zur Etablierung von KI-Lösungen sind (Stufe 3). Die chinesischen Teilnehmer der Studie gingen noch einen Schritt weiter und gaben an, dass sie bei der Einführung von KI bereits weit fortgeschritten sind und sich bereits mit der Optimierung befassen (Stufe 4).

(Noch) Kein Grund zur Sorge

Wenngleich diese Ergebnisse ein besorgniserregendes Bild von Europas Status als Industrie in Bezug auf die Nutzung von industrieller KI zeichnen, besteht laut MHP noch kein Grund zur Sorge. Es werde noch lange dauern, bis man mit Sicherheit sagen könne, welche spürbaren Auswirkungen ein hoher KI-Reifegrad auf den globalen Wettbewerb und die sich verschiebende Machtdynamik zwischen den USA, China und Europa haben wird, erklären die Studienautoren. Mittel- bis langfristig werde es eine Herausforderung sein, diesen Rückstand aufzuholen, denn die Anforderungen der Unternehmen an KI-basierte Lösungen seien sehr individuell.

Während einige Unternehmen bereits in bestimmten Bereichen von den Vorteilen der industriellen KI profitieren, müssen andere aufgrund ihrer individuellen Anforderungen und Anwendungsbereiche erst noch prüfen, wie viel Mehrwert ihnen die industrielle KI bietet. Den Umfrageergebnissen zufolge scheinen die meisten Unternehmen in den USA und China diese Hürde bereits überwunden zu haben.

Die Erfüllung individueller Anforderungen ist jedoch nicht der einzige Faktor, der sich auf die positive Bewertung des KI-Reifegrads und die Verbreitung von KI-basierten Lösungen auswirkt - auch politische Anreize und Maßnahmen spielen eine Rolle. Hier verweist MHP vor allem auf Chinas Entwicklungsplan für die neue Generation der künstlichen Intelligenz (AIDP) von 2017. Dieser hat das Ziel, China bis 2030 zum weltweit führenden Innovationszentrum für KI zu machen. In den USA wiederum erhalten Unternehmen mit dem Inflation Reduction Act (IRA) aus dem Jahr 2022 auch einen politischen Anreiz, ein positives Umfeld für die KI-Forschung und -Entwicklung zu schaffen.

Diese Initiativen haben die digitale Transformation beschleunigt, aber mehr noch, sie haben sich auch als treibende Kraft für die erfolgreiche Integration von KI-Projekten in diesen Regionen erwiesen. Dies hat das Vertrauen der Unternehmen in ihre KI-Fähigkeiten gestärkt und ihre Bereitschaft erhöht, Risiken einzugehen und im Bereich der industriellen KI zu experimentieren.

Europäische Unternehmen neigten hingegen dazu, strategisch weniger nuanciert vorzugehen und konzentrierten sich zu sehr auf die wirtschaftliche Machbarkeit und Kosteneffizienz - möglicherweise auf Kosten des Innovationspotenzials, so die Studienautoren.

Fachkräftemangel ist größtes Hemmnis

Ein hartnäckigeres Hindernis ist der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. So ergab die Studie, dass es insbesondere an qualifizierten Arbeitskräften fehlt, die über die notwendigen Fähigkeiten verfügen, um die Möglichkeiten der KI im geschäftlichen Kontext zu erkennen, zu integrieren und die Technologie gewinnbringend einzusetzen. In China stimmten 88 Prozent der Befragten der Aussage zu, über ausreichend viele Teammitglieder zu verfügen, um die Arbeit in KI-Projekten zu erledigen. In der DACH-Region bejahten das nur 36 Prozent.

Der Mangel an Fachkräften für KI-Projekte behindert vor allem in der DACH-Region entsprechende Projekte.
Foto: MHP

Gleichzeitig hat vor allem die industrielle KI das Potenzial, den Arbeitskräftemangel bis zu einem gewissen Grad zu lindern, da KI-basierte Lösungen eingesetzt werden könnten, um weniger komplexe, sich wiederholende und zeitaufwändige Aufgaben zu übernehmen und automatisieren.

Trotz der Unterschiede zwischen den Regionen in Bezug auf die Verbreitung von Industrie 4.0 und industrieller KI gebe der globale Fortschritt Grund zur Zuversicht, konstatiert MHP. Aus diesem Grund sei es für Unternehmen in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Großbritannien wichtig, weiterhin aktiv daran zu arbeiten, mit dem internationalen Wettbewerb Schritt zu halten. Investitionen in Aus- und Weiterbildungsinitiativen, die Förderung von Partnerschaften mit externen KI-Experten und intelligente Investitionen in skalierbare IT-Infrastrukturen schafften nicht nur die Grundlage für den effizienten Einsatz von IndustrialAI - sie helfen auch, eine vielversprechende Zukunft der Digitalisierung zu gestalten.

Grundlagen der Studie

Die Ergebnisse des Industrie 4.0 Barometers 2024 basieren laut MHP auf den Antworten von 856 Teilnehmern. Davon aus dem deutschsprachigen Raum (Deutschland, Österreich und Schweiz) 203 Teilnehmer, aus Großbritannien 201 Teilnehmer, den USA 204 Teilnehmer und aus China 248 Teilnehmer. Über die Hälfte davon kommen von kleinen bis mittelgroßen Unternehmen mit weniger als 1.000 Mitarbeitern, 26 Prozent repräsentierten Unternehmen mit 1.000 bis 9.999 Beschäftigten, und 17 Prozent vertraten Unternehmen mit mehr als 9.999 Beschäftigten.

Die Teilnehmer wurden aus allen Ebenen der Unternehmenshierarchie ausgewählt, von der operativen Basis bis zur Vorstandsebene. 79 Prozent der Teilnehmer sind auf der dritten Ebene unterhalb des Vorstands oder darunter tätig.

Die am stärksten vertretene Branche war die Informations- und Kommunikationstechnologie (13 Prozent), gefolgt von der Automobilindustrie (11 Prozent, OEMs und Zulieferer), Verkehr und Transport (11 Prozent) und dem Maschinenbau (10 Prozent). Die am stärksten vertretenen Abteilungen waren IT (20 Prozent) und Produktion (16 Prozent).