Hätte zu Jahresbeginn jemand gewettet, dass Mitte März Millionen Beschäftigte binnen weniger Tage von zuhause aus arbeiten werden, hätte das nur völlig ungläubiges Kopfschütteln hervorgerufen. Im Zuge der Corona-Epidemie musste diese Zukunft der Arbeit viel früher als erwartet eintreten. Die Unternehmensberatung Mercer lud darum zum virtuellen "Human Work/s Talk ein", im Rahmen dessen sich Personal- und Firmenchefs mit den aktuellen Thesen des Zukunftsforschers Matthias Horx auseinandersetzten.
"Die Digitalisierung beschleunigt und relativiert sich gleichzeitig", formulierte Horx seine erste These im Einspielvideo. So zeigten die zurückliegenden Monate, dass die Sehnsucht nach dem Analogen wächst, je mehr wir digitale Technik, etwa Videokonferenzen, nutzen. Vor allem in zwei Bereichen sei die reale physische Begegnung auch künftig schwer zu ersetzen - bei sehr komplexen Problemen und wenn etwas Neues entstehen soll. Horx sprach vom "digitalen Realismus", also etwa einer realistischen Bewertung von Künstlicher Intelligenz (KI): "Das Virus ist nicht durch KI zurückgedrängt worden, sondern allein durch die Änderung des menschlichen Verhaltens, dass wir auf Distanz zueinander gegangen sind."
Soziales Miteinander geht nur im Büro
Zum zweiten sieht Horx darum die ausschließliche Arbeit im Homeoffice nicht als Lösung an: "Spätestens nach sechs Monaten haben die meisten die Nase voll, konzentriertes Arbeiten ist zuhause nicht möglich, wenn gleichzeitig die Kinder zu betreuen sind." Auch das soziale Miteinander, wie es im Büro möglich ist, bekomme man virtuell nicht hin. Darum plädierte Horx für eine "Individualisierung der Arbeit", die jedem seine Form der Arbeit ermöglichen sollte und die trotzdem eine Organisationsform des Unternehmens erlaube.
Ein ideales Ziel, das aber im Alltag an Grenzen stößt. Etwa für Karsten Kühn, CMO und Arbeitsdirektor der Baumarktkette Hornbach. In seinen Märkten werden die Mitarbeiter weiter für die Kunden vor Ort da sein müssen. Darum findet er es auch als unangemessen, wenn andere Mitarbeiter Home-Office-Bilder posten, die sie in einer reiner Freizeitumgebung zeigen.
Der Kunde bestimmt den Arbeitsort für Dienstleister
Auch Achim Lüder, CEO von Mercer Deutschland, kann die Arbeitsumgebungen seiner Berater nicht allein bestimmen. Wie bei Hornbach ist auch Lüders Korrektiv der Kunde. Und Unternehmenskunden bestanden vor Corona stets darauf, dass die hochbezahlten Berater bei ihnen vor Ort im Einsatz waren. Dieses Dogma sei zwar aufgehoben.
Dennoch ist Lüder überzeugt, dass "das Büro weiter ein zentraler Ort sein wird, an dem sich Menschen treffen und in Persona austauschen wollen." Unter seiner Mannschaft hat der Mercer-Chef schon eine gewisse Home-Office-Müdigkeit festgestellt, da ein virtueller Arbeitstag vor allem daraus bestehe, auf Bildschirme zu starren, selbst wenn man sich mit Kollegen austauschen will.
Work-Life-Balance funktioniert nicht
An das Thema Homeoffice knüpfte sich Horx weitere These an: "Die Work-Life-Balance hat in der Vergangenheit nicht funktioniert, da die drei Kernbereiche des menschlichen Lebens, Selbst, Arbeit und Liebe beziehungsweise soziales Sein nicht im eigentlichen Sinne zu balancieren sind. Je nach Lebensphase werden wir unterschiedlich intensiv arbeiten können. Wir brauchen eine wellenhafte Form der Arbeitsintensität." Vorbild und Vorreiter für Horx sind die skandinavischen Länder, in denen die Mehrheit nur noch durchschnittlich 30 Stunden die Woche arbeite.
Vaude: 43 Prozent der Führungskräfte sind Frauen
Für Antje von Dewitz, CEO des Outdoor-Ausstatters Vaude und selbst Mutter von vier Kindern, hat die Corona-Krise gezeigt, dass sich die wenigsten Eltern die Verantwortung für die Kinder teilten. Ihr Unternehmen bemüht sich schon seit 2001 für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Mit vielfältigen Initiativen, einem Kinderhaus, aber auch einer Flexibilisierung von Arbeitszeiten, habe man erreicht, dass 43 Prozent der Führungspositionen Frauen innehaben. 40 Prozent der Mitarbeiter haben ein Teilzeitmodell.
Das sei ein Ergebnis eines jahrelangen Veränderungsprozesses und Umdenkens, also weg von der tradierten Kultur des "alleinigen, männlichen Brotverdieners". Basis dieser Flexibilisierung sei das Menschenbild, das auf Vertrauen basiere. "Mittlerweile sind wir geübt darin, Arbeitspakete zuzuschneiden und zu verschieben. Zum Teil ändern sich unsere Teams in ihrer Zusammensetzung monatlich", erklärte die Unternehmerin.
Datev: Mehr Gestaltungsraum in Mitarbeitergesprächen
Julia Bangerth, Personalvorständin von Datev, hat gute Erfahrungen gemacht, die Mitarbeiter und Betriebspartner stärker und immer wieder einzubeziehen. In Nürnberg treffe man sich darum wöchentlich, um gemeinsam Bedingungen für das Zusammenarbeiten auszuloten. In Betriebsvereinbarungen will man nur den Rahmen vorgeben und einen größeren Spielraum für die Umsetzung und individuelle Lösungen zulassen.
Dazu Bangerth: "Im Personalbereich gab es die Tendenz auf Standardsysteme zu setzen. Aber one size fits funktioniert nicht." Darum gebe Datev in Sachen Mitarbeitergespräch nur noch vor, dass dieses Gespräch einmal im Jahr stattfinden sollte, Inhalte sind selbstgesteuert und können auch stark voneinander abweichen.