Finger weg von diesem Unternehmen. Karriere-Coach Martin Wehrle rät Bewerbern, ganz genau hinzusehen, bevor sie sich auf das Abenteuer eines neuen Jobs in einem neuen Unternehmen einlassen. "Jede dritte deutsche Firma ist vom Wahnsinn befallen", sagt der Berater Wehrle. In ständigen Meetings verpulvern die Mitarbeiter ihre Energie und leben in ständiger Angst vor einem unberechenbaren Vulkan namens Chef.
In großen Konzernen hat der Wahnsinn Methode
Dreistellige Milliardenbeträge, so Wehrle, gehen der deutschen Wirtschaft Jahr für Jahr durch chaotische Organisation und schlecht motivierte Mitarbeiter verloren. "Am stärksten ausgeprägt ist der Wahnsinn tendenziell in großen Konzernen. Da ist er oft systemimmanent." Wenn etwa die hohen Tiere im Vorstand sich die hübschen Quartalszahlen nicht durch Ausgaben für eine dringend benötigte neue Software kaputt machen wollen. Stattdessen spielt die IT Feuerwehr und löscht einen Flächenbrand nach dem anderen.
Nur bekommen die da oben es selten mit, wenn es unten schon längst brennt. Ein Kernübel ist für Wehrle: Dass Spitzenmanager großer Unternehmen gerne einfliegen und für ein paar Jahre zwischenlanden. "Der Mist, den sie hinterlassen, fängt aber erst an zu dampfen, wenn sie wieder weg sind." Cholerische Chefs fördern es noch, dass die Kollegen sie nicht auf Fehler aufmerksam machen. "Wer dem Kaiser sagt, dass er nackt ist, wird oft als Bote geköpft. Da halten die meisten gleich die Klappe."
Ernsthaft Sorgen machen würde sich Wehrle spätestens an diesem Punkt: Die Fassade des Unternehmens sieht völlig anders aus als das Gesicht, das die eigenen Mitarbeiter kennengelernt haben. "Tut die Firma auch das, was sie nach außen hin verspricht?", fragt Wehrle. Herrscht hier die sprichwörtliche Ordnung, für die die Deutschen weltweit geschätzt werden, oder nimmt das Chaos längst seinen Lauf?
Wie aber erkennt ein Bewerber das Irrenhaus, wenn es im Vorgarten so schön blüht? Wehrle hat einige deutliche Warnsignale ausgemacht. Ist die Stellenausschreibung in den letzten Monaten schon öfter erschienen? "Das könnte heißen, dass die Anforderung so utopisch hoch sind, dass die Firma ihre eierlegende Wollmilchsau einfach nicht findet." Oder aber es sind schon mehrere Kandidaten angetreten und wurden bald wieder entlassen.
Warnsignale schon in der Stellenanzeige
Obacht sei auch geboten, wenn ein Headhunter sich auf die Suche nach neuen Mitarbeitern macht. "Das könnte ein Hinweis auf Geheimniskrämerei sein." Vielleicht weiß jemand in der Firma noch nicht, dass er bald ersetzt wird. Oder Chefs haben Angst, dass Mitarbeiter auf die Barrikaden gehen. Diese kriegen die anstehenden Veränderungen weniger leicht spitz, wenn in der Stellenanzeige die Firma nicht genannt wird - wie bei Headhuntern üblich.
Im Vorstellungsgespräch schadet es nicht, auf das Verhalten des Chefs zu achten. Hilft er der Bewerberin galant aus dem Mantel - würdigt aber die Sekretärin keines Blicks, wenn sie den Kaffee hereinbringt? Kanzelt er den Azubi einfach ab, wenn er eine Frage hat? "Dann wird er Sie später auch so behandeln."
Auch die Körpersprache der Mitarbeiter verrät Einiges über die Stimmung im Unternehmen: "Sind sie locker und fröhlich - oder bewegen sie sich wie in einem Trauermarsch?" Dann haben sie den Kampf gegen den Wahnsinn vielleicht schon aufgegeben.
Wahnsinnig zu sein steht in den wenigsten Stellenangeboten für Vorstandschefs. Aber Karrier-Coach Wehrle weiß: "Wenn man in einem System, das auf Wahnsinn basiert, nach oben kommen will, muss man die Spielregeln beherrschen." Das heißt: Den Wahnsinn annehmen - oder sich gut verstellen.
Das beste Beispiel war der am 30. August verstorbene Michail Gorbatschow, der sich durch den Parteiapparat nach bis an die Spitze der Sowjetunion hoch gehangelt hat. "Als er ganz oben war, sagte er plötzlich: Jetzt stelle ich andere Regeln auf, ab jetzt gilt Glasnost und Perestroika."
Familienunternehmen brauchen Familientherapie
In mittelständischen Betrieben sieht Wehrle eine besonders große Gefahr, dass die Mitarbeiter die Marotten der Chefs übernehmen. Vor allem Familienbetriebe "bräuchten Familientherapie". Der alles entscheidende Faktor ist hier die Person des Unternehmers. Ist er geizig, verhält sich oft auch die ganze Firma so.
"Das ist wie in einer Frittenbude. Wer zu lange neben der Fritteuse steht, stinkt bald selbst nach dem Fett." Einer von Wehrles Beratungskunden klagte darüber, dass er immer wieder Preise runterhandeln musste - und die eigenen Stunden für die Kunden großzügig aufrunden. Dabei merkte er gar nicht, wie der Geiz sich langsam auf ihn selbst übertrug.
Erst seine Frau machte ihn darauf aufmerksam: "In letzter Zeit gibst Du gar kein Trinkgeld mehr, wenn im Restaurant die Rechnung auf einen runden Betrag herauskommt. Früher hast Du Dir auch nicht Bücher bestellt, sie gelesen und dann als Fehlbestellung zurückgeschickt."
Manchmal helfe es schon, sich das eigene Arbeitsumfeld zu angenehmer zu gestalten - mit konkreten Vorschlägen. Zum Beispiel, jeden Tag einmal in die andere Abteilung zu gehen und die Zusammenarbeit abzustimmen. "Wenn man so schon viel klären kann, spart man sich zeitfressende Meetings."
"Ich arbeite in einem Irrenhaus"
Manche Chefs geben sich als Orakel und geben keine Rückmeldung über die Leistungen der Kollegen. "Holen Sie sich aktiv, was ihnen fehlt", empfiehlt werde. Das heißt auch: Den Chef einfach mal nach seiner Meinung über die erbrachte Arbeit fragen. Hilft alles nichts, rät Wehrle zur Flucht. "Suchen sie sich eine Firma, deren Unternehmenskultur ihren Werten entspricht." Dort arbeite es sich angenehmer - und erfolgreicher.
Martin Wehrle hat über die Jahre viele solcher Erfahrungen gesammelt - als er noch selbst in Führungspositionen saß, und zuletzt bei seiner Arbeit als Karriere-Berater. Ausführlich erklärt der gelernte Journalist sein Irrenhaus-Frühwarnsystem in seinem Buch "Ich arbeite in einem Irrenhaus - vom ganz normalen Büroalltag".